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VERKEHR/1577: Stuttgart 21 - Tricksen und Täuschen im Bahn-Tower (Der Rabe Ralf)


DER RABE RALF
Nr. 213 - Dezember 2019 / Januar 2020
Die Berliner Umweltzeitung

Tricksen und Täuschen im Bahn-Tower
Das Immobilien- und Infrastrukturprojekt Stuttgart 21 als Betonklotz am Hals der Deutschen Bahn

von Peter Streiff


Wenn ihr noch irgendeinen Restarsch in eurer blassgrünen Hose habt, dann haut jetzt endlich alle Fakten auf den Tisch!", appellierte der Regisseur Volker Lösch bei der 484. Montagsdemo in Stuttgart an die grün geführte Landesregierung und den grünen Oberbürgermeister Fritz Kuhn. Es sei endlich an der Zeit, die bahnunabhängige Wissenschaft zu den Kapazitätsproblemen und die Klimaforscher zur Klimaschädlichkeit von Stuttgart 21 anzuhören. Denn es gebe eine ernsthafte Alternative, so Lösch, nämlich das Konzept "Umstieg 21".

Seine deutlichen Worte sorgten für lautstarken Applaus bei der Demonstration Anfang Oktober, die das zehnte Jahr des Stuttgarter Straßenprotests einläutete. Weitere Standbeine der Widerstandsbewegung sind die Mahnwache, die seit mehr als neun Jahren Tag und Nacht vor dem Hauptbahnhof steht, und die vielen Fachgruppen: Ingenieurinnen, Architekten und Verkehrsfachleute decken unerbittlich die dreisten Tricksereien und Fehlplanungen der Deutschen Bahn (DB) auf und entwickelten das Umstiegskonzept. Bundesweit ist die Widerstandsbewegung auch durch beiden Demo-Bands "Lokomotive Stuttgart" und "Capella Rebella" bekannt geworden.

Grüner Gesichtsverlust

Bald zehn Jahre nach dem offiziellen Baubeginn sind grundlegende Pfeiler des Immobilien- und Infrastrukturprojekts S21 weiterhin wackelig: Die DB kann immer noch nicht beweisen, dass die geplante "Schrägtiefbahnhofhaltestelle" mehr Züge abfertigen kann als der bestehende Kopfbahnhof - vor Baubeginn einer der pünktlichsten in Deutschland. Zwischen der DB und dem Land Baden-Württemberg läuft ein offener Rechtsstreit, wer die offiziell veranschlagten Kosten übernehmen muss, die Finanzierung von mindestens zwei Milliarden Euro ist deshalb unklar. Und zwei Projektabschnitte haben immer noch keine Baugenehmigung - unter anderem die Flughafenanbindung.

In Anbetracht dieser Fakten richtete Lösch seinen Appell vor allem an die grünen Amtsinhaber, die als Projektgegner in ihre Ämter gewählt wurden und inzwischen zu "kritischen Begleitern" von S21 mutiert sind: "Ihr wisst selber ganz genau, dass ihr euch seit Jahren in die Tasche lügt und das Offensichtliche leugnet. Selbst professionelle Realitätsverweigerer wie ihr können so etwas wie ein Gesicht verlieren - sei es noch so konturlos und unmarkant."

Und Lösch fragte - auch in Richtung der Bundesregierung: "Wollt ihr immer noch deutlich mehr als zehn Milliarden Euro in ein klimazerstörerisches Bahnhofs-Verkleinerungsprojekt stecken? Wollt ihr weiterhin leugnen, dass die Verzögerungen eintreten, weil euer Stadtzerstörungsprojekt aufgrund falscher politischer Vorgaben geplant wurde? Wollt ihr weiterhin abstreiten, dass es immer nur und um nichts anderes als um die Realisierung riesiger Immobilienprojekte auf dem frei werdenden Gleisvorfeld ging?"

Staatskonzern außer Kontrolle

Ähnlich markant fällt die Kritik des "Stern"-Journalisten Arno Luik aus, der als Sohn eines Bahnvorstehers in der Nähe von Stuttgart aufwuchs und einige S21-Skandale öffentlich machte. In seinem neuen Buch "Schaden in der Oberleitung" zeigt er kenntnisreich, alltagsnah und detailliert die desaströsen Entwicklungen auf, die zum Niedergang der DB geführt haben.

Dass der Staatskonzern außer Kontrolle geraten sei, habe seine Gründe zum einen bei ehemaligen Daimler-Managern, die an der Bahnspitze ihren steuergeldfinanzierten Weltmachtphantasien nachhingen, und zum anderen bei unfähigen Verkehrsministern, die Luik als "Benzinkanister auf zwei Beinen" bezeichnet.

