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INTERNATIONAL/070: Aufschwung der vietnamesischen Wirtschaft gerät ins Stocken (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 51/52 vom 23. Dezember 2011
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Aufschwung mit "Doi Moi"
Nach 25 Jahren gerät der Aufschwung der vietnamesischen Wirtschaft ins Stocken

von Stefan Kühner


Vor einem Monat wurde in Vietnams Metropole Ho-Chi-Minh-Stadt der Thu-Thiem-Tunnel feierlich dem Verkehr übergeben. Der 1,5 Kilometer lange Straßentunnel unterquert den Saigon-Fluss und verbindet das alte Stadtzentrum Saigons mit den neuen Stadtteilen Thu Thiem westlich des Flusses. Der Tunnel besitzt sechs Fahrspuren und ist in der Lage 45.000 Autos und LKW sowie 15.000 Motorräder aufzunehmen. Er ist eines der wichtigsten Elemente einer 22 km langen Stadtautobahn, die den Osten der Megacity Ho-Chi-Minh-Stadt mit dem Westen verbindet.

Dies Infrastrukturprojekt ist nur eines von vielen. Überall im Vietnam wird gebaut - nicht nur Brücken, Straßen und Tunnels, sondern auch Hotels, Fabrikanlagen und Wohnviertel mit teilweise luxuriösen Häusern. Vietnam gehörte in den letzten 10 Jahren zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften mit Wachstumsraten von 6 bis 7 Prozent.


Mutiger Sprung aus der Isolation

Vor 25 Jahren sah es in Vietnam völlig anders aus. Die Kriegsfolgen waren noch allgegenwärtig. Das Land gehörte zu den ärmsten der Welt. Erhebliche Teile der Bevölkerung litten Hunger. Vietnam musste Reis importieren. Die Bevölkerung stand schon mitten in der Nacht Schlange, um sich die Reisrationen für ihre Familien abzuholen. An Fleisch und Fisch sowie Kleidung, Schuhe und andere Artikel des täglichen Lebens war für viele nicht zu denken. Um von Ho-Chi-Minh Stadt in die Provinzstadt Ben Tre im Mekong-Delta zu gelangen, mussten alle paar Kilometer Fähren benutzt werden. Die Fahrten waren lang und extrem beschwerlich. In dieser Situation trat im Dezember 1986 der 6. Parteitag der KP Vietnams zusammen. Er zog schonungslos Bilanz. "Eine ganze Reihe wichtiger Produktionskennziffern, die im vergangenen Fünfjahresplan gestellt wurden", seien nicht erfüllt worden. Als oberstes Ziel definierte der Parteitag die Aufgabe, die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Konsumgütern sicherzustellen und sich auf Exportgüter zu konzentrieren, um internationale Verbindlichkeiten (Kredite) zu befriedigen. Die Schlüsse, die die vietnamesische Führung aus der Analyse des Parteitags zog, waren konsequent. Innerhalb etwa eines Jahres wurden sämtliche Planvorgaben für landwirtschaftliche Genossenschaften abgeschafft. Die Bauern erhielten volle wirtschaftliche Souveränität. Dazu konnten sie Boden zur eigenen Bewirtschaftung erwerben. Der Boden wurde allerdings nicht privatisiert, sondern über Nutzungsverträge mit 15 Jahren Laufzeit bereitgestellt. Der Wandel wurde mit "Doi Moi" bezeichnet, zu Deutsch Erneuerung.

Die Erfolge, vor allem in der Versorgung der Bevölkerung, waren sehr schnell spürbar. Die bäuerliche Landwirtschaft und der Handel mit diesen Gütern blühten auf. Bereits 1989 konnte Vietnam 1,4 Millionen Tonnen Reis exportieren. Heute gehört Vietnam zu den fünf größten Reis exportierenden Ländern. Ähnliche Erfolgsquoten gibt es heute für Pfeffer, Cashewnüsse, Pangasius und Kaffee. Vietnam hat sich in den letzten 15 Jahren zur zweitgrößten Kaffeeexportnation nach Brasilien hochgearbeitet. Initiiert wurde der Kaffeeanbau übrigens durch die Entwicklungshilfe der DDR.


