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FINANZEN/115: Das neue Gesicht des Kapitalismus - Finanzkrisen in Permanenz? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2011

Das neue Gesicht des Kapitalismus - Finanzkrisen in Permanenz?

Von Marcel Heires/Andreas Nölke


Wie die Ereignisse der letzten Wochen und Monate gezeigt haben, ist die Finanzkrise, die im Jahre 2007 begonnen und zum Beinahe-Zusammenbruch der globalen Finanzmärkte, einer weltweiten Rezession und zu milliardenschweren Rettungspaketen geführt hat, weit davon entfernt, beendet zu sein. Was wir gerade in Europa erleben, ist lediglich ihre Mutation von einer Banken- zu einer Staatsschuldenkrise. Die Dominanz der Finanzmärkte bleibt ungebrochen und die bisherigen Bemühungen, die Finanzmarktregulierung zu reformieren, werden daran vorerst auch nur wenig ändern. Was also muss geschehen?


Zunächst der Blick zurück: Wie hat sich das Gesicht des Kapitalismus während der letzten Jahrzehnte verändert? Es scheint inzwischen Konsens darüber zu bestehen, dass die heutige Zeit durch eine schädliche Dominanz der Finanzmärkte über die sogenannte Realwirtschaft gekennzeichnet ist. Die öffentliche Empörung über diese Entwicklung konzentriert sich dabei meist auf einige wenige, besonders sichtbare Akteure, wie etwa Josef Ackermann und die von ihm geführte Deutsche Bank, oder auf das unbekannte und diffus bleibende Heer der "Spekulanten". Solche Personalisierungen sind verständlich, dabei wird aber die strukturelle Dimension dieser Dominanz übersehen, die auch als "Finanzialisierung" bezeichnet werden kann. Unter diesem Begriff werden in der wissenschaftlichen Diskussion mehrere Verschiebungen zusammengefasst, die das Gesicht des Kapitalismus während der letzten Jahrzehnte verändert haben.


Krisenanfälligkeit des Finanzmarktkapitalismus

Finanzialisierung bedeutet erstens eine Verschiebung in der Weise wie Profite erwirtschaftet werden. Der Anteil von Profiten aus Finanzgeschäften an den Unternehmensprofiten hat sich beispielsweise in den USA während der vergangenen 30 Jahre mehr als verdoppelt, wie die Soziologin Greta Krippner gezeigt hat. Mit Finanzgeschäften ließen sich in den letzten Dekaden wesentlich höhere Profitmargen erwirtschaften als mit klassischen Aktivitäten wie Produktion, Handel und Dienstleistungen. Kein Wunder also, dass auch typische Industrieunternehmen wie General Electric oder auch Porsche in Deutschland zuletzt eher den Charakter von Finanzdienstleistern mit angeschlossenem Produktionszweig angenommen haben. Verbunden mit der gestiegenen Bedeutung von Finanzgeschäften und Finanzprofiten ist einerseits, dass der Finanzsektor insgesamt aufgebläht wurde und ein größeres Gewicht in der Gesamtwirtschaft einnimmt, und andererseits, dass seine in jüngerer Zeit erhöhte Profitmarke zum Maß wird, an dem sich der Rest der Wirtschaft messen lassen muss - man denke beispielsweise an die Losung von der 25%-Eigenkapitalrendite, die Ackermann auch nach der Krise wieder für sein Haus ausgegeben hat.

