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ARBEITSRECHT/061: Arbeitskampf vorm Kadi (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - 4/2007
Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft

Wissen aus erster Hand
Arbeitskampf vorm Kadi

Von Dr. Britta Rehder


Nach monatelangen Verhandlungen zwischen der Deutschen Bahn AG und der Gewerkschaft der Lokführer steht endlich eine Einigung in Aussicht. Der vorangegangene Konflikt belegt, dass Tarifstreitigkeiten auch in Deutschland immer aggressiver und nach amerikanischem Vorbild auch vor Arbeitsgerichten geführt werden. Dieser Stil könnte ungemütliche Folgen für die ganze Gesellschaft haben, wie Britta Rehder vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in einer Analyse feststellt.


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Kaum ein anderer innenpolitischer Konflikt des Jahres 2007 hat die Gemüter so stark erhitzt wie die Tarifauseinandersetzung zwischen der Deutschen Bahn AG und der Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL). Bemerkenswert an der tariflichen Auseinandersetzung war erstens die Feindseligkeit, mit der sich zwei Parteien, die eigentlich miteinander verhandeln sollen, gegenüber stehen; bemerkenswert war aber auch das hohe Maß an gerichtlicher Intervention. In der Öffentlichkeit wurde der Streit häufig auf ein Duell der Dickköpfe reduziert, auf persönliche Animositäten zwischen zwei eitlen Männern kurz vor ihrer Pensionierung. Die Frankfurter Rundschau bezeichnete die Kontrahenten Manfred Schell und Hartmut Mehdorn gar als "Nervensägen des Jahres". Diese Interpretation unterschätzt jedoch die Bedeutung des Konflikts. Er ist keine skurrile Ausnahmeerscheinung, sondern signalisiert einen Trend in den deutschen Arbeitsbeziehungen, der vor allem strukturelle Ursachen hat.

Dass politische Konflikte ganz überwiegend feindselig und vor den Gerichten ausgetragen werden, ist ein Phänomen, das wir aus den USA gut kennen. Dort hat es sogar einen eigenen Namen: adversarial legalism. Politikwissenschaftler aus verschiedenen europäischen Ländern beschäftigen sich derzeit mit der Frage, in welchem Umfang dieser justizialisierte Stil der Konfliktaustragung in Europa Einzug hält und wie diese Entwicklung zu erklären ist. Auch am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung arbeiten wir zu diesem Thema. Einige Forschungsergebnisse sollen im Folgenden präsentiert werden.

Der Begriff adversarial legalism bezeichnet in der Politikwissenschaft einen spezifischen Politik- und Konfliktlösungsstil. Sein wichtigstes Kennzeichen ist, dass das Rechtssystem systematisch als zweiter Kanal der Interessenvermittlung genutzt wird. Organisierte oder nicht organisierte gesellschaftliche Gruppen versuchen dabei, ihre Belange nicht nur auf dem politischen Weg durchzusetzen, indem sie zum Beispiel Lobbyarbeit betreiben, parlamentarische Gesetzgebungsprozesse beeinflussen oder direkt mit dem Staat verhandeln. Vielmehr werden ergänzend oder alternativ die Gerichte angerufen.

Daraus resultiert eine zentrale Rolle von Gerichten und Anwälten für den politischen Prozess. In dieser Konstellation wird es schwierig, verbindliche Entscheidungen zu treffen oder Konflikte zumindest vorübergehend zu befrieden, weil Interessengruppen immer wieder einen Anreiz haben, die Arena zu wechseln - vom politischen System ins Rechtssystem und zurück -, um vielleicht doch noch ein attraktiveres Ergebnis zu bekommen. Politische Auseinandersetzungen können dadurch jahrelang scheinbar ohne Lösungsmöglichkeit auf der Stelle treten.


Zehn Jahre Streit, Klagen und Streik

Beim Tarifkonflikt der Deutschen Bahn AG haben wir das genau so erlebt. Der Vorstand und die verschiedenen Gewerkschaften streiten seit annähernd zehn Jahren um einen eigenständigen Tarifvertrag für die Lokführer. Und dabei waren die Gerichte kontinuierlich involviert. Die GDL hat die Tarifpolitik der größeren Eisenbahnergewerkschaft Transnet jahrelang hart kritisiert und wollte eigenständig verhandeln. Im Jahr 2004 hat sie dann erstmalig für dieses Ziel gestreikt. Die Arbeitgeberseite und Transnet haben versucht, dies gerichtlich zu verhindern. Die GDL hat daraufhin vor den Arbeitsgerichten für ihre Anerkennung als tariffähige Gewerkschaft gekämpft und war damit auch erfolgreich.

