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REDE/504: Dr. Gerd Müller - Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, 29.1. (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Rede des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dr. Gerd Müller, zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung in der Aussprache zur Regierungserklärung der Bundeskanzlerin vor dem Deutschen Bundestag am 29. Januar 2014 in Berlin:



Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Die Welt steht vor gewaltigen Herausforderungen. Über vier Millionen Jahre hat es gedauert, bis die Menschheit im 19. Jahrhundert die Schwelle der ersten Milliarde durchbrach. Heute wächst die Weltbevölkerung täglich um 230.000 Menschen - das sind 80 Millionen Menschen im Jahr, einmal die Einwohnerzahl von Deutschland - auf neun Milliarden Menschen im Jahr 2050. Die Bevölkerung in Afrika wird sich in diesem Zeitraum verdoppeln. Ein Staat wie Nigeria, der noch überhaupt nicht in unserem Blickfeld ist, wird dann 500 Millionen Einwohner haben.

Seit meiner Geburt 1955 hat sich die Weltbevölkerung verdoppelt. Wir haben in diesem Zeitraum aber auch eine Verdreifachung des Wasserverbrauchs, eine Vervierfachung des CO2-Ausstoßes und eine Versiebenfachung der Produktion der Weltwirtschaft zu verzeichnen. Würden alle Menschen heute auf der Erde auf dem Konsumniveau von uns Deutschen und Europäern leben, dann brauchten wir drei Planeten; denn die Menschen hinterlassen einen gewaltigen ökologischen Fußabdruck. So stellt sich für uns natürlich auch die Frage nach den Grenzen dieses Wachstums.

Unter diesem Gesichtspunkt globaler Herausforderungen ist die Entwicklungspolitik, der Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, sich seit vielen Jahren - die allermeisten in diesem Raum mit so viel Idealismus - widmen, nicht Nischenpolitik, weil der Tagesordnungspunkt heute um halb acht aufgerufen wird, sondern sie steht im Zentrum der Politik; sie ist Zukunftspolitik, Friedenspolitik, sie ist Innenpolitik.

Auch wenn es noch nicht alle gemerkt haben, haben diese Entwicklungen gewaltige Rückwirkungen auch auf uns in Deutschland. Wir stehen für eine werteorientierte Entwicklungspolitik, und das aus ethisch-moralischer Verpflichtung, aus globaler Verantwortung heraus, aber auch aus nationalem Interesse. Uns allen ist klar: Die Menschheit überlebt nur dann in Würde, wenn wir die Schöpfung erhalten und uns an global geltenden Grundwerten orientieren, eine humane und gerechte Weltordnung schaffen, die Lebensperspektive für alle schafft. An dieser Stelle sind wir uns einig, dass wir nicht business as usual, einfach so weitermachen können; wir brauchen vielmehr einen Paradigmenwechsel, im Denken und im Handeln, national, europäisch und international.

Es ist ganz klar: Niemand in der Welt - schon aus humanitären Gründen - darf zurückgelassen werden. Ein Ende der Armut und des Hungers, von Krankheit und Seuchen ist möglich. Dennoch lassen wir es zu, dass nahezu eine Milliarde Menschen unterernährt ist, hungert und täglich 20.000 bis 30.000 Kinder sterben, während wir, eine Milliarde Menschen auf der Sonnenseite des Lebens, mit Übergewicht und Fettleibigkeit kämpfen. Das ist nicht hinnehmbar. Hier müssen wir handeln.

Dazu brauchen wir ein neues Denken, ein neues Handeln von Staat und Gesellschaft, aber auch von jedem Einzelnen. Nachhaltigkeit muss das Prinzip allen Tuns und aller Entwicklung sein. Deshalb müssen wir die Globalisierung so gestalten, dass sie den Menschen dient und nicht ausschließlich den Märkten und der Wirtschaft.

