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REDE/440: Merkel - Sondervollversammlung des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, 22.06.10 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel auf der DIHK-Sondervollversammlung am 22. Juni 2010 in Berlin:


Sehr geehrter Herr Professor Driftmann,
meine Damen und Herren,

ich bedanke mich dafür, wieder einmal Gast bei Ihnen sein zu dürfen und in dieser spannenden Zeit bei der Sondervollversammlung des Deutschen Industrie- und Handelskammertages über die wirtschaftliche Lage und das, was zu tun ist, zu berichten und nachher mit Ihnen darüber sprechen zu können.

Wir können aus vollem Herzen sagen: Das Jahr 2010 lässt sich sehr viel besser an, als wir noch vor einem Jahr vermuten konnten. Gerade heute war beim ifo-Geschäftsklimaindex wieder eine leichte Aufwärtsbewegung zu verzeichnen. Die Prognosen des DIHK zum Wirtschaftswachstum sind geradezu sensationell. Da Sie gute Verbindungen zum Mittelstand haben, glaube ich, wissen Sie, was Sie sagen. Insofern nehme ich diese Prognose von 2,3 Prozent einfach als ein gewichtiges Zeichen, das uns Mut machen, das uns optimistisch stimmen kann.

Wir haben, was noch bemerkenswerter ist und was vor der Krise ja niemand vorhersehen konnte, eine sehr, sehr gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Ich glaube, es hat sich durch diese Krise hindurch in einer einzigartigen Weise das bewährt, was wir seit Jahrzehnten als Soziale Markwirtschaft in Deutschland leben, nämlich die Partnerschaft zwischen Politik und Unternehmen auf der einen Seite, auf der anderen Seite aber auch zwischen Unternehmern und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Von den Angeboten, die wir im Rahmen der Konjunkturpakete unterbreitet haben, haben Sie über die Maßen Gebrauch gemacht; das ist nicht selbstverständlich.

Ich denke, wir haben vor allem mit zwei bis drei Maßnahmen wirklich das Richtige getan. Wir haben mit der Kurzarbeit eine Brücke für unsere Fachkräfte gebaut, wir haben diese Kurzarbeit verlängert und sehen jetzt, dass sie auf eine ziemlich natürliche Weise zurückgeht und wir uns keine großen Sorgen machen müssen, dass unbeabsichtigte Mitnahmeeffekte hier eine große Störung mit sich bringen. Wir haben das Infrastrukturprogramm für die Kommunen aufgestellt, was gerade kleinen und mittleren Betrieben eine Möglichkeit für Zukunftsinvestitionen gegeben hat. Und wir haben, was im Handwerk besonders geschätzt wird, mit der Absetzbarkeit von Handwerkerrechnungen sicherlich einen Beitrag dazu geleistet, private Investitionen zu fördern.

Wir haben schon heute in etwa eine Arbeitslosigkeit wie im Juli 2008, also wie in der Zeit vor der Krise. Wenn wir auch den Voraussagen der Bundesagentur Glauben schenken dürfen, haben wir in diesem Jahr noch eine recht gute Entwicklung vor uns. Was mich besonders freut, ist, dass die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland zurückgegangen ist, während sie in fast allen europäischen Ländern zum Teil massiv angestiegen ist. Wenn man sich einmal überlegt, dass in einem Land wie Spanien rund 40 Prozent der jungen Menschen unter 25 Jahren arbeitslos sind, so ist das schon eine schwierige Aufgabe, vor denen einige europäische Länder stehen. Wir können uns glücklich schätzen, dass das bei uns nicht so ist.

Und dennoch - da Sie auch sagen, dass vielleicht 50.000 Ausbildungsstellen nicht besetzt werden können - müssen wir uns um die knappe halbe Million von jungen Menschen kümmern, die als nicht ausbildungsreif oder -fähig gelten und die sozusagen in der Gruppe der jungen Leute unter 25 existieren und für die wir nicht nur eine Perspektive finden müssen, wenn wir an die Haushaltsaufgaben denken, sondern weil natürlich jeder junge Mensch, der selbst seinen Weg in die Berufstätigkeit findet, auf Jahrzehnte hinaus viel bessere Perspektiven hat, als wenn es schon an der Ausbildung mangelt.

