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REDE/512: Sigmar Gabriel - "Stahlindustrie in Deutschland und Europa stärken", 28.04.2016 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Deutscher Bundestag
Rede des Bundesministers für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel, zum Thema "Stahlindustrie in Deutschland und Europa stärken" vor dem Deutschen Bundestag am 28. April 2016 in Berlin


Herr Präsident!
Meine Damen und Herren!

Um gleich einmal die Frage der Kollegin Andreae zu beantworten: Die Bundesregierung tut all das, was Sie gesagt haben, zum Beispiel dadurch, dass wir nicht nur alleine, sondern mit sieben weiteren Industrieministern der Kommission schon längst gesagt haben, dass sie die Maßnahmen zum Antidumping in Kraft setzen muss, dass es skandalös ist, dass wir in Europa für etwas, wofür die Vereinigten Staaten von Amerika neun Monate brauchen, 20 Monate benötigen, und dass wir eine Reform dieser Schutzmaßnahmen, sozusagen völlig neue, brauchen. All das haben wir getan.

Es ist natürlich richtig, das beim G20-Gipfel auf die Tagesordnung zu setzen, aber, Frau Andreae, der ist erst nächstes Jahr. Bis dahin kann es passieren, dass es bei uns schon zu einem erheblichen Abbau von Arbeitsplätzen in der Stahlindustrie kommt.

Worum es in Wahrheit in der Europäischen Union geht, ist die Frage, ob wir den Mut haben, uns auch gegenüber China offensiv aufzustellen. Denn in Wahrheit haben doch alle Angst, dass Maßnahmen für die Stahlindustrie dazu führen, dass die Chinesen ihrerseits mit entsprechenden Maßnahmen antworten und wir dann in einem Handelskrieg landen. Diese Angst haben doch alle, und deswegen zucken alle bei der Frage.

Ich bin dafür, dass wir uns offensiv verhalten, weil wir für defensives Verhalten auch von den Chinesen nicht respektiert werden. Niemand will einen Handelskrieg. Niemand wünscht sich dann Antidumpingmaßnahmen. Aber wenn wir sie nicht in Kraft setzen und sozusagen schon signalisieren, dass wir nicht bereit sind, unsere Stahlindustrie zu stärken - da hat Frau Andreae völlig recht; als Nächstes geht es um alle Bestandteile der energieintensiven Industrien und der Rohstoffindustrien -, dann werden wir uns nie durchsetzen. Deswegen bin ich sehr dafür, dass wir klar sagen: Es kann keinen Marktwirtschaftsstatus für China geben, wenn sich China nicht an die Regeln der Marktwirtschaft hält. Das ist doch ganz klar.

Übrigens Klaus beziehungsweise Herr Ernst: Freihandel hat Regeln, und wer gegen Regeln verstößt, dem darf man keinen freien Handel ermöglichen. Man darf diese Debatte nicht dafür nutzen, den Freihandel zu diskreditieren; denn auch wir exportieren Stahl, übrigens sogar nach China. Es geht vielmehr um die Durchsetzung von Regeln dabei. Übrigens: Würden wir mit den Vereinigten Staaten in solchen Fragen gemeinsam handeln, dann wären wir besser aufgestellt. Die Vereinigten Staaten schützen ja ihren Markt gegenüber Dumpingimporten aus China, was es derzeit für uns noch schwerer macht, weil die Chinesen das, was sie dort nicht auf den Markt bringen können, bei uns auf den Markt drücken. Wir müssen also Regeln für den Handel und den fairen Wettbewerb durchsetzen, und wir dürfen nicht Ländern einen Marktwirtschaftsstatus verleihen, die ganz offensichtlich keine Marktwirtschaft sind.

Die Überkapazitäten, die dort bestehen, sind übrigens doppelt so groß wie der gesamte europäische Bedarf. So viele Konjunkturprogramme können wir gar nicht machen, um das auszugleichen. Das wollen wir auch gar nicht. Es geht doch darum, dass sich in einem fairen Wettbewerb die Besten durchsetzen sollen, statt diejenigen mit den miesesten Löhnen und schlechtesten Umweltstandards auch noch staatlich dabei zu unterstützen, dass sie den Markt mit ihren Produkten überschwemmen.

