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INTERNATIONAL/222: In Chinas Auto-Industrie sind globale Standards erkennbar - und eigene Traditionen (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 144/Juni 2014
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Varianten der Annäherung
In Chinas Auto-Industrie sind globale Standards erkennbar - und eigene Traditionen

Von Martin Krzywdzinski und Ulrich Jürgens



Wie wirkt sich die global praktizierte Lean Production auf Personalmanegement-Konzepte in China aus? Ein Vergleich deutscher, japanischer und einheimischer Automobilunternehmen in China zeigt eine weitgehende Anpassung an die international gängige Praxis. Einzelne Elemente überkommener chinesischer Konzepte sind aber noch erkennbar wie die starke Verbreitung von befristeten und Leiharbeitsverträgen, das Zertifizierungssystem beruflicher Fähigkeiten, der Einsatz von Wettbewerben im Betrieb und eine eher zurückhaltende Rolle der Gewerkschaften.


Obwohl sich China offiziell immer noch als Entwicklungsland bezeichnet, ist es schon lange über diesen Status hinausgewachsen. Das Land ist der weltweit größte Produzent und Exporteur von Industriegütern. Der Aufstieg Chinas war lange Zeit vor allem mit den berüchtigten sweatshops in der Textil- und Elektronikindustrie verbunden, die allerdings zunehmend von den Industriezentren an der Ostküste in die chinesischen Binnenprovinzen und in Nachbarländer wie Vietnam verlagert werden. Die Gewichte in der chinesischen Ökonomie verlagern sich weg von der Produktion einfacher Massengüter, hin zu high tech- und mid tech-Branchen. Hier bewegen sich die Firmen inzwischen auf internationalem Niveau.

Lässt sich in China der Trend zur globalen Standardisierung der Produktionssysteme und eine Konvergenz der Personalsysteme feststellen? Oder halten sich auch spezifische Merkmale? Die Analyse der Automobilindustrie in China kann erste Aufschlüsse darüber geben, ob es eine Angleichung an internationale Verhältnisse gibt, welche Aspekte dabei besonders stark zur Wirkung gelangen, und ob es auch Bereiche gibt, in denen sich die Produktion in China nicht angleicht. Die Befunde beruhen auf einem mehrjährigen Forschungsprojekt über Personal- und Produktionssysteme in den BRIC-Ländern. Untersucht wurden ein deutscher, ein japanischer und ein einheimischer Automobilhersteller in China.

Gerade die Automobilindustrie ist durch eine starke Tendenz zur Standardisierung der Produktionssysteme nach dem Vorbild der Lean Production geprägt. Die Öffnung der chinesischen Automobilindustrie für Auslandsinvestoren in den 1980er Jahren fiel in die Zeit der Hochkonjunktur der Lean Production: einer Übersetzung japanischer Konzepte der Produktionsorganisation in den westlichen Kontext. Bereits in den frühen 1990er Jahren unternahmen die chinesischen Automobilkonzerne Studienreisen nach Japan, begannen Kooperationen mit japanischen Unternehmen und übernahmen Grundsätze der Lean Production.

Zentralen Stellenwert für die Lean Production haben standardisierte Arbeit, Teamarbeit mit Beteiligung der Beschäftigten an Verbesserungsprozessen (mit dem Ziel einer Null-Fehler-Qualität) sowie eine hohe Flexibilität, was Arbeitseinsatz und Arbeitszeit angeht; schließlich wird durch die Produktion exakt nach Kundenbestellungen der Aufwand, etwa für Lagerhaltung, stark verringert.

Es haben sich zwei grundlegend verschiedene Sichtweisen auf Lean Production herausgebildet. Deren mögliche Vorteile betonen die Vertreter der High Involvement-Ansätze: Die Mitarbeiter werden stark einbezogen; dies erfordert erhebliche Investitionen in Qualifizierung, interne Entwicklungsmöglichkeiten für die Mitarbeiter sowie eine Praxis umfassender Information und Konsultation der Beschäftigten.

Skeptiker argumentieren hingegen, dass die Wettbewerbsfähigkeit des Lean Management-Modells auf management by stress beruht und durch den Druck und die Disziplinierung aufgrund prekärer Beschäftigungsverhältnisse sowie der Vermeidung gewerkschaftlicher Organisierung erreicht wird - plakativ wird diese Praxis als lean and mean bezeichnet.

Die Werke deutscher und amerikanischer Automobilhersteller in China wurden von Anfang an nach den Prinzipien der Lean Production gestaltet. Angesichts dieser Vereinheitlichung der Produktionssysteme könnte man auch eine Angleichung der Personalsysteme in China an ausländische Vorbilder erwarten, wie die Konvergenzthese besagt.

