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INTERNATIONAL/208: Lateinamerika - Wenn China niest, holen sich die Rohstofflieferanten der Region die Grippe (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 19. Mai 2014

Lateinamerika: Wenn China niest, holen sich die Rohstofflieferanten der Region die Grippe

von Michelle Tullo


Bild: © Marianela Jarroud/IPS

Eine Schmelze der chilenischen Kupfermine 'El Teniente'
Bild: © Marianela Jarroud/IPS

Washington, 19. Mai (IPS) - Chinas gigantische Bauwirtschaft bedient sich Metallen, die vorwiegend aus lateinamerikanischen Ländern kommen. Doch mit der Verlangsamung des chinesischen Wirtschaftswachstums sinken die Rohstoffpreise, was wiederum den Aufschwung der lateinamerikanischen Lieferländer abbremst.

"Angesichts der sinkenden Rohstoffpreise werden sich die lateinamerikanischen Entscheidungsträger noch wünschen, sie hätten einen Teil der Rohstoffeinnahmen zur Diversifizierung ihrer Wirtschaft verwendet", meint Kevin Gallagher, Professor an der Boston University und Autor des jüngsten China-Lateinamerika-Bulletin, das das Wirtschaftsforschungsprogramm GEGI der Boston-Universität herausgibt.

In den Jahren 2006 bis 2011 wies der Rohstoffpreisindex des Internationalen Währungsfonds eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von 9,8 Prozent auf. Das chinesische Wachstum lag während dieses Zeitraums bei 10,5 Prozent im Jahr. Doch 2012 fielen die Rohstoffpreise um 3,2 Prozent und die chinesische Wirtschaft verlangsamte sich auf 7,7 Prozent.

Der Niedergang der Rohstoffpreise hat die lateinamerikanischen Länder überproportional stark getroffen, da es sich bei 86,4 Prozent ihrer Chinaexporte um Rohstoffe handelt. Umgekehrt beliefert China die Region zu 63,4 Prozent mit weiterverarbeiteten Erzeugnissen.


Preisverfall und Rückgang der Exporte

"Mit den Preisen stiegen die Exporte und das Wachstum. Lateinamerika kann froh sein, dass China und der Rohstoffboom von den Folgen der globalen Finanzkrise 2008 bis 2009 weitgehend verschont blieben", meint Gallagher. "Jedoch wurden die Währungen aufgewertet, und die Investitionen konzentrierten sich auf die Rohstoffe. Auch konnten die Hersteller nicht mit den Importen aus China und aus anderen Ländern konkurrieren. Zudem führte das rohstoffbasierte Wachstum zu zahlreichen sozialen und ökologischen Konflikten."

Wie dem GEGI-Bericht zu entnehmen ist, legten die lateinamerikanischen Exporte nach China in den Jahren 2006 bis 2011 um durchschnittlich 23 Prozent pro Jahr zu. 2012 jedoch fielen sie auf 7,2 Prozent zurück. Diese Ausfuhren konzentrierten sich vor allem auf Kupfer, Eisen und Soja. Die Metallausfuhren aus der Region wurden vorwiegend von zwei Ländern bestritten: Brasilien lieferte 86 Prozent der Eisen- und Chile 92 Prozent der Kupferexporte.

Die Bandbreite der chinesischen Erzeugnisse in Richtung Lateinamerika war deutlich größer. Die Volksrepublik exportierte Elektroartikel, Fahrzeuge und andere Produkte, die längst nicht so anfällig für Preisschwankungen waren wie Rohstoffe. Tatsächlich hat sich die Handelsbilanz durch den Rückgang der Rohstoffpreise zugunsten von China verschoben.

"Chinas Beziehungen zu Lateinamerika zeichnen sich durch ein Win-Win-Bestreben und eine Stärkung der Süd-Süd-Kooperation aus. Jedoch profitierte das Reich der Mitte stärker als die lateinamerikanischen Staaten von der Zusammenarbeit", bestätigt Matt Ferhen, Leiter des China-Entwicklungsländerprogramms des 'Carnegie-Tsinghua Center for Global Policy' auf einem Treffen am 15. Mai bei der Denkfabrik 'Inter-American Dialogue' in Washington.

"Dass die Rohstoffpreise sinken, ist gut für China und andere Rohstoffabnehmer, jedoch weniger gut für die brasilianischen und chilenischen Exporteure. Dies könnte zu Beziehungsschwierigkeiten führen", warnt Ferhen.