Worum es im internationalen Wettbewerb geht, ist Folgendes: Die Strompreise in den Vereinigten Staaten sind in der Tat durch Fracking und dadurch, dass dort viele der Abgaben und Steuern, die wir auf Energie erheben, nicht existieren, deutlich geringer. Das ist nun einmal so, und zwar nicht nur bezogen auf Deutschland, sondern auf ganz Europa. Worum es jetzt geht, ist, darauf zu achten, dass wir das, was zumindest die Mehrheit des Deutschen Bundestages beschlossen hat, nämlich dass die energieintensive Industrie - im Kern die Stahlindustrie - von besonderen Abgaben wie der EEG-Umlage und der Umlage für Kraft-Wärme-Kopplung befreit wird, weiter durchsetzen.

Es war sehr bedauerlich, dass die Fraktion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hier im Deutschen Bundestag dagegen gestimmt und polemisiert haben, dass wir die Stahlindustrie und die energieeffiziente Industrie von Abgaben befreien. Das hat hier doch stattgefunden. Als ich die Befreiung von der EEG-Umlage durchgesetzt habe, musste ich mir doch von Ihrer Fraktion, Herr Ernst, und der Fraktion der Grünen anhören, nun würden die Verbraucher durch höhere Strompreise belastet, weil wir die energieintensive Industrie ausnehmen. Meine Antwort lautete: Was hilft es eigentlich einem Dreipersonenhaushalt, wenn er im Jahr rund 40 Euro - das wäre das Maximum gewesen, wenn wir alle Befreiungen gestrichen hätten - geringere Stromkosten hat, aber gleichzeitig ein paar Millionen industrielle Arbeitsplätze vernichtet werden? Dieses Argument haben Sie damals nicht akzeptiert. Es wäre gut, wenn Sie es heute akzeptieren würden.

Herr Krischer, ich habe gar nichts zur Frage von Strompreisen für die Stahlindustrie gesagt. Ich habe nur darauf hingewiesen, dass es stimmt, dass die Stromkosten - dafür sind nicht die Börsenpreise entscheidend, sondern die Steuern und Abgaben, die auf die Börsenpreise obendrauf kommen - für die energieintensiven Unternehmen in den Vereinigten Staaten niedriger sind als für vergleichbare Unternehmen in ganz Europa. Das liegt daran, dass wir in den letzten Jahrzehnten aus guten Gründen überall in Europa Abgaben auf Strom- und Energieverbrauch entwickelt haben, die einmal als ökologische Abgaben begonnen haben, aber in Wahrheit mittlerweile längst allgemeiner Bestandteil der staatlichen Haushaltsfinanzierung geworden sind und deshalb nicht einfach abzubauen sind.

Wir müssen also darauf achten, dass die Differenz zwischen den Stromkosten in anderen Industrienationen, die fairen Wettbewerb machen, und unseren in Europa nicht zu groß wird, da es ansonsten schwierig wird, beispielsweise im Bereich der Automobilindustrie moderne Faserverbundwerkstoffproduktion in Europa zu halten. Die gehen, wie sie es derzeit schon tun, nämlich dann in die Vereinigten Staaten.

Ich habe mich nicht dafür ausgesprochen, irgendwie damit anzufangen, an diesen Abgaben herumzudoktern, sondern habe erst einmal auf ein Problem hingewiesen, das dazu führt, dass unsere Unternehmen in der Regel wesentlich forschungsintensiver und effektiver arbeiten sowie eine höhere Produktivität haben müssen. Eines möchte ich jedenfalls nicht, nämlich dass diese Wettbewerbsunterschiede dazu führen, dass die ökologischer produzierende Industrie in Deutschland in Schwierigkeiten gerät und die besser bezahlten Jobs in Deutschland gefährdet werden, und das dann zugunsten schlechter bezahlter Jobs in anderen Teilen der Welt ausgeht. Das war, Herr Krischer, die Antwort auf Ihre zweite Frage.