Wir haben in der Kombination von guten Exportaussichten, einer vertretbaren Arbeitslosigkeit und niedrigen Zinsen, gemessen am Vorjahr, insgesamt ein sehr gutes Klima. Richtig ist aber auch: Wir kommen von einem niedrigen Niveau. Die fünf Prozent Einbruch, die wir im letzten Jahr beim Bruttoinlandsprodukt hatten, lassen sich nicht so leicht wegstecken. Insbesondere in den öffentlichen Haushalten - ob auf kommunaler Ebene, Länderebene oder Bundesebene - spüren wir das sehr stark. Deshalb heißt es, sich den Herausforderungen, die vor uns liegen, zu stellen.

Das sind im Grunde drei:

• Konsolidierung der Haushalte,
• die globale Wettbewerbsfähigkeit stärken und
• Antworten auf den demografischen Wandel finden.


Gerade der demografische Wandel wird unser Leben in den nächsten Jahren sehr entscheidend bestimmen. Über die nächsten Jahre hinweg werden jedes Jahr rund 200.000 mehr Menschen aus dem Arbeitsleben ausscheiden, als in das Arbeitsleben eintreten. Deshalb wird natürlich auch die Frage des lebenslangen Lernens, der Weiterbildung, auch der längeren Lebensarbeitszeit im Sinne der faktischen Lebensarbeitszeit - ich spreche jetzt gar nicht über die Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters; das geht ja sehr langsam - eine große Rolle spielen.

Die Bundesregierung hat sich der Herausforderung Nummer eins, der Konsolidierung der Haushalte, verbunden mit strukturellen Reformen gewidmet. Wir haben es geschafft, für den gesamten Bereich der mittelfristigen Finanzplanung - das heißt, für die Jahre 2011 bis 2014 - unsere strukturelle Verschuldung - was jedenfalls die Planungen anbelangt - entsprechend der Schuldenbremse zurückzuführen. Deutschland ist das einzige Land, das in der Krise einen festen Maßstab in seine Verfassung eingebaut hat, um das Defizit auch wirklich schrittweise abzubauen. Das ist auch unsere Antwort auf die demografische Herausforderung.

Gerade gestern habe ich auch in einem Telefonat mit dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama noch einmal darauf hingewiesen, dass das für uns absolut wichtig ist und dass wir nicht glauben, mit einer Rückführung der strukturellen Neuverschuldung von zehn Milliarden Euro im Jahr sozusagen das Wirtschaftswachstum der Welt bremsen zu können.

Deutschland hat ein Bruttoinlandsprodukt von über 2.400 Milliarden Euro. Wenn wir klug sparen und zehn Milliarden Euro pro Jahr einsparen - ich komme nachher auf die Bereiche zu sprechen, in denen wir das tun - und damit noch Wachstum befördern und die Vermittlung in den Arbeitsmarkt verbessern, dann wird das nicht zu einer Wachstumsbremse werden, sondern im Gegenteil: Es wird in der Bevölkerung Sicherheit schaffen, dass wir auf einem soliden Finanzweg sind. So, wie die Psychologie in unserer Bevölkerung angelegt ist, sind die Menschen eher bereit, Geld auszugeben, wenn sie den Eindruck haben, wir treffen Vorsorge für die Zukunft, als wenn der Eindruck entsteht, wir leben über unsere Verhältnisse und passen nicht auf, dass wir zu nachhaltigen Finanzen kommen.

Was die Haushaltskonsolidierung anbelangt, so sind wir ja manchmal kritisiert worden, dass wir das so spät angegangen sind. Ich muss aber darauf hinweisen, dass das Jahr 2010 international noch als Krisenbewältigungsjahr gilt. Wir sind ja noch längst nicht wieder auf dem Niveau von 2008. Deutschland trägt in diesem Jahr mit 2,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts als Konjunkturprogramm noch einmal ganz wesentlich dazu bei, den Konsum zu stimulieren und damit auch einen Impuls für die Weltwirtschaft zu geben. Das tun wir. Aber klar war immer, dass dann, wenn mehrere Quartale hintereinander das Wirtschaftswachstum wieder positiv ist, die Ausstiegsstrategie, die Exit-Strategie langsam eingesetzt werden muss; und das gilt für das Jahr 2011. Die Haushalte - auch den von 2011 - beschließt man immer im Sommer des Vorjahres; das ist seit Jahrzehnten so. Genau das haben wir getan, inklusive der mittelfristigen Finanzplanung.