Sozialistische Marktwirtschaft

Die Beschlüsse des 6. Parteitages der KP Vietnams führten zu einer grundlegenden Transformation des Wirtschaftssystems von einer sozialistischen Planwirtschaft zu einer Marktwirtschaft. Vietnam nennt diese sozialistische Marktwirtschaft.

Die Volkswirtschaft Vietnams ist heute geprägt durch ein Nebeneinander von privaten Firmen im Besitz von einheimischen Unternehmern, international agierenden Unternehmen sowie Staatsunternehmen. Vor allem zentrale Wirtschaftsbereiche wie die Energiewirtschaft, das Pressewesen, die Telekommunikation, wichtige Teile des Schiffbaus, die Erdölausbeutung, der Bergbau und die Eisenbahn sind (noch) in Staatseigentum. Auch Grund und Boden sind bislang der privaten Spekulation entzogen. Für den Bau von Häusern, Büros und Fabrikationsanlagen können lediglich Nutzungsverträge (bis 99 Jahre) abgeschlossen werden.

Als 1990 die Handelspartner aus den sozialistischen Staaten innerhalb kürzester Zeit wegbrachen, ließ sich das Land vollends auf die Spielregeln der globalen Ökonomie ein.

Vietnam ist heute Mitglied von ASEAN (1995) und der WTO (2008) und somit vollständig eingebunden in die globalen Wirtschaftskreisläufe mit allen Vor- und Nachteilen, die dies mit sich bringt. Die politische und wirtschaftliche Isolation des Landes ist also überwunden. Vietnam ist Ziel von Investoren aus den asiatischen Ländern, der USA und auch der EU. Allerdings erfolgen Investitionen in Vietnam heute vor allem, wenn es um Billigproduktion geht. Vietnam wurde zur Fabrik für diese Märkte.


Nokia zieht nach Vietnam

Signifikantes Beispiel dafür sind die derzeit laufenden Verhandlungen Vietnams mit dem finnischen Nokia-Konzern. Der Konzern, der vor drei Jahren seine Produktion aus Bochum nach Rumänien verlegte, schließt dieses mit rumänischen Staatsmitteln und Geldern der EU gebaute Werk und zieht nach Vietnam weiter. Der Grund liegt auf der Hand. Die Lohn- und Fertigungskosten in Rumänien werden den Profiteuren aus Finnland zu teuer. Während in Rumänien im November 2011 die ersten 200 Arbeitnehmer des Nokia-Werks in Jucu freigestellt wurden, verhandelt der finnische Handyriese "knallhart" mit den Behörden der Sozialistischen Republik Vietnam "über erhebliche Subventionen und eine Vielzahl von Erleichterungen", meldete der Finanznachrichtensender Bloomberg am 1. November. Auch andere Firmen wie Intel, Samsung und First Solar fahren auf diesem Gleis. Ein Großteil "unserer" Kleidung und unserer Schuhe werden in Vietnam, China und Bangladesch gefertigt. Ein paar Schuhe kosten bei der Einfuhr in Deutschland etwa 8 Euro. Die Gewinnspannen dieser Konzerne sind riesig. Die Arbeitsbedingungen vor Ort in Vietnam miserabel. Gewerkschaftliche Organisation und Betriebsräte sind kaum vorhanden. Doch nicht nur bei Handys, Schuhen und Kleidung bauen deutsche, europäische und US-amerikanische Konzerne auf die Billigproduktion in Vietnam. Ein Beispiel, das kürzlich in der ARD präsentiert wurde, ist die Produktion von Pangasius, einem Fisch, der auf den Speiseplänen von Kantinen und in den Kühltruhen der Supermärkte immer häufig er zu finden ist. Die Produktionsbedingungen für den Fisch sind im Prinzip inakzeptabel. Der Besatz in den Fischteichen ist zu hoch, zu viele Antibiotika werden eingesetzt, Schlachtung und Verarbeitung der Fische widersprechen den Prinzipien einer artgerechten Haltung. Ein Film in der ARD, ausgestrahlt zu guter Sendezeit, stellt vor allem Vietnam an den Pranger. Die Nutznießer sind allerdings Konzerne wie Edeka, Bofrost, Iglo, Metro oder auch Migros (Schweiz).