Nun zur Antwort auf den ersten Teil Ihrer Frage, wo Sie sagten, die Debatte habe nichts mit der EEG-Novelle zu tun. Ein Teil des Problems ist doch, dass sich hier jeder immer das heraussucht, wo er unproblematisch sagen kann: Hier will ich der Stahlindustrie helfen. Aber die Welt ist nicht so einfach. Es gibt ein Problem mit Dumping, das ist das größte Problem.

- Das erkläre ich Ihnen gleich, Frau Höhn, worin das Problem besteht. Wenn jemandem das Wasser bis zum Hals steht, dann besteht bei jedem Glas Wasser, das Sie zusätzlich hineinschütten, die Gefahr, dass er dabei ersäuft. Es gibt eine alte Handwerkerregel, die besagt: Nach "fest" kommt "ab".

Jetzt geht es zum Beispiel darum - darüber gab es ja auch Streit mit den Grünen im Bundesrat -, ob wir es durchsetzen können, dass die Befreiungsregel für die Industrieanlagen bei der Kraft-Wärme-Kopplung und beim EEG erhalten bleibt. Darüber liegen wir mit der EU-Kommission im Streit, weil wir glauben, es ist ein Fehler, diese Befreiungsmöglichkeiten ab 2017 einzuschränken. Es wäre gut, wenn Sie sagen würden, Sie sind dafür, dass dies so bleibt. Das wäre ein großer Fortschritt. Das haben Sie bisher nie getan.

Sie haben damals immer so getan, als könnte man bei den energieintensiven Unternehmen die Branchen sozusagen weiter einschränken. Der eigentliche Vorteil dieses Landes ist aber, dass wir bei Stahl, bei Chemie und in vielen anderen Rohstoffbereichen Wertschöpfungsketten haben. Wenn Sie anfangen, eine herauszubrechen, bricht Ihnen die ganze Wertschöpfungskette weg. Das ist doch unser Vorteil. Deshalb geht es doch nicht nur um die 87.000 Jobs, die es in der Stahlindustrie gibt - dies wäre bereits Grund genug, sich für die Stahlarbeiter einzusetzen -, sondern es geht doch um die gesamte Bandbreite der Industrie. Beim Emissionshandel ist es eben so, dass es ein Fehler ist, zu glauben, dass, wenn man es einfach teuer genug macht, die Sache dann - oh Wunder! - weitergeht.

Natürlich ist es ein Problem, wenn wir jetzt über die Frage sprechen, ob die zehn Prozent der besten Stahlunternehmen in Europa zusätzliche Minderungsfaktoren bekommen, die andere in Russland, in Indien, in China nicht haben. Die zehn Prozent Besten! Wofür wir eintreten und wogegen Sie sind, ist, dass wir die zehn Prozent Besten von weiteren Minderungsauflagen freistellen. Dafür plädieren wir. Diese befinden sich eben bei uns. Das Ergebnis, wenn wir dies nicht tun, kann sein, dass die zehn Prozent Besten weg sind und wir am Ende beides nicht haben, weder Klimaschutz noch Jobs in Europa. Das wollen wir nicht, und darum kämpfen wir in dieser Angelegenheit.

Ich kann einfach nur raten, sich bei diesem schwierigen Thema nicht immer nur das herauszusuchen, bei dem man ideologisch die wenigsten Probleme hat, sondern zu schauen, wie wir auf der gesamten Bandbreite die Grundlage auch für ökologischen Fortschritt in Europa erhalten.

Es gibt ganz gute Beispiele dafür, wie der Strukturwandel bewältigt werden sollte. Es ist ja nicht das erste Mal; denn Europa ist ja übrigens die einzige Region auf der Welt, die bereits Stahlkapazitäten in Höhe von 13 Millionen Tonnen Rohstahl abgebaut hat. Keine andere Region hat dies getan, nur Europa. Wir haben in der Vergangenheit bei solchen Prozessen zum Beispiel Stahlmoderatoren eingesetzt. So haben etwa Berthold Beitz und Alfred Herrhausen im Auftrag des damaligen Wirtschaftsministers Anfang der 80er-Jahre die Branche neu geordnet. Wir sehen, dass auch das dazugehört. Wir werden auch darüber zu reden haben. Die Unternehmen tun das auch.