Nicht der freie Markt ohne jegliche Kontrolle ist unser Leitbild, sondern eine ökologisch-soziale Marktwirtschaft. Der Markt braucht Grenzen. Wir haben eine Vorlage für ein wirtschaftlich verträgliches System. Im ökologischen Sinne müssen wir unser Konsumverhalten verändern, den Wachstumsbegriff qualitativ neu definieren. Die Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" des Bundestages hat dazu vor einem Jahr eine hervorragende Vorlage geliefert, die wir nur aufzugreifen haben.

Wir müssen die Ressourcen effizienter nutzen, etwa mit dem Faktor fünf oder mit dem Faktor zehn. Wir müssen also mit weniger Einsatz mehr produzieren. Das ist möglich, und das zeigt auch auf, dass die Probleme lösbar sind. Ökologische und soziale Standards müssen Eingang in die Finanz- und in die Wirtschaftswelt finden, in internationale Handelsabkommen und in globale Handelsströme. Ich denke an Doha. Hier müssen wir Deutsche, hier müssen wir Europäer ein Stück weit Maßstäbe setzen und Vorreiter sein.

Wenn man es will, kann man mit anderen zusammen auch etwas bewegen. Wir können einiges bewegen. Wir haben in meiner Zeit als Parlamentarischer Staatssekretär im Agrarministerium beispielsweise das Thema "Begrenzung und Verbot der Lebensmittelspekulationen" in den G20-Gipfel eingebracht. Ein Anfang ist gemacht. Wir müssen auch bei anderen Themen vorangehen. Ich habe mich heute mit der niederländischen Ministerin für Außenhandel und Entwicklungszusammenarbeit über die Situation der Textilwirtschaft, beispielsweise in Bangladesch, unterhalten. Es ist absolut nicht hinnehmbar, dass dort Näherinnen für fünf Cent in der Stunde 90 Stunden die Woche Jeans nähen, damit wir für 9,90 Euro eine Jeans kaufen können.

An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass jeder von uns aufgefordert ist, zu handeln. Auch der Konsument, der Verbraucher, kann durch nachhaltiges Handeln Zeichen setzen. Wir müssen als reiche Industrienationen dabei wesentlich stärker unserer Verantwortung gerecht werden. Europa, die USA und Japan, 20 Prozent der Weltbevölkerung, beanspruchen 80 Prozent des Reichtums und hinterlassen zwei Drittel der Umwelt- und Klimaschäden. Hier sind ein Umdenken und ein Umsteuern angesagt.

Ich werde zusammen mit Ihnen, den engagierten Parlamentarierinnen und Parlamentariern, die auch in der Vergangenheit immer wieder auf diese Themen aufmerksam gemacht haben, jetzt unter Beteiligung aller in der deutschen Gesellschaft und Öffentlichkeit Interessierten einen Diskussionsprozess einleiten. Wir wollen in diesem Jahr eine nationale Zukunftscharta nach dem Motto "Eine Welt - unsere Verantwortung" entwickeln, die am Ende des Jahres in einen großen Eine-Welt-Kongress münden soll.

Wir bereiten damit ein neues globales Zielsystem für nachhaltige Entwicklung nach 2015, den Post-2015-Prozess - die Neudefinition der Millenniumsziele -, vor. Deutschland kann und muss hier eine starke inhaltliche Vorgabe machen. Liebe Kolleginnen und Kollegen des Ausschusses, die Sie kämpfen, die Sie die letzten Jahre auch um politische Reputation gekämpft haben, es zeigt, dass wir weit vorangekommen sind. Unser Ministerium bekommt morgen Besuch von Ban Ki-moon. Mit ihm starten wir diesen Prozess und leiten wir die Diskussion dieses globalen Zielsystems ein. Das BMZ ist auch und gerade das Ministerium für globale Entwicklungen.

Die Koalition verstärkt die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit.