Dann haben wir gesagt, wo wir nicht sparen werden, sondern im Gegenteil noch mehr investieren. Wir sparen nicht beim Ausbau der Kinderbetreuung, weil das etwas mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu tun hat. Wir sparen kaum etwas im investiven Bereich der Verkehrsinfrastruktur und wir lassen zusätzliche Mittel in die Bereiche Bildung und Forschung fließen, sodass wir das Drei-Prozent-Ziel - drei Prozent vom Bruttoinlandsprodukt sollen für Forschung und Bildung ausgegeben werden - mit einer hohen Wahrscheinlichkeit erreichen können.

Da wir das vom Sparen ausgenommen haben, inklusive übrigens der Bundeszuschüsse zur Rentenversicherung, weil wir auch für die älteren Menschen ein Stück Verlässlichkeit wollen, sind wir in Haushaltsbereichen angelangt, wo man natürlich schauen muss: Was können wir noch tun? Wenn man sich die Struktur des Bundeshaushalts anschaut - dieses Jahr ist er als Krisenhaushalt natürlich ein sehr schwieriger Haushalt; 320 Milliarden Euro umfasst dieser Haushalt, davon 80 Milliarden Neuverschuldung; wenn es zehn oder 20 Milliarden weniger werden sollten, wie man es in der Zeitung liest, sind es immer noch mindestens 60, als immer noch viel zu viel -, stellt man fest: 55 Prozent dieses Haushalts sind Ausgaben im Sozialbereich. Nun ist das in diesem Jahr gerechtfertigt, weil wir zum Beispiel einen Zuschuss von zehn bis elf Milliarden Euro an die Bundesagentur für Arbeit geben, weil wir vier Milliarden allein ins Gesundheitssystem als Zuschuss geben, weil wir im letzten Jahr sinkende Löhne hatten. Dies wird in Zukunft natürlich nicht mehr in diesem Maße notwendig sein. Deshalb können wir das auch als konjunkturelle Einsparung nehmen. Das sind aber noch keine strukturellen Einsparungen.

Die strukturellen Einsparungen werden in etwa in gleichen Teilen in der Verwaltung des Bundes erbracht - etwas weniger als in den anderen beiden Bereichen -, in Beiträgen, die die Wirtschaft zu leisten hat, und in Beiträgen des sozialen Bereichs. Wo werden da die Kosten eingespart? Die Kosten werden eingespart, und zwar Schritt für Schritt, in dem Bereich, der für den Bundeshaushalt neben dem Rentenzuschuss von 80 Milliarden Euro der größte Brocken ist, nämlich bei den 40 Milliarden Euro für die Zahlung von Arbeitslosengeld II - 40 Milliarden Euro der Bund und noch einmal zehn Milliarden Euro die Kommunen. In diesem Bereich haben wir, seit es Hartz IV gibt, im Grunde keine strukturelle Verbesserung, obwohl wir in den letzten Jahren sehr viel für aktive Arbeitsmarktpolitik getan haben.

Wir haben über fünf Millionen Hartz-IV-Empfänger. Unter diesen haben wir zwei Gruppen, die unserer besonderen Betrachtung bedürfen: Das ist die Gruppe der über 50-Jährigen - das sind 1,2 Millionen - und die Gruppe der Alleinerziehenden - das sind knapp 700.000. Das heißt, Sie haben in zwei Gruppen - bei den über 50-Jährigen und den Alleinerziehenden - schon 1,9 Millionen Langzeitarbeitslose. Jetzt hat Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen gesagt: Ich muss mich um diese beiden Gruppen verstärkt kümmern.

Bei der ersten Gruppe, den Alleinerziehenden, ist es im Grunde eine Frage der Kinderbetreuung. Auch deshalb ist der Ausbau der Kinderbetreuung für die unter Dreijährigen so wichtig. Deshalb wird die Bundesagentur auch Tagesmütter bereitstellen, damit die betreffenden Frauen, wenn sie es wollen - und viele wollen es -, dem Arbeitsmarkt wieder zur Verfügung stehen.

