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INTERNATIONAL/272: Argentinien - Investor-Staat-Streitbeilegung findet zugunsten der Investoren statt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 13. August 2015

Argentinien: Intransparent und parteilich - Schiedsgerichte urteilen im Streit um Entschädigungszahlungen durch den argentinischen Staat zugunsten der Investoren

von Federico Lavopa *


Bild: © privat

Federico Lavopa
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BUENOS AIRES (IPS) - Widersprüchliche Entscheidungen, schlecht begründete Entschädigungssummen, fehlende Transparenz - das Instrument der Investor-Staat-Streitbeilegung (ISDS) hat nicht nur ein Problem, sondern gleich mehrere und musste in den vergangenen Jahren immer mehr Kritik einstecken. Am Beispiel Argentinien zeigt sich, dass das Instrument dringend überarbeitet werden muss.

Die Investor-Staat-Streitbeilegung ist ein Instrument des internationalen Rechts. Es erlaubt ausländischen Investoren, gegen Staaten ein Streitbeilegungsverfahren anzustoßen, wenn sie nach einer Investition in diesen Staat ihre nach internationalem öffentlichem Recht garantierten Rechte verletzt sehen. In der Regel werden, wird der Fall angenommen, Schiedsverfahren aufgenommen. Nach der schweren Wirtschaftskrise in Argentinien 2001 und 2002 wurden auch gegen dieses lateinamerikanische Land derlei Schiedsverfahren eingeleitet. Die teilweise sehr hohen Entschädigungssummen, die in mehreren Dutzend Fällen von Investoren eingefordert und ihnen tatsächlich zugebilligt wurden, werfen begründete Zweifel an der Unparteilichkeit der Schiedsrichter auf.

In den 1990er Jahren setzte der damalige argentinische Präsident Carlos Menem alles auf die marktliberale Karte. Er deregulierte die Wirtschaft und stieß Liberalisierungsprogramme an. Dazu gehörte die Privatisierung vieler Staatskonzerne im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge, die zu dem Zeitpunkt eine wichtige Einnahmequelle des argentinischen Staates bedeuteten. Menem koppelte außerdem den Argentinischen Peso an den US-Dollar. Darüber hinaus entwickelte die Regierung Anreizprogramme, um ausländische Investoren ins Land zu holen. In dem Zuge wurden 58 bilaterale Investitionsabkommen getroffen, von denen 55 rechtswirksam wurden.


Fünf Präsidenten in zehn Tagen

Zum Ende der 1990er Jahre hin zeigten sich die Grenzen dieses Wirtschaftsmodells. Die völlige Überbewertung des Peso führte Ende 2001 schließlich zu einer schweren Wirtschaftskrise, die eine Krise des politischen Establishments mit sich zog. Gelder wurden aus Argentinien abgezogen, Banken geschlossen und innerhalb von nur zehn Tagen erlebte das Land fünf Präsidenten.

Im Zuge der Krise fiel das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf um 50 Prozent, die Arbeitslosenrate stieg auf mindestens 20 Prozent und der Anteil der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze lebten, stieg auf 50 Prozent an. Das Land erlebte zum Jahreswechsel 2001/2002 und in den folgenden Monaten Streiks, Demonstrationen und gewaltsame Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten, bei denen Dutzende Menschen starben.

Im Jahr 2003 wurde in Argentinien neu gewählt, und im Mai übernahm Nestor Kirchner die Präsidentschaft. Sein Regierungskabinett stieß mehrere Wirtschaftsreformen an. Die wichtigsten bezogen sich auf die ehemals öffentlichen Dienstleistungen wie Strom- und Wasserversorgung, die unter Menem privatisiert worden waren. Kirchner führte ein Paket an Notfallgesetzen ein, die die Bedingungen für die entsprechenden Dienstleister sowie für ausländische Investoren generell grundlegend veränderten.