Natürlich hätten wir uns gewünscht, Herr Raabe, dass es mehr als zwei Milliarden Euro für die nächsten vier Jahre wären. Aber: Die Notwendigkeit dieser Mittel ist bei den Spitzen der Fraktionen angekommen. Ich bedanke mich bei der Kanzlerin, beim Vizekanzler, bei Herrn Gabriel. Wir haben einen großen Konsens. Es ist eine große Chance, dass wir diese Themen, diese Herausforderungen nicht im kleinen innerparteilichen Streit diskutieren müssen, sondern dass wir uns im Großen und Ganzen einig sind, dass wir etwas bewegen und nach vorne kommen wollen. Dafür bedanke ich mich bei Ihnen.

Als neuer Bundesminister mache ich mich mit großer Freude an die Arbeit. Ich fühle und finde viel Idealismus und Unterstützung bei Ihnen. Das gibt mir auch die Kraft, neue konkrete Akzente und Ansatzpunkte zu finden. Neue Schwerpunkte werden wir in den nächsten Monaten im Ausschuss miteinander entwickeln. Mit meinen beiden Staatssekretären Joachim Fuchtel und Christian Schmidt haben wir eine Verstärkung bekommen. Sie sind gewichtige politische Akteure an meiner Seite, profilierte Außenpolitiker und Entwicklungspolitiker.

Thema Nummer eins ist die Entwicklungszusammenarbeit. Sie ist kein Nischenthema, wie ich gesagt habe, und deshalb müssen wir Wirtschaft, Gesellschaft, Kirchen, Medien und Politik mitnehmen.

Die größte Ungerechtigkeit sind die absolute Armut und der Hunger. Deshalb werden wir unsere Anstrengungen hier weiter verstärken und besonders in Afrika investieren - die Frau Verteidigungsministerin ist weg -; wir werden unsere Anstrengungen mit einer Sonderinitiative für eine Welt ohne Hunger verstärken und in Mali, in Zentralafrika einen Schwerpunkt setzen. Ich beabsichtige, mit jährlich einer Milliarde Euro gezielt die ländliche Entwicklung voranzubringen. Wir streben den Aufbau von zehn grünen Wertschöpfungszentren in Afrika an. Unser Leitbild sind nicht Agrofabriken, sondern leistungsfähige bäuerliche Betriebe, die die lokale Ernährung sichern und die Wertschöpfung im Lande belassen. Wir sind davon überzeugt: Afrika kann sich selbst ernähren.

Wir haben das Wissen, das Können. Wir müssen in Partnerschaft diesen Transfer leisten; dann ist Afrika selber imstande, sich zu ernähren. Viele Länder Afrikas können mit diesem Know-how, mit unserer Hilfe die Produktivität verdoppeln, verdreifachen. Wir haben solche Erfahrungen in Äthiopien und in vielen anderen Staaten bereits gemacht. Also machen wir uns auf, diesen Schwerpunkt zu setzen.

Dazu gehört Bildung. Bildung ist für uns der Schlüssel für eine bessere Zukunft. Bildung ist die Grundlage jeglicher Veränderung. Deshalb werden wir hier einen weiteren Schwerpunkt setzen und gezielt Haushaltsmittel zur Stärkung der Grundbildung und zum Aufbau beruflicher Ausbildungszentren, aber auch für die tertiäre Bildung einsetzen. Wir werden diese Haushaltsmittel auf mindestens 400 Millionen Euro jährlich erhöhen und dazu auch eine Afrika-Initiative starten. Ich habe mich gestern mit der Präsidentin des DAAD getroffen. Wir haben vereinbart, den jetzt schon erfolgreichen Austausch von Studenten und Professoren zwischen Deutschland und Afrika zu verdoppeln. 1.000 neue Austauschplätze für afrikanische Studenten in Deutschland sind das Ziel.

Afrika bleibt unser regionaler Schwerpunkt. Ich sage: Trotz aller Probleme ist Afrika der Chancenkontinent. Deshalb arbeiten wir an einem neuen entwicklungspolitischen Afrika-Konzept. Ich lade insbesondere die deutsche Wirtschaft ein, in Partnerschaft mit uns die Chancen zu nutzen.