Bezüglich der zweiten Gruppe, der Gruppe der älteren Arbeitnehmer, müssen wir gemeinsam etwas tun. Die Zeit, in der die Menschen erwerbsfähig sind, ist in den letzten Jahren gestiegen. Aber die, die jenseits der 50 ihre Arbeit verlieren, haben unglaublich große Schwierigkeiten, wieder in Arbeit zu kommen. Ich glaube, hier brauchen wir auch ein gemeinschaftliches Umdenken, weil angesichts der Lebenserwartung, die wir heute haben, die Fünfzigjährigen nicht zum "alten Eisen" gezählt werden dürfen.

Um diese beiden Gruppen werden wir uns verstärkt in der Arbeitsvermittlung bemühen. Wir hoffen, dass wir mit spezifischerem Mitteleinsatz bei diesem Block von 40 Milliarden Euro, den wir für die Arbeitslosengeld-II-Empfänger zahlen, in den Jahren 2013 und 2014 einen Erfolg sehen und ein, zwei oder drei Milliarden Euro einsparen können.

Der zweite große Punkt, an dem wir etwas tun werden, ist der gesamte Bereich der Bundesverwaltung. Darauf will ich nicht weiter eingehen; man muss jedoch sehen, dass das im Wesentlichen, verbunden mit dem, was Herr Driftmann im Nebenjob macht, etwas mit der Struktur der Bundeswehr zu tun hat und damit, dass auch die Beamten des Bundes einen erheblichen Beitrag leisten. Das heißt, wir veranlassen im Beamtenbereich im Grunde eine Einbuße in Höhe von 2,5 Prozent. Das ist kein ganz einfacher Schritt, denn es gibt ja auch sehr viele mit sehr geringen Gehältern.

Wir müssen natürlich auch über den Arbeitsmarkt hinaus Strukturen verändern. Ein weiterer Bereich, in dem wir ein in sich geschlossenes Konzept auf den Tisch legen werden, was auch in vielen Diskussionen seine Schatten voraus wirft, ist ein Energiekonzept. Wir sind ein Industrieland und wollen es bleiben. Wenn wir in Forschung und Bildung investieren, haben wir auch immer im Hinterkopf, dass wir unsere industriellen Stärken weiterentwickeln wollen. Dazu brauchen wir ein forschungsfreundliches, ein bildungsfreundliches Klima, aber wir brauchen eben auch eine vernünftige Energieversorgung.

Dieses Thema ist natürlich sehr streitbeladen. Deshalb hat die Koalition zwei Dinge gesagt.

Erstens: Wir wollen schnellstmöglich das Zeitalter der regenerativen Energien erreichen - allgemeiner Konsens. Aber dies muss unter der Maßgabe gelingen, die in der Energiepolitik immer zu gelten hat, nämlich auf der einen Seite Versorgungssicherheit, auf der zweiten Seite Wirtschaftlichkeit und auf der dritten Seite Umweltverträglichkeit. Alle drei Punkte müssen zueinander passen.

Deshalb werden wir bis Ende August ein Energiekonzept als Ganzes berechnet haben und daraus dann ableiten, ob wir - ich denke, das wird positiv beschieden; das ist absehbar - eine Verlängerung der Laufzeiten der sich in Deutschland befindlichen Kernkraftwerke brauchen. Wir glauben, dass man diese Frage allein eben nicht einfach per Gesetz entscheiden sollte, wie Rot-Grün das gemacht hat, sondern dass man darüber auf der Basis von Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Umweltfreundlichkeit mit gleichzeitigem Aufwuchs der regenerativen Energien entscheiden muss. Dazu wird in den ersten Sitzungswochen der Nachsommerzeit der entsprechende Gesetzentwurf eingebracht werden. Wir werden dann zum ersten Mal seit langem über ein rational abgeleitetes Energiekonzept verfügen, mit dem wir verlässliche Rahmenbedingungen für den gesamten Energiebereich haben werden.