Daher bezeichnet Finanzialisierung zweitens den Prozess, in dem Finanzmärkte, -akteure und -interessen einen verstärkten Einfluss auf die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung genommen haben. Ausdruck dieser Entwicklung ist nicht nur das durch den relativen Bedeutungsverlust der klassischen Altersversorgung gewachsene Interesse vieler Bürger an den Kursentwicklungen auf den Finanzmärkten, sondern auch die gestiegene politische Bedeutung des Finanzsektors. In dem Maße, wie das ökonomische Gewicht des Finanzsektors gestiegen ist, wurden seine Interessen auch stärker von der Politik berücksichtigt. Während der letzten Jahrzehnte war die Finanzmarktregulierung vor allem darauf ausgerichtet, Finanzmärkte "effizienter" zu machen und das Wachstum des Finanzsektors zu befördern, indem seine Aktivitäten dereguliert wurden und internationale Barrieren für die freie Bewegung von Kapital abgebaut wurden. Existierende Regulierungen wurden verändert, um sie der Rationalität der Finanzmärkte anzupassen, wie zum Beispiel der Übergang zu "Fair Value"-Rechnungslegungsstandards. Dabei werden nun die Vermögenswerte von Unternehmen nicht mehr nach ihren historischen Anschaffungskosten bewertet, sondern nach ihrem aktuellen Marktpreis, was den Buchwert von Finanzprodukten im Kontext einer spekulativen Welle deutlich erhöht. Gleichzeitig wurden immer neue gesellschaftliche und wirtschaftliche Bereiche für die Durchdringung durch die Finanzmärkte geöffnet, wie zum Beispiel die Immobilienfinanzierung oder die Altersvorsorge. Finanzialisierung lebt schließlich davon, dass immer neue Blasen geschaffen werden.

Finanzialisierung bezeichnet daher drittens die aus dieser Entwicklung resultierende erhöhte Krisenanfälligkeit des Kapitalismus. Es hätte eigentlich niemanden überraschen dürfen, dass ein starkes Wachstum von Finanzmärkten und Finanzsektor auch gleichzeitig größere Risiken für schwere Finanzkrisen mit sich bringt. Die beiden Ökonomen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff haben eindrucksvoll gezeigt, dass es historisch gesehen einen klaren Zusammenhang zwischen der freien Bewegung von Kapital, dem Aufblähen des Finanzsektors und dem Auftreten von Finanzkrisen gibt. Was wir kürzlich erlebt haben, ist also prinzipiell nichts Neues. Beispiellos war allerdings das Ausmaß des Risikos, das sich diesmal im Finanzsektor konzentriert hat. Vor dem Hintergrund eines Finanzsystems, das zwar hochgradig integriert ist, aber nur von wenigen großen playern beherrscht wird, hat dies dazu geführt, dass jeder einzelne dieser player systemrelevant und "too big to fail" geworden ist. Die ökonomische und politische Bedeutung des Finanzsektors zeigt sich also auch darin, welche Anstrengungen zu seiner Rettung betrieben werden mussten und wie unantastbar er trotz aller "populistischen" Rhetorik in der aktuellen Debatte um die Reform der Finanzmarktregulierung weiterhin zu sein scheint. Fraglich ist allerdings, ob angesichts der zuletzt stark gestiegenen Verschuldung der öffentlichen Haushalte und der zusätzlich eingegangenen Garantien weiterhin noch genügend finanzielle Mittel für großangelegte Rettungsaktionen zur Verfügung stehen werden.

Angesichts dieser Bilanz stellt sich daher die Frage, welche Reformen notwendig wären, um die Dominanz der Finanzmärkte zu brechen und die Krisenanfälligkeit des globalen Finanzsystems zu reduzieren. Eine Reihe von durchaus richtigen und wichtigen Vorschlägen liegt auf dem Tisch.


Reformen sind unumgänglich

Eine Finanztransaktionssteuer könnte dazu beitragen, dass Finanzmärkte generell entschleunigt und weniger "effizient" werden, damit spekulative Aktivitäten an Attraktivität verlieren. Wenn Ernst gemacht werden soll mit der Forderung, dass der Finanzsektor sich wieder auf seine Rolle zur Unterstützung der Realökonomie zu besinnen habe, dann muss zudem die Funktion der Kreditversorgung konsequent von den spekulativen Aktivitäten der Banken getrennt werden. Einige dieser Geschäfte dienen durchaus vernünftigen Zwecken, etwa zur Risikoabsicherung, andere, bei denen das nicht so eindeutig ist, etwa Leerverkäufe von Kreditausfallversicherungen, sollten eingeschränkt werden. Das System braucht auch insgesamt mehr Puffer; Banken müssen wesentlich mehr Kapital zurücklegen, um sich gegen Krisen zu wappnen. Es müssen zudem die Voraussetzungen geschaffen werden, damit sie die Konsequenzen tragen können, wenn sie sich verspekulieren. Banken, die "too big to fail" sind, um Pleite zu gehen, darf es nicht geben. Gleiches gilt für das Schattenbanksystem, das von Hegefonds und anderen "alternativen Investoren" gebildet wird.