Trotzdem kamen keine positiven Verhandlungen zustande. DB-Vorstand und Transnet zielten darauf ab, die GDL politisch zu isolieren. Letztere hat wiederum diverse der ohne ihre Beteiligung abgeschlossenen Tarifverträge beklagt. Im Sommer 2007 klagte nun die Arbeitgeberseite gegen ein Streikrecht der Gewerkschaft, allerdings erfolglos. Zudem fanden zahlreiche Kleinstklagen um Verfahrensfragen statt: Ob der Anwalt der GDL sein Faxgerät ununterbrochen empfangsbereit halten muss, damit Mitteilungen fristgerecht zugestellt werden können; oder in welchem Umfang GDL-Mitglieder im Streikfall zu Notdiensten herangezogen werden dürfen. Der Konflikt wurde im Zeitverlauf zunehmend antagonistisch (adversarial), da keine Situation entstand, in der die Parteien wirklich dazu gezwungen waren, miteinander zu verhandeln, weil es keine Handlungsalternativen mehr gab. Zudem wurde der Konflikt immer stärker in die Justiz hineinverlagert (legalism), weil dies für mindestens einen der beiden Kontrahenten attraktiver war, als eine politische Lösung anzustreben.

In den USA, wo das Phänomen der justizialisierten Interessenvermittlung schon sehr lange existiert, diskutieren Politikwissenschaftler seit einigen Jahren viel über seine Ursachen. Die zentrale Erklärung lautet, dass adversarial legalism dort entsteht, wo es die Strukturen des politischen Systems erschweren, Interessen und verbindliche Normen erfolgreich durchzusetzen und wo das Rechtssystem einen alternativen und attraktiven Kanal anbietet.

Worin liegen die Defizite der amerikanischen Politik? Wir Europäer nehmen die US-Regierung außenpolitisch als sehr handlungsfähig wahr, und der amerikanische Präsident gilt gemeinhin als der mächtigste Mann der Welt. Innenpolitisch stellt sich die Lage jedoch anders dar. Die Entscheidungsstrukturen des politischen Systems der USA sind stark fragmentiert und dezentralisiert. Die Zuständigkeiten sind horizontal und vertikal geteilt, zwischen den verschiedenen Regierungsorganen sowie zwischen dem Bund und den Einzelstaaten. Diese Struktur produziert Verhandlungszwänge und einen hohen Koordinationsbedarf. Und in vielen Politikfeldern ist der Federal Supreme Court, also der oberste Gerichtshof der USA, der einzige Akteur auf nationaler Ebene, der eine Regelung treffen kann, die für das gesamte Land verbindlich ist. Dies macht ihn als Adressaten für Interessengruppen so interessant.

Ein übersteigerter Pluralismus bei Parteien und Interessengruppen erschwert es zudem, Interessen auf politischem Weg durchzusetzen. In den USA spielen Parteien jenseits des Wahlkampfes keine große Rolle; sie weisen eher lockere Organisationsstrukturen sowie eine geringe Parteidisziplin auf. Dadurch ist die ideologische Ausdifferenzierung recht groß und die Parteispitze hat es schwer, den Prozess der Politikformulierung zu steuern. Das Gleiche gilt für das System der Interessengruppen. Es existiert eine Unzahl kleinster und konkurrierender Verbände und kein Korporatismus. Der Hyper-Pluralismus führt dazu, dass es keinen institutionalisierten Ort für die Vermittlung gesellschaftlicher Interessen gibt. Irgendeine kleine Gruppe ist immer unzufrieden und kann dann versuchen, sich vor dem Gericht durchzusetzen. Sie muss dabei nicht mehrheits- oder konfliktfähig sein, sie muss nur recht bekommen.


Wenn Gerichte neues Recht schaffen

Die Mängel des politischen Systems lassen sich aber nur dort auf dem Rechtsweg umgehen, wo das Rechtssystem eine attraktive Alternative anbietet, politische Interessen durchzusetzen. Auch hier sind die USA sozusagen mustergültig. Das amerikanische Rechtssystem ist ein Common-law-System, in dem die Gerichte nicht nur Recht anwenden, sondern durch ihre Urteile selbst neues Recht schaffen. Die Gerichte sind faktisch ein Zweig der Regierung, und aus diesem Grund wird das Richteramt als ein politisches Amt betrachtet. Selbst die Richter der unteren Instanzen werden gewählt, die parteipolitische Orientierung der Kandidaten ist im Regelfall transparent.