Als Antwort auf das sich verlangsamende Wachstum hat die chinesische Öffentlichkeit die Regierung in Peking zur Durchführung von Finanzreformen aufgerufen. Chinas Präsident Xi Jinping kündigte eine Serie von Reformen an, die jedoch noch umgesetzt werden müssen.


Stärkung des chinesischen Binnenmarkts

"Die Parteiführung will mit Hilfe eines starken Binnenmarktes die hohen Exporte und staatlichen Investitionen drosseln. So soll vor allem die wachsende Mittelschicht das weitere Wirtschaftswachstum voranbringen", meint der Experte. Ein solcher Umstieg ginge allerdings zu Lasten der lateinamerikanischen Rohstoffexporteure.

"Die meisten Regierungen Lateinamerikas sind auf den Niedergang der Rohstoffpreise nicht angemessen vorbereitet. Chile hat zwar mit einem Teil der Einnahmen einen starken Kupferstabilisierungs- und einen souveränen Wohlstandsfonds bestückt, die die Verluste abfedern sollen. Doch die meisten anderen Länder wie Peru wollten aufgrund des von ihnen eingeschlagenen rohstoffabhängigen Wachstumspfades die Möglichkeit fallender Rohstoffpreise nicht wahrhaben", so Gallagher im IPS-Gespräch.

Untersuchungen der Weltbank zufolge wird Lateinamerika allerdings nie wieder so anfällig für externe Schocks auf den Rohstoffmärkten sein wie in den 1980er und 1990er Jahren. Denn die Region hat mit makrofinanziellen Schritten vorgesorgt. Dazu gehören die Verringerung der Auslandsschulden, der Aufbau von Devisenreserven und die Reduzierung der Abhängigkeit vom US-Dollar.

Der Grad der Immunisierung gegen externe Schocks variiert jedoch von Land zu Land. So liegt Brasiliens Investitionsrate bei 18 Prozent, die der gesamten Region bei fast 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Venezuela wird vorgeworfen, seine Erdöleinnahmen alles andere als klug investiert zu haben.

Wie aus einem Halbjahresbericht der Weltbank hervorgeht, haben sich die lateinamerikanischen Staaten mit ihren Finanzierungsquellen von den Portfolio- und Bankkreditströmen weg- und in Richtung ausländischer Direktinvestitionen und Auslandsüberweisungen ihrer Arbeitsmigranten zubewegt.

Ebenso positiv dürfte sich die Tatsache auswirken, dass Chinas Direktinvestitionen in die lateinamerikanischen Länder vor allem in den Ausbau von Infrastruktur und Energiesektor geflossen sind. Die chinesische Präsenz, vor allem in Form von Fusionen und Erwerbungen, ist nicht nur in den Schwellenländern Argentinien und Brasilien spürbar, sondern auch in den weniger wirtschaftsstarken Ländern wie Bolivien, Ecuador und Peru. Experten hoffen nun, dass vor allem der Energiemarkt den Niedergang der Rohstoffpreise auffangen wird, der sich den Prognosen zufolge 2014 weiter fortsetzen wird.

Der auf Zahlen der Weltbank, des IWF und der Einheit für Wirtschaftsinformationen des Wirtschaftsprognoseinstituts 'Global Forecasting Intelligence' beruhende GEGI-Bericht sieht einen 3,1-prozentigen Preisverfall in der lateinamerikanisch-chinesischen Exportbilanz voraus. Das wäre eine Verdopplung gegenüber 2013, was mit einem Anstieg des lateinamerikanisch-chinesischen Handelsdefizits im laufenden Jahr einhergehen würde.


Panama winkt größtes Wirtschaftswachstum

Die Auswirkungen auf das Wachstum der lateinamerikanischen Länder wären unterschiedlich. Sie hängen sowohl von externen Faktoren, Binnenmarktfaktoren und internationalen Wirtschaftsmaßnahmen ab. Die Weltbank prognostiziert Panama ein fortgesetztes Wachstum um etwa sieben Prozent, Peru 5,5 Prozent, Chile und Kolumbien jeweils 3,5 Prozent. Mexiko dürfte drei Prozent, Brasilien fast zwei Prozent und Kolumbien rund ein Prozent erreichen.

Die Kontraktion der Rohstoffmärkte wird auch außerhalb Lateinamerikas spürbar werden. "Sie gibt global - in Afrika, Südostasien und anderswo - gerade in Zusammenhang mit Arbeitsplätzen, dem Umweltschutz und ausländischen Direktinvestitionen Anlass zu Sorge", meint Ferhen. (Ende/IPS/kb/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/05/china-sneezes-latin-america-gets-flu/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2014