Ob diese Vorschläge in konkrete Regulierung umgesetzt werden, ist noch offen. Als fast sicher kann aber bereits gelten, dass sie durch die Lobbybemühungen des Finanzsektors noch erheblich abgeschwächt werden. Die Anpassung der, im internationalen Basel-III-Abkommen zur Bankenregulierung festgelegten, Höhe des Sicherungskapitals von Banken, wurde beispielsweise gegenüber den ursprünglichen Vorschlägen bereits deutlich abgeschwächt und tritt zudem auch nicht vor 2019 in Kraft; die Verwirklichung einer europäischen Finanztransaktionssteuer bleibt unsicher. Aus der Perspektive der Finanzialisierung wird allerdings auch deutlich, dass die Dominanz des Finanzsektors viel tiefer reicht als diese Einzelmaßnahmen andeuten. Es wäre wohl geradezu naiv, Regulierungen zu entwickeln, die das Ausmaß an Finanzialisierung reduzieren und die Wiederkehr von Wirtschaftskrisen in Permanenz verhindern sollen, ohne gleichzeitig das politische Gewicht des Finanzsektors zu reduzieren. Neben einer konsequenten Wettbewerbspolitik, die darauf abzielt, die Konzentration im Finanzsektor zu verringern, müsste es klare Restriktionen für das "Drehtürsystem" zwischen Finanzsektor und Regulierungsinstitutionen geben - aktuell wieder überdeutlich beim Wechsel des ehemaligen Bundesbankchefs Axel Weber zur Schweizer Investmentbank UBS - sowie, insbesondere in den USA, entsprechende Grenzen für Spenden zur Finanzierung von politischen Karrieren.

Nach der letzten Phase einer Dominanz des Finanzsektors, die in eine große Weltwirtschaftskrise und einen Weltkrieg mündete, wurden 1944 bei der Konferenz von Bretton Woods Maßnahmen ergriffen, die den Finanzsektor wieder der Realwirtschaft unterordneten und damit immerhin eine Periode von fast drei Dekaden wirtschaftlichen Wachstums ohne größere Finanzkrisen eingeleitet haben. Derzeit ist es hingegen eher unwahrscheinlich, dass wir ähnlich große Schritte sehen werden, um die Finanzialisierung zurückzudrehen. Zu stark ist die ökonomische und politische Abhängigkeit vom Gedeihen des Finanzsektors. Notwendig wäre heute zunächst ein Mentalitätswandel in Bezug auf die Rolle des Finanzsektors, gefolgt von Reformen, die auf einen echten Strukturwandel angelegt sind. Die bisherigen Bemühungen zur Reform der Finanzmarktregulierung erfüllen diesen Maßstab jedoch bei Weitem nicht. Dies wäre aber nicht nur Wünschenswert, sondern auch prinzipiell möglich. Das Gesicht des Kapitalismus wurde nicht alleine durch technologischen Fortschritt und Finanzinnovationen verändert. Finanzialisierung wurde durch konkrete politische Weichenstellungen eingeleitet und befördert - und könnte entsprechend auch wieder rückgängig gemacht werden, wenn nur der politische Mut dafür vorhanden wäre.


BASEL III-ABKOMMEN

"Basel III" ist ein Reformpaket des Basler Ausschusses der Bank Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) für die bereits bestehende Bankenregulierung (Basel II).
Mit einer Reihe von Maßnahmen (Stärkung der Eigenkapitalbasis, Verbesserung der Risikodeckung, Einführung einer Verschuldungsgrenze usw.) sollen die in der weltweiten Finanz- bzw. Wirtschaftskrise offensichtlich gewordenen Schwächen der bisherigen Bankenregulierung minimiert werden.


Marcel Heires (* 1980) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt. In seiner Dissertation beschäftigt er sich mit Finanzialisierungsprozessen und der Reform der internationalen Finanzmarktregulierung. heires@soz.uni-frankfurt.de

Andreas Nölke (* 1963) ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Politische Ökonomie an der Goethe Universität Frankfurt. Aktuell beschäftigt er sich vor allem mit Finanzialisierungsprozessen und den Wirtschaftsmodellen der BRICS-Staaten. a.noelke@soz.uni-frankfurt.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2011, S. 25-28
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Oktober 2011