Daraufhin wurde das Land mit einer weiteren Flut an Forderungen von ausländischen Investoren überschwemmt, die sich auf die bilateralen Investitionsabkommen bezogen und sich auf das Instrument der Investor-Staat-Streitbeilegung beriefen. Insgesamt wurden von 2001 bis 2012 exakt 50 Fälle gegen Argentinien eröffnet. Die Zahl ist beträchtlich: Von 2003 bis 2007 machten diese Fälle ein Viertel aller ISDS- Forderungsansprüche aus. Sie stellten eine Bedrohung für das ökonomische System des Landes dar, das Kirchner eingeführt hatte, um die schlimmsten Auswirkungen der Krise für die Menschen im Land abzufedern.

Sollte allen Forderungen zu 100 Prozent stattgegeben werden, müsste Argentinien 80 Milliarden US-Dollar an Entschädigungszahlungen leisten. Selbst wenn das Land nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch nicht durch eine schwere wirtschaftliche Krise gegangen wäre, hätte es diese Summe unmöglich zahlen können, die sich auf 13 Prozent des argentinischen Bruttoinlandsproduktes des Jahres 2013 belief.


Entscheidungen zugunsten der Investoren

Ein großer Teil der Fälle ist noch nicht besiegelt. Auf die übrigen Fälle reagierte Argentinien jeweils sehr unterschiedlich. Eine abschließende Beurteilung ist daher noch nicht möglich. Allerdings lässt sich bereits jetzt erkennen, dass die Schiedsgerichte tendenziell zugunsten nicht des Landes und der Bevölkerung, sondern der Investoren entschieden.

In 45 Prozent der Fälle verurteilten die Gerichte Argentinien zur Zahlung. Das ist allerdings nicht endgültig: In den meisten dieser Fälle kann Argentinien noch in Revision gehen. In 15 Prozent der Anspruchsforderungen wurde zugunsten des lateinamerikanischen Landes geurteilt. Die übrigen 30 Prozent wurden entweder aufgehoben oder endeten mit einem Vergleich zwischen den beteiligten Parteien.

Bisher wurde Argentinien dementsprechend lediglich zu einem kleinen Teil der geforderten Entschädigungszahlungen verpflichtet: Von den insgesamt 80 Milliarden US-Dollar, die Investoren von dem lateinamerikanischen Land forderten, wurde Argentinien lediglich zur Begleichung von 900 Millionen Dollar verurteilt.

Was sich aus diesem Fall erkennen lässt, ist, dass das ISDS-System auf Ausnahmesituationen wie den wirtschaftlichen Zusammenbruch eines Landes nicht anwendbar ist. Für solche Fälle zeigt es eine sehr niedrige Anpassungsfähigkeit. Obwohl eine Reihe von argentinischen Rechtsvertretern erläuterte, dass die Nachkrisenmaßnahmen in einer Notsituation entwickelt wurden, die eine Verletzung der bilateralen Investitionsabkommen legitimierten, gingen die Schiedsgerichte auf dieses Argument nicht ein.

Stattdessen kamen sie in mehreren fast identischen Fällen zu vollkommen unterschiedlichen Urteilen, was die Willkür der Entscheidungen zeigt. Darüber hinaus wurden viele der Urteile später wieder annulliert. Offensichtlich sehen sich die Schiedsrichter mit hoch-technischen Fragen konfrontiert, gegen die sie nicht gewappnet sind.

Der argentinische Fall zeigt also, dass das ISDS-System extrem unflexibel ist, schlechte und parteiliche Urteile fällt und diese untereinander inkonsistent sind. Das ISDS-System in seiner jetzigen Form ist zum Scheitern verurteilt und muss dringend reformiert werden (Ende/IPS/jk/13.08.2015)


* Federico Lavopa ist Professor für Internationale Beziehungen an der Universität von San Andrés und der Universität von Buenos Aires in Argentinien


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/08/opinion-crisis-emergency-measures-and-failure-of-the-isds-system-the-case-of-argentina/

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IPS-Tagesdienst vom 13. August 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. August 2015

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