Dabei ist auch an ein Problem zu denken, das uns sehr zu schaffen macht: Das ist der Bau von Hochspannungsleitungen, weil wir natürlich Veränderungen bei den Standorten der Energieerzeugung haben. Die Windenergie wird vor allem an der Nord- und Ostsee erzeugt. Bayern hängt mit über 70 Prozent von der Kernenergie ab. Wir müssen es irgendwie schaffen, die Elektronen von Nord nach Süd zu transportieren. Und das geht nur mithilfe von Leitungsnetzen. Deshalb brauchen wir auch hier - das ist eines unserer großen Probleme - vernünftige Investitionsbedingungen und Rahmenbedingungen, bei denen sich das Investieren in die Infrastruktur, in die Netzstruktur lohnt. Da wir die Regulierungsbehörde haben, deren Arbeit wir sehr begrüßen, die aber unabhängig ist, muss sozusagen auch in der gesamtgesellschaftlichen Diskussion deutlich werden: Es geht nicht nur heute um verträgliche Abnehmerpreise für den Strom, sondern es geht auch darum, dass die Regulierung so erfolgt, dass Investitionen möglich sind.

Wir haben in zwei großen Bereichen - im Netzbereich bei der Elektrizitätsversorgung und im Netzbereich bei der Breitbandversorgung - einen großen Trend dahin, den heutigen Konsum billig zu machen und wenig in die Zukunft zu investieren, was auf den ersten Blick sehr verbraucherfreundlich klingt, uns aber langfristig und zum Beispiel auch bei der Breitbandversorgung ländlicher Räume immer wieder hemmt, obwohl es hierbei natürlich um eine der Grundvoraussetzungen dafür geht, dass wir in Deutschland verlässliche und vernünftige Rahmenbedingungen für Investitionen haben.

Wir müssen zweitens - da werden wir noch vor der Sommerpause über Grundzüge entscheiden - unser Gesundheitssystem weiterentwickeln. Das ist in allen Industrieländern sicherlich die schwierigste Aufgabe.

Der Gesundheitsminister steht derzeit vor der Situation, dass für das nächste Jahr das von den Kassen angemeldete Defizit elf Milliarden Euro beträgt. Wir haben in den letzten Jahren eine verringerte Einnahme gehabt, wir haben allerdings auch Steuerzuschüsse bekommen. Wir haben etwas für die Bezahlung der Ärzte getan. Die Honorare der Ärzte in den neuen Bundesländern lagen weit unter denen der alten Bundesländer. Wer sich in den neuen Bundesländern auskennt und die medizinische Versorgung in den Blick nimmt, weiß, wie schwierig es ist, heute überhaupt noch Ärzte in bestimmte Regionen Deutschlands zu bringen. Das hat natürlich auch etwas mit der Frage zu tun: Wie sicher und wie gut fühlen sich die Menschen in Deutschland? Wenn unsere Ärzte zum Schluss alle irgendwo in der Schweiz, in Norwegen und dem Medizinischen Dienst sind, haben wir nicht viel gewonnen. Das hat die Kosten natürlich noch einmal sehr angehoben.

Wir haben große Kostensteigerungen im Krankenhausbereich. Hier stellen sich auch große gesellschaftliche Fragen: Wie viele Krankenhäuser brauchen wir? Wie nah liegt mein Krankenhaus? Was können die Krankenhäuser; wie viel Spezialisierung brauche ich? Wir haben auch immer wieder dramatische Kostensteigerungen im pharmazeutischen Bereich.

Die Nachricht, die man immer wieder nach draußen tragen muss, ist: Wir werden wohl über die nächsten Jahre jedes Jahr aufgrund der demografischen Entwicklung und der besseren medizinischen Möglichkeiten Kostensteigerungen im Gesundheitssystem etwa in Höhe von drei Prozent haben. Die Spezialisten sagen mir: Da muss man schon permanent kostendämpfende Maßnahmen ergreifen. Wenn man das System einfach laufen lässt, sind es eher fünf Prozent als drei Prozent Steigerung. Da die Einnahmenbasis - das können Sie sich anhand unserer Wachstumsrate ausrechnen - eher zwischen ein bis zwei Prozent steigt, hat man eine jährlich wachsende Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben, wenn man eine möglichst gute medizinische Versorgung sichern will. Das wird mit der demografischen Entwicklung unter keinen Umständen besser.