Ich finde, man muss überlegen, ob wir nicht solche Entwicklungen auch wieder politisch begleiten. Ich habe jedenfalls mit meinem französischen Kollegen Emmanuel Macron, aber auch mit der IG Metall verabredet, dass wir Stahlmoderatoren in Deutschland und Frankreich beauftragen, mit uns gemeinsam an der Frage zu arbeiten, wie wir europaweit unternehmensübergreifende Kooperationen schaffen, wie wir stabilisierende Maßnahmen auf dem Stahlmarkt zustande bringen, wie wir der Politik Handlungsempfehlungen geben können. Ich glaube, dass das eine ganz gute An- knüpfung an das ist, womit Europa einmal begonnen hat, nämlich mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der Montanunion. Ich finde, es ist ein ganz guter historischer Anknüpfungspunkt, dass Frankreich und Deutschland gemeinsam sagen: Wir wollen bei diesem Thema die Grundlagen unserer wirtschaftlichen Erfolge in der Stahlindustrie und übrigens auch in allen anderen Industriebereichen weiter sichern.

Ich sage es ganz offen: Ich bin dafür, dass Europa seine Treibhausgasemissionen bis 2020 gegenüber 1990 um mindestens 20 Prozent verringert.

- Das ist das Klimaschutzziel, Frau Höhn, das sich Europa gemeinschaftlich gesetzt hat. Deutschland muss dabei übrigens eine Verringerung um 40 Prozent schaffen, damit das überhaupt klappt.

Aber ich bin auch dafür, dass das Ziel, das sich Europa gesetzt hat, dass der Anteil der Industrie bis 2020 20 Prozent am europäischen Bruttoinlandsprodukt beträgt, die gleiche Verbindlichkeit hat. Denn die Menschen werden uns beim Klimaschutz nicht folgen, wenn in der Kombination aus unfairem Wettbewerb, falschen energiepolitischen Entscheidungen und Auflagen für die Besten in der Industrie am Ende die Jobs bei uns verloren gehen, während woanders neue entstehen. Keiner wird uns dann folgen.

Damit dabei kein Scheinwiderspruch entsteht: Das soll und darf nicht dazu führen, Frau Andreae, dass wir die Klimaschutzziele verfehlen. Es geht auch nicht darum, jedes Stahlunternehmen von den Minderungsauflagen zu befreien. Aber ausgerechnet die zehn Prozent Besten, diejenigen, die nahe an der physikalischen Grenze zur Vermeidung von Kuppelgasen sind und die Kuppelgase verstromen, mit weiteren Auflagen zu versehen, während vergleichbare Unternehmen in anderen Ländern gar keinen Auflagen unterliegen, das ist doch keine vernünftige Klimaschutzpolitik. Wir sollten nicht so tun, als sei das ein wirkliches Problem.

Wir kämpfen jedenfalls dafür, dass wir vernünftige Regeln bekommen, durch die die Besten gefördert werden und die übrigens auch dazu beitragen, dass wir die Unternehmen erhalten, die gute Löhne zahlen und der Montanmitbestimmung unterliegen.

Es geht auch - da hat der Kollege Ernst recht - darum, dass bei harten Arbeitsbedingungen faire Löhne gezahlt werden, in Deutschland und in Europa, aber insbesondere in Deutschland, weil es da in diesem Unternehmensbereich exzellente Mitbestimmungsstrukturen gibt. Es geht auch um den Erhalt der Montanmitbestimmung. Es geht bei all den Konsolidierungsmaßnahmen, die jetzt auf uns zukommen, auch darum, dass sie immer nur im Rahmen der Montanmitbestimmung, also mit den Beschäftigten, durchgeführt werden; sie dürfen nicht vor dem Hintergrund unfairen Wettbewerbs gegen die Beschäftigten durchgeführt werden. Auch dafür bin ich.

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Quelle:
Bulletin Nr. 46-1 vom 28.04.2016
Rede des Bundesministers für Wirtschaft und Energie, Sigmar Gabriel,
zum Thema "Stahlindustrie in Deutschland und Europa stärken"
vor dem Deutschen Bundestag am 28. April 2016 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. April 2016

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