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FINANZEN/046: Stichwort - Inflationsängste und Deflationsgefahren (spw)


spw - Ausgabe 5/2009 - Heft 173
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Stichwort zur Wirtschaftspolitik:
Inflationsängste und Deflationsgefahren

Von Arne Heise


Die Weltwirtschaft ist im vergangenen Jahr in die erste wahrlich globale Krise seit den 1930er Jahren geraten. Weltweit sind die Wachstumsraten des Bruttoinlandsproduktes zusammengebrochen, in der EU und auch in Deutschland zeigt sich 2009 ein negatives Wachstum von bisher unbekanntem Ausmaß. Die Arbeitslosigkeit steigt, mit leichter zeitlicher Verzögerung, deutlich an - oder wird, wie in Deutschland, noch durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen (Kurzarbeit) abgefedert.

Um eine Depression wie in den 1930er Jahren zu verhindern, haben die Regierungen weltweit mehr (z.B. USA und China) oder weniger große Konjunkturprogramme und Unternehmens- und Bankenunterstützungsprogramme aufgelegt. Die Zentralbanken haben die Geldmarktzinsen drastisch, teilweise auf null, gesenkt.

Ob diese Maßnahmen tatsächlich erreicht haben, dass sich der konjunkturelle Abschwung in den letzten Wochen scheinbar so sehr verlangsamt hat, dass bereits vom "Ende der Krise" gesprochen werden kann, wird sich ebenso erst später zeigen wie der wirkliche Verlauf dieses "Konjunkturzyklus". Wer aber darauf gewettet hat, dass die neoliberalen Interventionskritiker, die sich auf dem Höhepunkt der Krise merklich mit öffentlichen Kommentaren zurückgehalten hatten - was hätten sie auch glaubwürdig sagen können, war doch ein derartiger Einbruch der Finanz- und Realmärkte in ihrer Vorstellungswelt von der segensreichen Eigensteuerung der Märkte gar nicht vorgesehen - jetzt langsam den Kopf wieder herausstrecken und lauthals vor den Folgen der Interventionen warnen, hat vollkommen richtig gelegen.

Mein Kollege an der Uni Hamburg und Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitutes (HWWI), Thomas Straubhaar, schürt unverholen die Inflationsängste vieler Menschen(1), die irgendwie aus der deutschen Wirtschaftsgeschichte gelernt zu haben glauben, dass Inflation die unvermeidliche Folge großer Wirtschaftskrisen ist und letztlich ihre wirtschaftliche Basis gefährden wird. Tatsächlich folgte auf die Große Depression der 1930er Jahre eine verheerende Deflation, die viel zur Tiefe der damaligen Wirtschaftskrise beigetragen hat. Die im kollektiven Gedächtnis der Deutschen verankerte Hyperinflation Anfang der 1920er Jahre war nicht Folge fehlerhafter wirtschaftspolitischer Interventionen, sondern das Ergebnis des 1. Weltkriegs.

Die Argumente der Inflationsbeschwörer - deren Ziel die psychologische Vorbereitung einer weiteren Runde neoliberaler Austeritätspolitik (restriktive Geld- und Finanzpolitik) in der "Nach-Krisen-Zeit" ist - scheinen plausibel: Konjunkturprogramme, Zinssenkungen und Geldmarktinterventionen haben die Wirtschaft mit extrem viel Liquidität (Zentralbankgeld und kurzfristige Depositen, die zusammen als Geldmenge M1 bezeichnet werden; vgl. Abb. 2) versorgt, die mittelfristig - wenn die Konjunktur sich erholt hat - zu Inflation führen muss. Dieser als Quantitätstheorie bekannte Zusammenhang zwischen Geldmenge und Preisniveau gehört zu den unverbrüchlichsten (und falschesten!) Dogmen der Ökonomik. Erste Anzeichen, so die weitere Argumentation, zeigten sich bereits auf den Vermögens- und Rohstoffmärkten.

Sollte allein der Zusammenhang von Liquiditätsausweitung und Inflation nicht überzeugend genug sein - immerhin könnte man auf die starke Einschränkung der Giralgeldschöpfung durch die Geschäftsbanken (als M3 bezeichnet und als das eigentlich relevante Geldmengenaggregat angesehen, vgl. Abb. 2) hinweisen und eine kompensierende Liquiditätspolitik der Notenbanken nach Überwindung der Krise unterstellen - so wird schnell auf die "aus dem Ruder laufenden" öffentlichen Schulden verwiesen. Diese würden durch die eigene Nachfragekraft die befürchtete Inflation auslösen. Und sollte hier jemand auf die Idee kommen, dies wüssten doch unabhängige Zentralbanken zu verhindern? Dann muss der politische Druck herhalten, der die Preisstabilitätsorientierung der Zentralbanken dahinschmelzen lassen wird - wenn nicht die Warnungen der Interventionskritiker den Rückhalt für eine restriktive Politik schaffen, der es den Zentralbanken ermöglichen könnte, sich des "Bail-out-Druckes" (Entschuldung durch Inflationierung) zu erwehren.

Tatsächlich besteht derzeit nur eine ernsthafte Gefahr - und zwar die Gefahr, dass die bereits eingetretene Disinflationierung, also der Rückgang der Inflationsraten weltweit, in eine echte Deflation, also ein Fallen der Preise auf breiter Front, umschlägt. Dabei muss es gar nicht so schlimm kommen wie in den 1930er Jahren, als eine völlig falsche Politik zumindest in Deutschland diese Deflationierung sogar noch vorangetrieben (und viele Schuldner bei steigender Reallast der Verschuldung in die Insolvenz getrieben) hat. Die stagnative Situation Japans fast während der gesamten 1990er Jahre erscheint als realistischeres Szenario: Geringe Wachstumsrate bei leichter Deflation, steigender Arbeitslosigkeit, zunehmender öffentlicher Verschuldung, anhaltender Bankenmisere und dauerhaftem Erwartungspessimismus.

Dass es bislang noch nicht zu einer solchen Entwicklung gekommen ist, liegt allein daran, dass sich die Nominallöhne als Preisstabilitätsanker und also die Lohnsysteme glücklicherweise als nicht so flexibel erwiesen haben, wie von den neoliberalen Marktfreunden immer gefordert. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit hat zwar die Lohnstückkosten (die langfristig bedeutungsvollste Komponente der Kern-Inflationsentwicklung) bereits unter Druck gesetzt, aber noch konnten die ArbeitnehmerInnen (und deren Gewerkschaften) nominelle Zuwächse (bei leider gleichzeitig bereits sinkenden Reallöhnen) herausholen. Sollte die Arbeitslosigkeit bald deutlich steigen, wird es wichtig werden, die Gewerkschaften bei ihrer Lohnpolitik gegen eine deflationäre Entwicklung zu unterstützen.


Dr. Arne Heise ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg.

(1) Staubhaar, T.: Das Wagnis Inflation; in HWWI Standpunkt vom 21.07.2009


Abbildung 2: Entwicklung verschiedener Geldmengenaggregate (Veränderung im %)
Aggregat
Zentralbankgeld
M1
M3
2007  
8,1
4,0
11,6
2008  
13,3
3,3
7,5
01/2009
13,7
5,1
5,9
02/2009
13,6
6,2
5,8
03/2009
13,8
5,9
5,0
04/2009
13,2
8,4
4,9
05/2009
13,1
7,9
3,7

Quelle: EZB


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 5/2009, Heft 173, Seite 47-48
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Oktober 2009