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STRAFRECHT/347: Sicherungsverwahrung ist kein Allheilmittel (MPG)


Max-Planck-Gesellschaft - 9. Oktober 2008

Sicherungsverwahrung ist kein Allheilmittel

Studie über gefährliche Straftäter belegt, dass Einsperren
über das Ende der Freiheitsstrafe hinaus Probleme aufwirft


Gefährliche Straftäter müssen damit rechnen, nach ihrer Haftstrafe in Sicherheitsverwahrung genommen zu werden. Was auf große Teile der Öffentlichkeit vor allem bei Sexualstraftätern beruhigend wirken mag, ist tatsächlich jedoch mit einer Vielzahl von schwierigen Problemen verbunden. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue am Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht begonnene und an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen abgeschlossene Studie über "Die Legalbewährung gefährlicher Straftäter". Ihr Autor Jörg Kinzig empfiehlt deshalb die Abschaffung zumindest der nachträglichen Sicherungsverwahrung.

Im Zentrum des Forschungsprojekts steht eine Analyse der kriminellen Karrieren von rund 500 so genannten gefährlichen Straftätern. Sie hatten vor allem Sexualstraf- und Gewalttaten begangen; aber auch Diebe und Betrüger fanden sich unter ihnen. Die Mehrheit war vorwiegend in den 80er Jahren neben einer längeren Freiheitsstrafe zu Sicherungsverwahrung, ein weiterer Teil nur zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Jörg Kinzig, langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg und nun Professor für Strafrecht an der Universität Tübingen, ist der Frage nachgegangen, wie sich das Schicksal dieser Personen in den letzten Jahren entwickelt hat.

Die Untersuchung liefert Hinweise darauf, dass die Gefährlichkeit von zu Sicherungsverwahrung verurteilten Personen deutlich überschätzt wird. So wurde bei fast der Hälfte (49,8%) der untersuchten Probanden die Sicherungsverwahrung schon einmal zur Bewährung ausgesetzt. Dies ist regelmäßig möglich, genauso wie grundsätzlich während der Sicherungsverwahrung alle zwei Jahre überprüft wird, ob der Straftäter nicht mehr gefährlich ist und entlassen werden kann. Die Mehrheit dieser Personen bewährte sich in Freiheit. Nur bei rund einem Drittel (35,1%) musste die Aussetzung der Sicherungsverwahrung widerrufen werden, wobei dies nicht immer auf die Begehung neuer Straftaten zurückzuführen war.

Für eine deutliche Überschätzung der Gefährlichkeit Sicherungsverwahrter spricht zudem der Umstand, dass von 22 Personen, die aus formal-rechtlichen Gründen in Freiheit entlassen werden mussten, obwohl sie als gefährlich angesehen wurden, bis zum Untersuchungszeitpunkt nur acht (rund ein Drittel) erneut straffällig wurden. Lediglich zwei dieser acht als gefährlich begutachteten Personen begingen dabei gravierende Straftaten, in einem Fall einen schweren Raub, im anderen Fall eine schwere Brandstiftung. Wenn aber ein beträchtlicher Teil oder gar die Mehrheit der Sicherungsverwahrten, entließe man sie nach ihrer Freiheitsstrafe, gar nicht schwer rückfällig würden, so sei die Legitimation der Sanktion Sicherungsverwahrung generell infrage zu stellen, meint Rechtswissenschaftler Jörg Kinzig. Ethisch problematisch sei nicht zuletzt der Umstand, dass ein anderer kleiner Teil der Sicherungsverwahrten zwischenzeitlich in den Gefängnissen verstorben ist, die Strafanstalten aber auf ein menschenwürdiges Sterben in Unfreiheit nur unzureichend vorbereitet seien.

Die gefundenen Ergebnisse sind vor allem deswegen von großer Bedeutung, weil der Gesetzgeber in den vergangenen zehn Jahren die Möglichkeit, Sicherungsverwahrung anzuordnen, erheblich ausgeweitet hat: War es bis Ende der 90er Jahre nur möglich, diese Maßnahme mit dem Urteil des über die Tat entscheidenden Gerichts im Zusammenhang mit einer längeren Freiheitsstrafe auszusprechen, gibt es mittlerweile auch eine vorbehaltene und eine nachträgliche Sicherungsverwahrung. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung wird unter bestimmten Voraussetzungen erst am Ende der Freiheitsstrafe verhängt, wenn man meint, die betreffende Person sei gefährlich. Sie ist quasi eine Art Freiheitsentziehung für (noch) nicht begangene Straftaten und beruht auf einer Prognose über die künftige Verhaltensentwicklung dieser Person. Zuletzt hat der Gesetzgeber im Sommer 2008 diese nachträgliche Sicherungsverwahrung auch nach Jugendstrafrecht eingeführt.

Für Jörg Kinzig erscheint denn auch ein "Sanktionenrecht ohne Sicherungsverwahrung" wie noch 1996 für möglich gehalten, inzwischen als "eine Utopie. Leider ist selbst die Abschaffung der nachträglichen Sicherungsverwahrung derzeit mehr als unwahrscheinlich", bedauert er. "Das ändert aber nichts daran, dass ihre kriminalpolitische Bilanz negativ ist und daher nur ihre Streichung empfohlen werden kann."
[GW/SB]


Originalveröffentlichung:
Jörg Kinzig
Die Legalbewährung gefährlicher Rückfalltäter
Zugleich ein Beitrag zur Entwicklung des Rechts der Sicherungsverwahrung
368 Seiten, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2008, 35 Euro


Weitere Informationen erhalten Sie von:
Dr. Gunda Wößner (Pressebeauftragte)
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg
Tel.: +49 761 7081-289
E-Mail: g.woessner@mpicc.mpg.de

Prof. Dr. Jörg Kinzig
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Strafrecht und
Strafprozessrecht, Tübingen Tel.: +49 7071 29-72549
E-Mail: kinzig@jura.uni-tuebingen.de


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Quelle:
MPG - Presseinformation G / 2008 (203), 9. Oktober 2008
Herausgeber:
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Oktober 2008