Doch nicht nur die Macht der Gerichte macht es attraktiver, interessenpolitisch den Rechtsweg zu beschreiten. Viele Verfahrensregeln ermuntern die Bürger sogar, vor Gericht zu gehen. Dazu zählt die Due Process Clause in der amerikanischen Verfassung. Sie garantiert, dass kein Bürger seiner Freiheit, seines Lebens und seines Eigentums beraubt werden darf, ohne dass ihm ein fairer Prozess gemacht wurde. Diese Regel hat im Verlauf der amerikanischen Geschichte als Basis für Millionen von Klagen gedient.

Zudem erlaubt die Sammelklage organisierten Interessengruppen oder Gruppen von Individuen, als Kollektiv zu klagen. Letzteres ist beispielsweise beim Thema Verbraucherschutz von Nutzen. Ein weiterer Vorteil: Das Risiko zu verlieren verteilt sich auf mehrere Personen. Ein Arbeitnehmer wird vor einem Prozess gegen seinen Arbeitgeber zurückschrecken, wenn er allein vor Gericht ziehen muss. Er wird eher dann klagen, wenn er mit Unterstützung seiner Gewerkschaft oder im Kollektiv mit anderen Beschäftigten auftreten kann.

Und nicht zuletzt gibt es eine Gruppe von Akteuren, die ein sehr individuelles Interesse an den Gerichtsverfahren haben: die Anwälte. Wegen des sehr lukrativen und erfolgsabhängigen Honorarsystems lohnt es sich für die Kanzleien, Auseinandersetzungen aktiv in das Rechtssystem hineinzuziehen und aggressive Prozesstechniken zu praktizieren, um zu gewinnen. Die Anwälte werden auch als Grund dafür gesehen, warum diese Strategie nach Europa schwappt. Multinationale Anwaltskanzleien amerikanischer Herkunft etablieren zunehmend Niederlassungen in Europa und bringen ihre heimatlichen Prozesstaktiken mit.

Was finden wir von diesen Merkmalen beim Konflikt in der Deutschen Bahn AG wieder? Eine ganze Menge. Ähnlich wie im politischen System der USA haben wir es mit einer Fragmentierung des tarifpolitischen Entscheidungssystems und mit einem zunehmenden Pluralismus zu tun. Generell gilt, dass der Staat, genauer die Regierung, nicht als zentraler nationaler Akteur in der Tarifpolitik agiert, und zwar aufgrund der verfassungsrechtlich garantierten Tarifautonomie der Verbände.


Homogenes Lohnniveau - wenig Konflikte

Dem aufmerksamen Beobachter und leidgeprüften Fahrgast wurde dies jeden Abend in der Tagesschau vorgeführt - dort antwortete Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee auf die Frage, wann denn die Regierung endlich mit der Faust auf den Tisch haue, nämlich fast gebetsmühlenartig, dass sie nichts machen könne.

Deutschland verzeichnete im Rahmen von Flächentarifverträgen trotzdem lange ein erstaunlich homogenes Lohniveau und gleichzeitig wenig Konflikte, weil die Verbände sowohl untereinander als auch jeweils in ihren eigenen Reihen steuernd und koordinierend gewirkt haben. Doch diese Zeit geht rapide zu Ende. Die Deutsche Bahn AG liefert dafür ein besonders ausgeprägtes Beispiel. Nach der Liberalisierung des Schienenverkehrs wurde die Lohnfindung faktisch dezentralisiert. Einen Flächentarif gibt es nicht, stattdessen existieren verschiedene Haustarifverträge nebeneinander.

In diesem Zusammenhang haben die Pluralisierung der Gewerkschaftsszene und die Konkurrenz zwischen Transnet und GDL stark an Bedeutung gewonnen. Dies ist auch in anderen Unternehmen der Branche so, wie die Beispiele der AKN Eisenbahn AG in Schleswig-Holstein und der öffentliche Nahverkehr zeigen, wo die Lokführer-Gewerkschaft mit ihrer aggressiven Politik zahlreiche Straßenbahn- und Busfahrer von der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di abgeworben hat. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung werden die Arbeitsgerichte zu zentralen Akteuren verbindlicher Normsetzung.