Das Gegenmodell zur Konvergenzthese ist die Divergenzthese. Deren Befürworter weisen auf die Governance der Automobilunternehmen in China hin. Ausländische Automobilhersteller sind verpflichtet, Joint Ventures mit heimischen Unternehmen einzugehen; dies sichert dem Staat einen starken Einfluss. Die Präsenz einheimischer Partner und der staatliche Einfluss könnten der Übernahme ausländischer Modelle entgegenstehen. In der chinesischen Forschung wird kontrovers über die Rolle westlicher, sozialistischer und konfuzianischer Praktiken für die Gestaltung der Personalsysteme im Land diskutiert.

Auf den ersten Blick sprechen manche Befunde für die Konvergenz zu einem lean and mean-Modell. Alle Beschäftigten in den untersuchten Automobilwerken treten in die Unternehmen als Leiharbeiter oder mit befristeten Verträgen ein und verbleiben fünf bis zehn Jahre in diesem Status, je nach Unternehmen. Hintergrund ist die chinesische Gesetzgebung, die in den 1990er Jahren das kommunistische System lebenslanger Beschäftigungssicherheit zu brechen und einen offenen Arbeitsmarkt zu schaffen versuchte. Dazu wurde der Einsatz befristeter Verträge und der Leiharbeit gefördert. Allerdings werden die Spielräume für die Nutzung temporärer Beschäftigungsverhältnisse von der chinesischen Regierung mittlerweile begrenzt. 2007 wurden in einer Reform des Arbeitsrechts die Regeln für die Nutzung von Befristungen und den Einsatz der Leiharbeit deutlich verschärft, wenngleich die Umsetzung der Reform mit sehr langen Fristen verläuft. In Zukunft ist daher eine deutliche Zunahme unbefristeter Beschäftigungsverhältnisse in den Automobilwerken zu erwarten. Zudem wurde aufgrund des enormen Booms der Automobilindustrie in China auch zuvor nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Befristungen und Leiharbeitsverträge nicht verlängert. Die von uns interviewten Arbeiter gingen ausnahmslos von einem langfristigen Verbleib in den Unternehmen aus.

Für die Orientierung der Automobilunternehmen in China an "High Involvement"-Ansätzen spricht eine Reihe anderer Praktiken. Alle untersuchten Unternehmen investieren erheblich in die Qualifizierung der Beschäftigten, was ihr Interesse an langfristigen Beschäftigungsverhältnissen verstärkt. Gerade im Hinblick auf die Einarbeitung der Produktionsarbeiter gibt es deutliche Vereinheitlichungstendenzen. In allen Unternehmen galten dezentrale Trainingseinrichtungen zum Einüben der sogenannten fundamental skills (der grundlegenden Bewegungen und Techniken beim Greifen, Montieren, Schrauben und weiteren Tätigkeiten bei der Arbeit am Band) als Standard. Die Investitionen in die Qualifizierung gehen mit einer langfristigen Personalentwicklung einher. Hintergrund sind die Kompetenzanforderungen der Produktionssysteme, aber auch die Bemühung um Bindung der Arbeiter an die Unternehmen angesichts eines Mangels an gut ausgebildeten Arbeitskräften.

In der Personalentwicklung finden sich Ansätze, die eine spezifisch chinesische Prägung haben. So baut die Personalentwicklung an den von uns untersuchten Standorten des deutschen wie auch des chinesischen Herstellers auf dem chinesischen System der Zertifizierung beruflicher Fähigkeiten auf, das für Metallberufe fünf Qualifizierungsstufen unterscheidet. Durch Arbeitserfahrung und vom Unternehmen systematisch geförderte Weiterbildung können die Beschäftigten in den Qualifizierungsstufen aufsteigen, die den Weg auf komplexere Arbeitsplätze, Führungsaufgaben (Teamleiter, Meister) sowie in speziell gestaltete Expertenpositionen eröffnen, in denen sie für Ausbildung, Mentoring und Verbesserungsprozesse zuständig sind. Solche Expertenpositionen für Arbeiter haben wir im Rahmen unserer BRIC-Studie nur an den chinesischen Standorten gefunden. Einen sehr hohen Stellenwert haben dabei transparente Auswahlverfahren, nicht zuletzt vor dem Hintergrund traditionell starker persönlicher Netzwerkbildungen und Seilschaften (guanxi).

Die Förderung der Kompetenzentwicklung ist auch ein wichtiges Ziel, das hinter der Wettbewerbs- und Anerkennungskultur in den untersuchten chinesischen Werken steckt. In allen untersuchten Unternehmen wird jedes Jahr eine Vielzahl von Wissens-, Fachkompetenz-, Qualitäts- und Optimierungswettbewerben veranstaltet; hunderte vorbildliche Arbeiter und Teams werden ausgezeichnet. Diese Wettbewerbe beginnen oft in den Teams, die Gewinner nehmen anschließend an Wettbewerben in den Fertigungsabschnitten, in den Werken sowie an regionalen und landesweiten Wettbewerben teil. Dieses aus der sozialistischen Vergangenheit stammende System wird von den Unternehmen für die von ihren Produktionssystemen benötigten Fertigkeiten und Kompetenzen umgedeutet. Es erfüllt zudem den Zweck der sozialen Integration der Arbeiter, indem es Anerkennung vermittelt. Charakteristisch ist die zentrale Rolle der Gewerkschaft bei der Organisation der Wettbewerbe.