Wir haben Vergleiche, die besagen, dass in Deutschland gemessen am Bruttoinlandsprodukt etwa nur sechs Prozent für Gesundheit ausgegeben werden - gesetzliche Leistungen plus private -, während es eine Reihe entwickelter Industrieländer gibt, in denen das sieben, acht und neun Prozent sind. Wir werden die Bevölkerung darauf vorbereiten müssen - ich glaube, das müssen wir gemeinsam tun -, dass, so wie der Anteil der Ausgaben für Lebensmittel zum Beispiel in den vergangenen 20, 30 Jahren permanent gesunken ist, der Anteil der Gesundheitskosten - egal, wie er erbracht wird - steigen wird.

Wenn man sich diese Steigerungsraten anschaut, sieht man auch, dass wir ein Stück weit die Kopplung der Steigerungsraten im Gesundheitswesen von den Arbeitskosten lösen müssen, weil sonst, wenn wir das nicht tun, unsere Arbeitskosten in einem Maße ansteigen würden, das wir letztlich nicht verkraften können. Ich weiß, was das bedeutet, weil die paritätische Solidarität natürlich etwas ist, was auch unser Sozialsystem geprägt hat. Das wollen wir auch nicht völlig kappen. Aber wir wollen für eine absehbare Zeit erst einmal die Arbeitgeberbeiträge einfrieren, weil wir ansonsten in einen Zusammenhang kommen, der uns in der Wettbewerbsfähigkeit, die ich auch als eine der großen Herausforderungen genannt habe, nur stört oder bedrückt und insbesondere im Dienstleistungsbereich, der im Zweifelsfall in Deutschland nicht ausreichend genug entwickelt ist, immer ein großes Hemmnis dafür ist, zu mehr legaler Arbeit im Dienstleistungsbereich zu kommen.

Wenn wir diese Entkopplung vorgenommen haben, wollen wir die schon von der Großen Koalition entwickelten Zusatzbeiträge weiterentwickeln. Da kommt man aber sehr schnell an den Punkt, dass man einen sozialen Ausgleich braucht. Da ich Gesundheitspolitik für eine große gesamtgesellschaftliche Aufgabe halte, müssen wir Wege finden, wie wir diesen Ausgleich - bei allen Sparmaßnahmen, bei allen zusätzlichen Belastungen auch des Versicherten - auf lange Frist aus dem Steuersystem bekommen, weil das der gerechteste Weg ist, denn da habe ich keine Beitragsbemessungsgrenze, da habe ich alle dabei, die in der Gesellschaft Steuern zahlen. Das ist die riesige Herausforderung, vor der wir uns nicht drücken können, die in Ruhe und mit Bedacht, aber mit aller Entschlossenheit bewältigt werden muss. Die elf Milliarden Euro Defizit, die jetzt vor uns liegen, zwingen uns natürlich auch, sehr schnell zu handeln und erste Maßnahmen zu ergreifen. Das ist das, was wir bis zur parlamentarischen Sommerpause noch zu leisten haben.

Wir haben des Weiteren eine internationale Diskussion, insbesondere in der Europäischen Union, die ich mir vor einem Jahr nicht hätte träumen lassen; Sie sich wahrscheinlich auch nicht. Durch die Krise - Krisen lenken ja immer den Blick auf die Schwachstellen und auf die starken Stellen - sind im Euro-Raum erhebliche strukturelle Unterschiede sichtbar geworden.

Wenn man sich die Zeit vor Einführung des Euro anschaut, stellt man fest, dass man bei den Zinsen zwischen den heutigen Euro-Mitgliedstaaten Unterschiede bis zu acht Prozent gehabt hat. Wenn ein Staat eine Anleihe aufgenommen hat - Deutschland, Griechenland, Portugal oder Spanien -, dann betrug der Zinsunterschied oft sechs bis acht Prozent. Durch die Einführung des Euro ist die Schere über die Jahre hinweg zusammengegangen, und jetzt, nach der Krise, sind diese Unterschiede wieder mehr zutage getreten. Das ist an sich nichts Neues, weil es vor der Einführung des Euro auch so war, aber im Währungsverbund wird natürlich der Ruf nach Aktionen laut, weil man ja nicht einfach die Währung abwerten kann, sondern eine gemeinschaftliche Antwort finden muss. Das hat die Spannungen hervorgerufen, die dann erst zur Hilfe für Griechenland und anschließend zum großen Euro-Rettungsschirm geführt haben. Mit beiden Maßnahmen haben wir nichts anderes getan, als uns Zeit zu kaufen. In dieser Zeit müssen die eigentlichen Maßnahmen getroffen werden; und das heißt: Verringerung des Staatsdefizits, aber eben nicht nur Verringerung des Staatsdefizits, sondern auch strukturelle Reformen.