Auch im Rechtssystem gibt es Parallelen zu den USA, denn das deutsche kollektive Arbeitsrecht ähnelt dem amerikanischen common law. Der Korpus gesetzlicher Normen ist klein und die Bedeutung des Richterrechts groß. Gerade in den Bereichen, in denen bei der Deutschen Bahn AG gestritten wird - nämlich in der Anerkennung eines Arbeitnehmerverbands als Gewerkschaft sowie beim Arbeitskampfrecht -, gibt es kaum Gesetze: Diese Bereiche werden fast ausschließlich durch die Rechtsprechung geregelt. Die Arbeitsgerichte rücken dadurch ins Zentrum der Interessenvermittlung.

Auch die prozessrechtlichen Instrumente zeigen einige Parallelen zu den USA. Zwar existiert in Deutschland die Möglichkeit der Sammelklage nicht - und die meisten politischen Parteien lehnen diese Option auch aus Angst vor "amerikanischen Verhältnissen" ab. Dennoch kennt auch das deutsche Recht kollektiv handelnde Subjekte. Dies gilt insbesondere im Arbeitsrecht, weshalb das Rechtssystem von organisierten Interessen strategisch genutzt werden kann. Die kollektiven Klagerechte sind durch das sogenannte Verbandsklagerecht sogar noch ausgeweitet worden, nicht nur im Tarifrecht, sondern auch in anderen Rechtsbereichen.

Und was ist mit den Anwälten? Im deutschen Arbeitsrecht hat sich ein Markt für Fachanwälte entwickelt, die sich vorrangig als unabhängige und freie Unternehmer sehen. Das kommt daher, dass die Zahl der nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer stark gestiegen ist, die im Konfliktfall auf kommerzielle Anbieter von Rechtsdienstleistungen zurückgreifen. Außerdem engagieren auch die Gewerkschaften selbst immer häufiger externe Juristen, weil die Welt des Arbeitsrechts immer komplexer und für einen gewerkschaftlichen Syndikus kaum mehr zu überblicken ist.

Obwohl viele Kanzleien inzwischen auch offensive Marktstrategien verfolgen, hätte man bis zum Lokführer-Streik geglaubt, dass die aggressiven Anwälte amerikanischer Art im deutschen System fehlen. Erfolgsabhängige Honorare sind verboten, und selbst wenn es sie gäbe, würde ein Anwalt, der viel Geld verdienen will, niemals Arbeitsrechtler werden. Dennoch konnten wir auch beim Bahn-Konflikt die prozessprägende und aggressive Rolle der Anwälte erleben. Dies gilt insbesondere für den Anwalt der GDL, der zwar nicht einer multinationalen Kanzlei angehört, aber eine kleine Kanzlei in Frankfurt betreibt, die die amerikanischen Taktiken perfekt beherrscht.


Immer neue Akteure auf der Bühne

Allein das Verfahren vor dem Arbeitsgericht in Chemnitz hat zwölf Stunden gedauert, weil der Anwalt das Gericht mit stundenlangen Plädoyers, der Unterstellung einer Befangenheit des Berufsrichters und dem Reklamieren kleinster Versäumnisse als Verfahrensfehler angriff. Von beiden Seiten wurde hier sehr aggressiv mit formalen Rechtstechniken gearbeitet, sodass sich die Debatte weg von den inhaltlichen Streitfragen hin zu Fragen des strategischen Umgangs mit Formalia verlagerte. Letztlich entscheidet dann der rechtstechnisch gewieftere Anwalt über das politische Ergebnis.

Nun habe ich eingangs behauptet, dass wir es bei dem Konflikt in der Deutschen Bahn AG nicht mit einer skurrilen Ausnahmeerscheinung zu tun haben, sondern mit einem sich abzeichnenden Trend. Drei Gründe sprechen dafür, dass hier kein Einzelfall vorliegt. Erstens verlieren die Verbände in der tarifpolitischen Arena immer mehr Einfluss. Das wichtigste Steuerungsinstrument, der Flächentarif, erodiert und gleichzeitig gibt es immer mehr Akteure, insbesondere auf Gewerkschaftsseite. Die GDL ist nicht die erste Berufsgewerkschaft, die auf eigene Rechnung agiert - auch Piloten, Ärzte und Fluglotsen sind in eigenen Gewerkschaften organisiert -, und sie wird vermutlich auch nicht die letzte sein.