Damit ist eine letzte wesentliche Besonderheit der chinesischen Standorte angesprochen, nämlich die Form der industriellen Beziehungen. Eine Behinderung von Gewerkschaftsbildung im Sinne eines radikalen lean and mean hat in den Joint Ventures keinen Sinn, da diese automatisch eine Vertretung der Gewerkschaft des chinesischen Partners haben. Allerdings ist die Funktion dieser Gewerkschaften durchaus umstritten. Traditionell verhalten sich Gewerkschaften in China passiv und beschränken sich auf soziale Dienstleistungen für die Beschäftigten. In den von uns untersuchten Unternehmen haben wir allerdings unterschiedliche Entwicklungen festgestellt.

Im rein chinesischen und im Werk des japanisch-chinesischen Joint Venture entsprach das Verhalten der Gewerkschaft der traditionellen - eher zurückhaltenden - Rolle. Hier stellt sich durchaus die Frage, ob die Beschäftigten überhaupt eine Stimme im Unternehmen haben. Das Fehlen einer authentischen Interessenvertretung der Beschäftigten kann eine Tendenz der Überdehnung der Leistungsansprüche an die Arbeiter befördern, etwa durch überlange Arbeitszeiten oder durch eine hohe Intensität der Arbeit. Das wird zwar oft von den Arbeitern geduldet - teilweise aufgrund der konfuzianischen, hierarchieorientierten Erziehung -, führt aber entweder zu einer hohen Fluktuation der Beschäftigten (zu beobachten in den von uns untersuchten japanischen und chinesischen Werken) oder zu Arbeitskonflikten wie in einer Reihe japanischer Automobilzulieferer. An den Standorten des von uns untersuchten deutschen Unternehmens ist die Gewerkschaft hingegen in viele Prozesse eingebunden, von der Personalauswahl über die Beförderungsentscheidungen bis hin zu den Verbesserungsprozessen.

Diese Einbindung hat eine doppelte Bedeutung. Sicherlich ermöglicht sie der Gewerkschaft als einem Organ der Kommunistischen Partei die Möglichkeit einer Kontrolle, etwa über Karrieresteuerung. Zugleich zeigte unsere Fallstudie, dass sich die Gewerkschaft durchaus auch um Schritte hin zu einer Interessenvertretungsfunktion für die Beschäftigten und einer größeren Eigenständigkeit gegenüber dem Management bemüht. Allerdings handelt es sich um erste Schritte in diese Richtung.

Insgesamt führt die Umsetzung der Lean Production also durchaus zu Konvergenztendenzen der Personalsysteme in Richtung von High Involvement-Konzepten. Die Welt wird im Sinne Thomas Friedmans ein bisschen flacher. Durch Standardisierungsprozesse in multinationalen Unternehmen und durch ihre Nachahmung durch heimische Unternehmen gleichen sich Standorte der Automobilindustrie weltweit an.

Es gibt jedoch auch Faktoren, die zu einem Fortleben spezifisch chinesischer Elemente der Personalsysteme beitragen. Das sind etwa die Besonderheiten des chinesischen Systems der Berufsausbildung und beruflichen Zertifizierung, die etwa für die Gestaltung der Entwicklungswege in Unternehmen genutzt werden können. Und es sind vor allem die industriellen Beziehungen und die besondere Rolle der Gewerkschaft.


Ulrich Jürgens ist Gastwissenschaftler der Projektgruppe Globalisierung, Arbeit und Produktion, die er zuvor geleitet hat, und Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Arbeit und Personalmanagement (IFAP) der Volkswagen AutoUni. Am WZB hat er seit 1977 über industrielle Beziehungen, Innovationssysteme, Corporate Governance und Arbeitsmarktfragen geforscht.

ulrich.juergens@wzb.eu

Martin Krzywdzinski leitet seit 2012 die Projektgruppe Globalisierung, Arbeit und Produktion. Er forscht aus soziologischer Perspektive über Globalisierung, Arbeit und Arbeitspolitik, unter anderem in den BRIC-Staaten.

martin.krzywdzinski@wzb.eu


LITERATUR

Jürgens, Ulrich/Krzywdzinski, Martin: New Worlds of Work. Varieties of Work in the Car Factories in the BRIC Countries. Oxford: Oxford University Press 2015 (im Erscheinen).

Jürgens, Ulrich/Krzywdzinski, Martin: "Breaking Off from Local Bounds. Human Resource Management Practices of National Players in the BRIC Countries". In: International Journal of Automotive Technology and Management, 2013, Vol. 13, No. 2, pp. 114-133.

Jürgens, Ulrich/Krzywdzinski, Martin: Globale und lokale Strategien. Die Autobranche in den BRICLändern modernisiert sich. WZBrief Arbeit 17/September 2013. Berlin: WZB 2013.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 144, Juni 2014, Seite 26-28
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. August 2014