Dass heute in Spanien im Parlament über die Arbeitsmarktreform debattiert wird, ist mindestens so wichtig wie die Tatsache, dass vor 14 Tagen ein Sparpaket verabschiedet wurde. Deshalb arbeiten wir in Europa jetzt auch daran zu sagen: Wir müssen uns mit der wirtschaftlichen Kraft der ganzen Europäischen Union, mit unserer strukturellen Leistungsfähigkeit beschäftigen, denn aus den Staatsdefiziten kommen wir nur heraus, wenn wir zukunftsweisendes, nachhaltiges Wachstum haben, das eben durch die richtigen Maßnahmen kreiert werden muss. Das wird in der europäischen Politik dazu führen, dass wir, wie ich glaube, miteinander ehrlicher diskutieren und die Schwierigkeiten nicht mehr unter den Tisch kehren können; das hat uns diese Euro-Krise jetzt gezeigt. Und es wird dazu führen müssen, dass der Benchmark nicht die schwächeren Länder sind, sondern die stärkeren.

Dafür trete jedenfalls ich ein. Deshalb habe ich auch sehr bewusst und auch unter Inkaufnahme von viel Kritik darauf bestanden, dass bei dem Griechenland-Hilfspaket und auch bei den anderen der IWF, die Europäische Zentralbank und die Europäische Kommission mit den Ländern Programme ausarbeiten, die in der Sache wirklich eine Verbesserung bringen. Ansonsten haben wir einen Schutzschirm, wobei wir, wenn dieser weggenommen wird, wieder da sind, wo wir vorher waren.

Ich glaube, die Stabilitätskultur ist jetzt gestärkt worden, verbunden auch mit Beratungen in der Van-Rompuy-Gruppe von Wolfgang Schäuble über die Frage: Was müssen wir gegebenenfalls auch in den Verträgen ändern? Ich bin sehr froh, dass ich mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy jetzt Einvernehmen darüber erzielt habe, dass wir Vertragsänderungen brauchen. Eine Europäische Union, die sagt: "Wir können unsere Verträge leider nicht mehr ändern, komme, was da wolle, und seien die Bedingungen, wie sie wollen", ist eine erstarrte Union. So etwas dürfen wir nicht sagen. Die Marktakteure sagen: Okay, wenn die nicht mehr in der Lage sind, ihre Verträge zu ändern, dann sind wir natürlich auf dem Weg, kein besonders gutes Marktsignal abgeben zu können. Deshalb befinden wir uns jetzt in der Europäischen Union sicherlich in einer sehr wichtigen Phase, in der es sich entscheidet, wie es weitergeht.

Aber ich will an dieser Stelle auch sagen: Der Euro hat Deutschland so viel Gutes gebracht, dass wir natürlich darum kämpfen, dass er stabil bleibt und er stabiler wird. Wenn Sie sich an die Zeit vor dem Euro erinnern, wissen Sie, wie oft wir die Pesete, die Lira und den Franc gestützt haben und was da im internationalen Währungssystem los war. Da kann ich nur sagen: Wir wären ohne Euro nicht so durch die Krise gekommen, wie wir es jetzt geschafft haben. Unsere Exporte, die wir aus Deutschland tätigen, fließen zu über zwei Drittel - fast 70 Prozent - in Länder der Europäischen Union. Selbst die Länder, die keinen Euro haben, haben oft eine feste Bindung an den Euro. Das heißt, es liegt im elementaren deutschen Interesse, dass es den Euro gibt, aber genauso, dass er stark, verlässlich und stabil bleibt und die Europäische Zentralbank ihre Unabhängigkeit nicht verliert. Das sind die Diskussionen, die wir da zu führen haben.