Zweitens führen die Gewerkschaften eine lebhafte Debatte, wie die Arbeitnehmerbewegung zu revitalisieren sei und wie Gewerkschaften wieder mobilisierungs- und konfliktfähiger werden können. Dabei orientieren sie sich strategisch an den Vorbildern der amerikanischen Gewerkschaften. Und für diese gehört adversarial legalism zu den Kerninstrumenten. In dem Maß, wie deutsche Gewerkschaften von ihren amerikanischen Kollegen lernen, wird die gerichtliche Interessendurchsetzung also auch in Deutschland an Bedeutung gewinnen. Dies kann man bereits beobachten. So hat die IG Metall eine Massenklage gegen die sogenannte Zwangsverrentung mit Rentenabschlägen von Hartz-IV-Empfängern angedroht. Dies dürfte nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, dass die Bundesregierung das Vorhaben wieder zurückzog.


Verdeckte politische Entscheidungen

Drittens weist dieses Beispiel bereits auf ähnliche Dynamiken in benachbarten Politikfeldern hin. So kann man im Gefolge der Hartz-IV-Gesetzgebung eine immer stärker anschwellende Klagewelle bei den Sozialgerichten beobachten, die darauf basiert, dass zahlreiche unzufriedene sozialdemokratische und gewerkschaftliche Ortsverbände - und in Ostdeutschland wohl auch die NPD - Rechtsberatungen für Hartz-IV-Empfänger anbieten.

Der Korporatismus, also die Beteiligung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen an politischen Entscheidungen, und die Selbstregelung der Verbände sind hierzulande in den vergangenen Jahren hart kritisiert worden, auch und vor allem in Bezug auf die Tarifparteien. Doch die Debatte über adversarial legalism in den USA und Europa hat gezeigt: Die korporatistische Interessenvermittlung einzuschränken hat Folgen, die demokratietheoretisch ebenfalls problematisch sind. In den USA wird die politische Entscheidungsfindung durch Gerichte als gegeben hingenommen. Richter sind politische Akteure und durch Wahlen demokratisch legitimiert. Gerichtliche Entscheidungsprozesse verlaufen relativ transparent und sind sehr gut öffentlich dokumentiert.

In Deutschland hingegen laufen politische Konflikte im Zuge ihrer Verlagerung in die Justiz ins Ungewisse: Dass Gerichte hier immer noch Gesetze lediglich implementieren, indem sie diese auslegen, ist ein Irrglaube. Auch hier treffen Gerichte politische Entscheidungen, aber die politischen Interessen dahinter sind nicht offenkundig. Die Vergabe von Richterposten ist weitgehend intransparent und seit Jahrzehnten der Kritik ausgesetzt. Richterliche Entscheidungen werden geheim und außerhalb jeder parlamentarischen Kontrolle getroffen. Ob dieser Politik- und Konfliktlösungsmodus demokratieverträglicher ist als der Korporatismus, ist fraglich.


Dr. Britta Rehder, 37, promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin über den Einfluss der Internationalisierung auf das deutsche System industrieller Beziehungen, nachdem sie an der Universität Hamburg Politikwissenschaft und Pädagogik studiert hatte. Seit 2002 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln und hat sich dort auf den Wandel der Arbeitsbeziehungen spezialisiert.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

> Mitte November legten die Lokführer drei Tage lang den Güterverkehr lahm - unter anderem auf Europas größtem Rangierbahnhof in Maschen.

> Früher haben die Tarifparteien ihre Konflikte in nächtelangen Verhandlungen beigelegt, heute treffen sie sich auch immer häufiger im Gerichtssaal.

> "Nervensägen des Jahres" nannte die Frankfurter Rundschau Hartmut Mehdorn und Manfred Schell. Dieser bereitet sich mit Rechtsanwalt Ulrich Fischer auf eine Gerichtsverhandlung vor (rechts).

> Über Anzeigen in Tageszeitungen versucht die Deutsche Bahn AG die GDL zum Einlenken zu bewegen. Bereits im August hatte Manfred Schell eigenhändig Stimmzettel der Urabstimmung zusammengetragen.


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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin
der Max-Planck-Gesellschaft 4/2007, S. 54-59
Hrsg.: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Februar 2008