Ein schwieriges, aber drängendes Thema ist das Flüchtlingsthema. Wir brauchen ein europäisch abgestimmtes Flüchtlingskonzept. Lampedusa wird es hundertmal geben, wird es tausendmal geben. Es genügt nicht, dass wir im Mittelmeerraum die Zäune und die Polizeipräsenz verstärken; wir müssen Lebensperspektiven für die Menschen vor Ort schaffen.

Wir müssen eine Antwort geben. Frau Roth war gerade unterwegs in Jordanien und im Libanon, wo drei bis vier Millionen syrische Flüchtlinge in Flüchtlingslagern, in Notunterkünften leben und humanitäre Hilfe, das tägliche Essen erhalten. Aber wir brauchen eine Antwort auf die Frage der Reintegration, wo es darum geht, diese Menschen wieder in ihre Heimat zurückzuführen. Ich sage auch mit Blick auf die Diskussion in Deutschland: Die syrischen Flüchtlinge, aber auch die Flüchtlinge an anderen Orten in der Welt wollen nicht hierherkommen; sie wollen Heimat und Zukunft, Frieden und Stabilität zu Hause, und dazu müssen und werden wir beitragen.

Dies gilt auch für Afghanistan. Ich kann das Thema heute nicht weiter vertiefen. Es geht auch dort um die Frage einer echten Entwicklungsperspektive. Der Abzug der ISAF-Soldaten, Herr Staatssekretär, ist nur die eine Seite. Wenn wir nach zwölf Jahren herausgehen, brauchen wir zur Stabilisierung Investitionen und eine Stärkung der zivilen Infrastruktur, wenn wir nicht innerhalb von fünf Jahren erleben wollen, dass der militärische Einsatz der ISAF-Truppen erfolglos war, weil das Land im Chaos versinkt. Das wollen wir nicht, deshalb müssen wir die zivilen Strukturen stärken.

Der Klimaschutz bleibt Eckpfeiler der Entwicklungspolitik; das ist ganz natürlich. Die Aufgabe, vor der wir stehen, ist, ein rechtsverbindliches Klimarahmenabkommen im Jahr 2015 abzuschließen. Dieser eine Satz beinhaltet eine große Ankündigung. Es ist nämlich eine riesige Aufgabe, zu einem rechtsverbindlichen Klimarahmenabkommen im Jahr 2015 zu kommen.

Unser Einsatz gilt der Förderung von Demokratie, Menschenrechten, Gleichberechtigung, Rechtsstaatlichkeit und guter Regierungsführung. Wirksame Entwicklungszusammenarbeit hat dies natürlich auch zum Ziel und zur Grundlage. Deswegen werden wir uns verstärkt auf Aufbauleistungen insbesondere im Mittelmeerraum konzentrieren und dabei die so wertvolle Arbeit unserer politischen Stiftungen fördern.

Vieles ist zu tun, und viele sind unterwegs. Zum Schluss möchte ich unseren vielen Tausend Entwicklungshelfern und -experten in der Welt - Soldaten leisten ihren wertvollen, herausragenden Dienst, aber auch Tausende von Entwicklungshelfer - für ihren unermüdlichen und auch gefährlichen Dienst danken. Sie verdienen, dass ihnen unsere ganz besondere Wertschätzung gilt.

Unsere Entwicklungshelfer sind Botschafter Deutschlands im besten Sinne: Botschafter für den Frieden in der Welt. Sie stehen für unsere Kultur, für Gerechtigkeit, Frieden, Demokratie und Zukunft. Wir im Deutschen Bundestag stehen fraktionsübergreifend hinter ihnen. Wir alle kämpfen für eine gerechte Welt, für eine bessere Zukunft und den Erhalt unserer Schöpfung. Mit ihnen zusammen gehen wir an die Arbeit.

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Quelle:
Bulletin 08-4 vom 29. Januar 2014
Rede des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung, Dr. Gerd Müller, zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung
in der Aussprache zur Regierungserklärung der Bundeskanzlerin
vor dem Deutschen Bundestag am 29. Januar 2014 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Februar 2014