Jetzt zur weltweiten Diskussion über Exportüberschüsse. Ich muss sagen, dass wir sicherlich schauen müssen, wo es globale Ungleichgewichte gibt. Ich bin auch bereit, zu schauen, ob wir in Deutschland den Dienstleistungssektor besser entwickeln können und unseren Arbeitsmarkt - ich habe über die Langzeitarbeitslosen gesprochen - stärker aktivieren können. Was wir aber nicht beeinflussen können, ist unsere Exportstärke. Es trifft nicht zu, dass diejenigen, die als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für den Export arbeiten, zu schlecht bezahlt würden, sondern sie gehören zu den bestbezahlten Facharbeitern weltweit.

Wenn wir uns den europäischen Binnenmarkt anschauen, stellen wir fest, dass die Handelsbilanz innerhalb des europäischen Binnenmarktes relativ ausgeglichen ist. Was man nicht tun sollte, ist, einmal Deutschland allein zu betrachten und dann wieder auf ganz Europa zu schauen, denn ich glaube, man muss sich schon dafür entscheiden, dass man im gemeinsamen Binnenmarkt auch eine gemeinsame Handelsbilanz entwickelt; und diese kann sich weltweit sehen lassen.

Das, was wir jetzt im Ausgang der Krise sehen - ich habe immer gesagt: in der Krise werden die Karten neu gemischt -, ist, wie es im Augenblick erscheint, eine massive Stärkung der asiatischen Märkte. Sie sind die Zugpferde des gesamten Wachstums. Davon profitiert eine Exportnation wie Deutschland sehr gut. Aber das heißt natürlich auch, dass wir in der Stärkung unserer Wettbewerbsfähigkeit nicht nachlassen dürfen, denn wir sind ein Land mit einer eher alternden Tendenz, ein Land, in dem die Wachstumsraten begrenzt sind. Das Potenzialwachstum wird nicht groß über ein Prozent hinauskommen. Das heißt, wir müssen schauen, dass wir uns wenigstens innerhalb dieses begrenzten Wachstumsrahmens immer wieder modernisieren und vorn dabei sind, weil ansonsten die Technologien in die Wachstumsmärkte abwandern werden, die auf Jahre hinaus noch viel größere Wachstumsraten bringen, wie es zum Beispiel in China der Fall ist.

Wir haben in der Tat gute Chancen, gestärkt aus dieser Krise hervorzugehen. Wir haben uns in der Krise bewährt, aber wir haben keinen Grund, auch nur eine Sekunde lang die Hände in den Schoß zu legen. Deshalb ist auch die Diskussion in der Europäischen Union wichtig, dass wir die notwendigen Strukturreformen anpacken müssen. Das wird noch sehr viel politische Kraft erfordern. Wenn in Frankreich beschlossen wird, das Renteneintrittsalter von 60 auf 63 zu erhöhen, hat man politisch schon die allergrößten Schwierigkeiten, das umzusetzen.

Deshalb ist auch meine Bitte an Sie, die Sie auch mit den Vertretern der Opposition zusammenkommen, dass es höchste Zeit ist, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Es hat überhaupt keinen Sinn, hier im Land eine Stimmung zu erzeugen, man müsse das alles nicht machen, man könne mit den Defiziten weitermachen, und so zu tun, als gebe es ganz andere Lösungen als die, die wir jetzt gerade gefunden haben, und im Zusammenhang mit dem Zukunftspaket jetzt von irgendwelchen sozialen Dingen zu sprechen, die überhaupt nicht zur Debatte stehen. Wenn wir aber das Klima der Verantwortung, wie wir es in der Krise hatten, die nächsten Jahre weiterführen können, ist mir nicht bange. Darum müssen wir kämpfen.

Deshalb bedanke ich mich dafür, dass ich heute bei Ihnen eingeladen war. Ich werde mich weiter für nachhaltiges Wachstum genauso einsetzen wie für eine Regulierung der Finanzmärkte, was auch in Kanada eine Rolle spielen wird.


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Quelle:
Bulletin Nr. 71-1 vom 22.06.2010
Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel auf der
DIHK-Sondervollversammlung am 22. Juni 2010 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juni 2010