Erfolg mit Widersprüchen

Für die Bevölkerung Vietnams hat diese Wirtschaft unbestritten Vorteile gebracht. Wer das Land beispielsweise Ende der 80er Jahre bereist und dann 2011, wird es kaum wiedererkennen. Vietnam ist vom Fahrrad aufs Moped umgestiegen. Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt ersticken im Verkehr von Millionen Mopeds. Dazwischen rollen die klimatisierten Luxuskarossen aus Japan, Korea und Deutschland, mit denen Neureiche ihren Wohlstand ausstellen. Die meisten Häuser, auch auf den Dörfern, sind aus Stein (früher ein Zeichen für Reichtum) und haben Zugang zu fließendem Wasser und sanitären Anlagen. Die Energieversorgung ist weitgehend stabil. Das Warenangebot ist riesig. Die Lust am Leben und auf Unterhaltung ebenso Auch die medizinische Versorgung hat sich enorm verbessert. Nur ein Beispiel. Die Kindersterblichkeit ist seit 1990 halbiert worden und Anfang Dezember 2011 wurde ein neues Programm zur pränatalen Untersuchung sowie zur medizinischen Betreuung von Säuglingen aufgelegt. Erfolge und Widersprüche liegen aber auch hier eng beisammen. Gemessen an unseren Verhältnissen ist die Zahl der Krankenhausbetten sehr gering und auch die Ausrüstung der Kliniken ist mangelhaft. Ausländische private Klinikkonzerne und Pharmahersteller greifen auch hier nach neuen Gewinnen. Der deutsche Krankenhaus-Konzern Helios-Kliniken bietet Vietnam sein Know-how an und das deutsche Medizinunternehmen Fresenius Kabi investiert kräftig in Vietnam. Im September 2011 eröffnete das Unternehmen ein neues Werk in Vietnam, das Infusionslösungen und Flüssigmedikamente haupt sächlich für den wachstumsstarken vietnamesischen Markt produziert. Die Investitionen beliefen sich auf rund 20 Mio. Euro. (Presseinfo Fresenius vom 2.11.2011)

Solche Investitionen helfen einerseits, die medizinische Versorgung zu verbessern und schaffen andererseits Abhängigkeiten. Die Privatisierung im Gesundheitswesen lässt, ähnlich wie auch bei uns, eine Zweiklassenmedizin heranreifen.

Die Zahl der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben ist zwischen 1993 und 2003 von 58 Prozent auf 20 Prozent gesunken und hat sich seitdem nochmals auf ca. 14 Prozent reduziert. Dies ist natürlich immer noch zu viel, aber die Bereiche der Armut liegen heute in abgegrenzten Regionen in einigen ländlichen Bereichen und vor allem den von Minderheiten bevölkerten Regionen im Hochland. Die vietnamesische Regierung und die KP Vietnam haben sich das Ziel gesetzt auch hier die Armut zu bekämpfen, auch unter Zuhilfenahme ausländischer Entwicklungsgelder. Auch beim Durchschnittseinkommen verzeichnet Vietnam enorme Erfolge. Es hat sich von 120 Dollar im Jahr 1986 auf etwa 2.000 Dollar im Jahr 2010 verbessert. Diese Zahlen dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Schere zwischen Arm und Reich auseinandergeklafft ist und sogar weiter aufgeht. Einerseits nimmt die Regierung dies in Kauf, solange der Anreiz auf Wohlstand, die Entwicklung der Ökonomie voranbringt. Andererseits unternimmt sie gerade in diesem Punkt besondere Anstrengungen. So hat der 11. Parteitag im Juni 2011 beschlossen:

• die Armutsquote um 2 Prozent pro Jahr zu senken

• das Prokopfeinkommen weiter zu steigern

• das Gesundheitssystem zu verbessern

• den Bildungsstand der Nation zu erhöhen, um die Aufgaben in einer internationalen Welt bewältigen zu können.


Der Griff nach den Staatsbetrieben

Nach langen Jahren des stetigen Wachstums kämpft derzeit aber auch Vietnam mit wirtschaftlichen Problemen. Das Wachstum ist abgeschwächt, die Handelsbilanz negativ. Die Staatsverschuldung nimmt zu. Eine starke Inflation von bis zu 20 Prozent verunsichert Wirtschaft und Bevölkerung. Die globale Wirtschaftskrise macht vor Vietnam nicht Halt.

