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REDE/020: Zypries - Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Rede der Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries, zum Gesetzentwurf zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls vor dem Deutschen Bundestag am 24. April 2008 in Berlin:


Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Aufgrund zahlreicher Todesfälle bei Kindern, die auf Misshandlung und Verwahrlosung zurückgehen, haben wir im BMJ darüber nachgedacht, was wir tun können, um in Zukunft Kinder besser zu schützen und solche Taten zu verhindern. Wir haben einen Kreis von Praktikern aus den Familiengerichten, aus der Kinder-und Jugendhilfe und anderen Institutionen an einen Tisch geholt und beraten, was wir tun können. Wir haben dem Hohen Hause Vorschläge unterbreitet, die hier diskutiert wurden und die heute verabschiedet werden sollen.

Das Ergebnis unserer Arbeit hat drei Ziele:

Wir wollen erstens gerne, dass die Justiz in Zukunft früher eingeschaltet werden kann, dass man nicht warten muss, bis das Sorgerecht zu entziehen ist.

Wir wollen zweitens Richterinnen und Richtern künftig mehr Handlungsmöglichkeiten geben und ihnen die Chance eröffnen, breitere Entscheidungen zu treffen.

Wir wollen drittens für den Fall vorsorgen, dass das Gericht auf Antrag der Jugendhilfe keine Anordnung erlässt.

Diese drei Ziele erreichen wir durch drei konkrete Änderungen des Gesetzes:

Erstens. Wir senken die Voraussetzungen für ein Eingreifen des Gerichts. Das Gericht soll in Zukunft schon dann handeln können, wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist und die Eltern diese Gefahr entweder nicht abwenden können oder nicht abwenden wollen. Bislang war es zusätzlich nötig, dass man den Eltern ein Erziehungsversagen nachweist. Das war in der Praxis oft schwierig und hat die Jugendämter häufig davon abgehalten, die Justiz einzuschalten. Zukünftig soll also allein der Schutz des Kindes Maßstab für das Eingreifen der Gerichte sein.

Die zweite Gesetzesänderung betrifft die Handlungsmöglichkeiten. Bislang spricht das Gesetz nur von erforderlichen Maßnahmen. In der Praxis wurde darunter oft allein der Entzug des Sorgerechts verstanden. Wir stellen jetzt durch eine gesetzliche Änderung klar, dass das Gericht sehr viel mehr Möglichkeiten hat und dass man auch mit sehr viel milderen Anordnungen etwas für das Kindeswohl tun kann. Wir listen konkret auf, was unterhalb eines Entzugs des Sorgerechts geschehen kann. Zum Beispiel können Eltern verpflichtet werden, die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe zu nutzen. Für manche Eltern mag auch ein Antigewalttraining oder die Inanspruchnahme einer Erziehungsberatung eine sinnvolle Maßnahme sein.

All das soll künftig möglich sein. Ich meine, dass diese Rechtsänderung nicht nur im Interesse der Kinder liegt; denn die Trennung von Kind und Eltern, der Entzug des Sorgerechts, ist in der Regel die allerletzte Möglichkeit. Wir wissen, dass diese Möglichkeit unter erziehungspsychologischen Gesichtspunkten nicht die beste ist; denn das Aufwachsen in einer "schlechten Familie" ist für Kinder oft besser als ein Leben im Heim. Ziel unserer Maßnahmen ist es, unterstützend zu wirken. Wir wollen nicht kontrollieren. Wir wollen keinesfalls, wie manche Zeitungen vermuteten, die Familie entmachten. Vielmehr wollen wir eine konkrete, frühzeitige Hilfe ermöglichen. Bei manchen ist es nötig, den mahnenden Zeigefinger der Justiz zu erheben und zu sagen: Ihr müsst euch jetzt bewegen und etwas für euer Kind tun; sonst wird es kritisch. Um nichts anderes geht es: Wir schützen die Kinder, wir helfen den Eltern, wir wollen die Familien stärken.

Die dritte Rechtsänderung betrifft die Überprüfung der gerichtlichen Entscheidung. Unser Ziel ist es, Folgendes zu erreichen: Wenn ein Antrag vom Jugendamt gestellt wurde und das Gericht eine Entscheidung abgelehnt hat, dann sollen die Richterinnen und Richter nach drei Monaten noch einmal in die Akte schauen. Dadurch soll das Verhältnis zwischen Gericht und Jugendhilfe ein bisschen besser werden. Es ist wichtig, deutlich zu machen, dass die Jugendhilfe ruhig Anträge stellen kann; auch wenn den Anträgen nicht sofort nachgekommen wird, mag das in der Folge geschehen.

Wir können im Moment und hier nur die bundesgesetzlichen Voraussetzungen schaffen. Aber es ist erforderlich, dass die Länder, die die Kompetenz für den Vollzug der Jugendhilfe und die Einrichtung neuer Gerichte haben, diese Kompetenz nutzen und künftig die Voraussetzungen für eine bessere Zusammenarbeit der Jugendämter und der Familiengerichte schaffen. Das ist ein wichtiger Punkt, um den es uns geht; denn wir müssen eine bessere Verzahnung der Arbeit zwischen Gerichten und Jugendhilfe erreichen. Wir hoffen sehr, dass das Gesetz, das Sie heute verabschieden werden, dazu beiträgt.

Man kann sehen, dass es in einigen Ländern schon wirkt. Das Land Berlin nämlich hat diese Rechtsänderung zum Anlass genommen, um ein drittes Familiengericht in Berlin einzurichten. Das ist doch eine gute Nachricht, die deutlich macht, dass es funktionieren kann. Bund und Länder, Jugendämter und Justiz, alle können an einem Strang ziehen, und sie müssen an einem Strang ziehen, wenn es darum geht, Kinder in Zukunft besser zu schützen.


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Quelle:
Rede der Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries,
zum Gesetzentwurf zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen
bei Gefährdung des Kindeswohls vor dem Deutschen Bundestag
am 24. April 2008 in Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. April 2008