Der Systemzerfall der DB wird für Luik besonders deutlich beim Projekt Stuttgart 21, das "längst zur Chiffre für den strukturellen Irrsinn der Bahn" geworden sei. Der Autor verwebt dabei interne Informationen von frustrierten Bahnmitarbeitern mit detaillierten Recherchen aus den Reihen der Stuttgarter Widerstandsbewegung zu einem packenden Wirtschaftskrimi. Es sei endlich an der Zeit, deutlich zu machen, dass es Täter für dieses Desaster gebe, so Luiks Fazit. Sie würden in der Bundesregierung und im Tower der Deutschen Bahn sitzen.

Vorschläge zur Rettung der Bahn

Ein weiteres aktuelles Buch von zwei Autoren, die beide ebenfalls öfter auf der Stuttgarter Montags-Demobühne redeten, beleuchtet die Bahnpolitik der letzten 25 Jahre. In "Abgefahren" vergleichen Bernhard Knierim und Winfried Wolf die Versprechungen der Bahnreform von 1994 mit den Entwicklungen des letzten Vierteljahrhunderts und kommen zu einer überwiegend negativen Bilanz: "Abbau von Infrastruktur statt Ausbau, Halbierung der Belegschaft statt 'sicherer Arbeitsplätze', Rückzug aus der Fläche anstelle von Präsenz, Bolzstrecken anstelle eines Integralen Taktfahrplans, Immobiliengroßprojekte mit Bahngelände und Ausverkauf von Bahnhöfen anstelle einer Renaissance der Bahnhofskultur".

Doch die beiden Autoren bleiben nicht bei der desaströsen Bestandsaufnahme stehen, sondern entwickeln daraus "finanzierbare Vorschläge für eine Rettung der Bahn". Denn die Krise des Schienenverkehrs in Deutschland sei existenziell.

Petition für ein Umsteuern bei Stuttgart 21

Angesichts seines horrenden und weiter ansteigenden Defizits entwickelt sich S21 immer mehr zum Betonklotz am Hals der Deutschen Bahn. Das sagen nicht nur die, die das Projekt schon immer kritisieren, sondern auch der Bundesrechnungshof, der die Kosten von S21 bereits vor zwei Jahren auf zehn Milliarden Euro schätzte. Er warnte nicht nur davor, dass S21 teurer und noch später fertig wird, sondern dass auch die bisherigen Projektkosten für den Staatskonzern kaum tragbar seien.

Überraschenderweise schloss sich der Rechnungsprüfungsausschuss des Bundestags im September dieser Bewertung einstimmig an - also auch mit den Stimmen der projektbefürwortenden Parteien CDU, CSU, SPD und FDP.

Vor diesem Hintergrund startete das Aktionsbündnis zum Erhalt des Stuttgarter Kopfbahnhofs die Petition "Rettet das Klima", die sich an Verkehrsminister Scheuer wendet. Darin wird gefordert, dass alle Ausgaben und Bauarbeiten für Stuttgart 21 gestoppt werden, "bis über eine Klimaverträglichkeitsprüfung entschieden worden ist". Und es müsse endlich ernsthaft das Konzept "Umstieg 21" geprüft werden, mit dem der Kopfbahnhof modernisiert und das für S21 schon Gebaute sinnvoll umgenutzt werden soll - für eine "moderne Logistik in einem Hauptbahnhof als alle Verkehrsarten umfassende Drehscheibe klimaverträglicher Mobilität".


Autor Peter Streiff ist Redakteur bei Contraste - Zeitung für Selbstorganisation und seit 10 Jahren aktiv in der Widerstandsbewegung gegen Stuttgart 21.

Weitere Informationen:
www.bei-abriss-aufstand.de
Petition: weact.campact.de
(Suche: rettetdasklima)
Umstiegskonzept: www.umstieg-21.de


Arno Luik:
Schaden in der Oberleitung
Das geplante Desaster der Deutschen Bahn

Westend Verlag, Frankfurt a. M. 2019
224 Seiten, 18 Euro
ISBN 978-3-86489-267-7

Bernhard Knierim, Winfried Wolf:
Abgefahren. Warum wir eine neue Bahnpolitik brauchen
Papyrossa Verlag, Köln 2019
290 Seiten, 17,90 Euro
ISBN 978-3-89438-707-5

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Quelle:
DER RABE RALF
30. Jahrgang, Nr. 213, Seite 15
Herausgeber:
GRÜNE LIGA Berlin e.V. - Netzwerk ökologischer Bewegungen
Prenzlauer Allee 8, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg
Redaktion DER RABE RALF:
Tel.: 030/44 33 91-47/-0, Fax: 030/44 33 91-33
E-mail: raberalf@grueneliga.de
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Erscheinen: zu Beginn gerader Monate
Abonnement: jährlich, 25 Euro

veröffentlicht im Schattenblik zum 5. März 2020

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