Neoliberale Wirtschaftsexperten sowie die Repräsentationen von Weltbank und internationalem Währungsfonds (IWF) drängen Vietnam schnell und zielgerichtet vorzugehen, um die wirtschaftliche Stabilität wiederherzustellen. Bei einer Konferenz mit den sogenannten Geber-Institutionen forderten diese Mitte August: "Vietnam muss endlich seine Bankenreform voranbringen, die Bürokratie abbauen und Staatsunternehmen privatisieren." (Thanh Nien - eine der größten vietnamesischen Print- und Online-Zeitungen - vom 12.8.2011)

Die Produktivität der staatlichen Unternehmen ist nicht ausreichend und etliche haben in den vergangenen Jahren durch Spekulationen und Fehlinvestments herbe Verluste zu Lasten des vietnamesischen Staats und der vietnamesischen Steuerzahler eingefahren. Das signifikanteste Beispiel ist der Skandal um den Schiffsbaukonzern VINASHIN, der durch Staatsmittel aus einer Pleite gerettet werden musste. Die zu Recht kritisierte Misswirtschaft in einem Staatsunternehmen wird nun als Argument herangezogen, um diese generell zu privatisieren.

Nguyen Dinh Cung, stellvertretender Leiter des Central Institute for Economic Management (CIEM), einer sogenannten Denkfabrik (think tank), denkt: "Wenn Staatsunternehmen Fehler machen und Verluste, dann sollten sie genauso bankrott gehen, wie andere Firmen. Der Staat soll keinerlei Garantien und keinerlei Verbindlichkeiten ausgleiche." (Thanh Nien, 14.11.2011). Tomoyuki Kimura, Regionaldirektor der Asian Development Bank, sagte "der Schlüssel zur erfolgreichen Reformierung von Staatsbetrieben sei es, sie dem allgemeinen Marktdruck auszuliefern und ihnen die Disziplin von Privatunternehmen einzuimpfen". Und Benedict Bingham, IWF-Senior-Repräsentant, meint "es sei notwendig, dass die vietnamesische Regierung ihren Reformeifer wieder aufnimmt, um Investoren Hoffnungen zu machen. (Thanh Nien, 9.9.2011)

In einer Konferenz am 8. und 9.12.2011, an der die vietnamesische Regierung, alle für Wirtschaftsfragen zuständigen Ministerien sowie Vertreter der Staatsbetriebe teilnahmen, trat die Regierung Vietnams aber erst Mal auf die Bremse. Das Ministerium für Planung und Investitionen schlägt einen dreijährigen Stopp bei konkreten Aktionen vor. In diesem Zeitraum sollen die rechtlichen Rahmenbedingungen für den Weiterbetrieb der bestehenden Staatsbetriebe sowie konkrete Maßnahmen für deren Restrukturierung entwickelt werden. Vietnams Premierminister Dung will, dass die Regierung diese Zeit nutzt, um in jedem staatseigenen Wirtschaftsbereich die staatliche Überwachung und den Managementeinfluss zu erneuern und zu verbessern. Bei der Neufassung der rechtlichen Rahmenbedingungen seien "sowohl die Rechte und Pflichten der Unternehmensführungen als auch die Rechte der staatlichen Führungsgremien klar zu definieren". Die Restrukturierungs- und Entwicklungsplanungen in den einzelnen Staatsunternehmen müssen sich dabei auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren. "Bestehende Diversifizierungen in Banken, Versicherungen, Immobilien oder Sicherheits-Dienstleistungen sind abzubauen," ordnete er an. Die Unternehmen sollen so vorbereitet werden, dass sie bis 2020 in Shareholder-Unternehmen überführt werden können.

Nach den bestehenden Plänen will Vietnam die Staatsbeteiligung allerdings mehrheitlich behalten. Die Mutterkonzerne in den Bereichen Kohle, Öl und Gas, Elektrizität (Produktion, Netze, Handel), Chemie und Düngemittel sollen zu 75 Prozent in Staatseigentum bleiben.

Die Post, Telekommunikation, IT, das Bankenwesen sowie der Schiffsbau und die Gummierzeugung und Verarbeitung sollen zu mindestens 65 Prozent staatlich bleiben.

Weiteren Bereichen wie dem Handel mit Immobilien, Textil/Kleidung, Versicherung und Maschinenbau sollen 35 Prozent Staatsanteile gesichert werden.


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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 43. Jahrgang, 51/52 vom 23. Dezember 2011, Seite 17
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2012