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PRESSE/608: Indien einmal ganz anders (Buddhistische Monatsblätter)


Buddhistische Montsblätter Nr. 3/2007, Juli - September
Buddhistische Gesellschaft Hamburg e.V.

Indien einmal ganz anders

Von Kyu-Sei Kurt Österle


Die Reise nach Indien, konkret nach Kalicut, also nach Südindien, war ausgeschrieben als "Einführung in das Klassische Indische Bogenschießen". Da mich der Bogen seit über zwanzig Jahren, übend und lehrend, begleitet, hat mich das Angebot spontan interessiert, ohne zu ahnen, was auf mich zukommen, welche Erschütterungen diese Reise auslösen würde und welche neuen Perspektiven sich daraus entwickeln könnten.

Unsere Gruppe bestand aus drei Personen und dem Leiter, alles geübte Bogenschützen. Ziel unserer Reise war das Kalari Hindustan Sangham in Kalicut, einer Stadt mit ca. 800.000 Einwohnern, direkt am Indischen Ozean.

Ein Kalari ist ein hinduistischer Sangham, in dem seit Generationen, die alten indischen Kampfkünste gepflegt werden. In unserem Fall eine Einrichtung, geleitet von drei Geschwistern, einer Frau und zwei Männern, in der Tradition ihres Vaters, bestehend aus dem Kalari, also dem Ort der Kampfkünste und einem ayurvedischen Massagezentrum.

Wir waren in einfachen Zweibettzimmern untergebracht, die Versorgung erfolgte - fast familiär - zusammen mit der Großfamilie. Das Essen war nicht nur köstlich, sondern bewahrte uns auch vor den sonst oft üblichen Magenbeschwerden und Durchfallerkrankungen.

Wenn uns in der Früh der Guru zur "meditation-practice" rief, waren wir schon längst wach, denn das Gebäude lag inmitten eines Palmenhains mit vielen urwaldartigen Geräuschen, Vogelgeschrei und ungewohnten Lauten.

Unsere "meditation-practice" wurde angeleitet von einem hinduistischen Priester, der jeden Morgen kam und eine hinduistische Zeremonie leitete, die von einem der beiden Gurus als eine Art Chakren-Meditation fortgesetzt wurde.

Während wir in unserer Übung saßen, war der "Betrieb" draußen im vollen Gang. Jeden Morgen, vor Beginn von Schule oder Arbeit, kamen andere Gruppen zur Übung. Kinder, Jugendliche, Erwachsene, hauptsächlich männlich. Sie übten sich in den Kampfkünsten mit Keulen, Lanzen, Säbeln. Unglaublich die Geschwindigkeit und Geschmeidigkeit der Abläufe und Bewegungen, faszinierend die erkennbare Kraft und Begeisterung.

Auch in der Massagepraxis war bereits Betrieb. Es wurden Fußmassagen verabreicht, was nicht zu verwechseln ist mit Fußzonenreflexmassagen. Es handelt sich vielmehr um eine Massage, die hauptsächlich mit den Füßen vorgenommen wird. Die Öle, die dabei verwendet werden, wurden aus ausgewählten Kräutern nach alten Rezepten selbst hergestellt. Ein ayurvedischer Arzt, der zweimal in der Woche ins Haus kommt, begleitet das Sangham.

Nach unserem Frühstück begann unsere Bogenpraxis im Kalari. Dazu muss man wissen, dass die Tradition des Bogenschießens in Indien fast gänzlich ausgestorben ist, da sie von den Engländern strengstens verboten wurde. So befanden wir uns in der spannenden Situation, dass der Leiter unserer Gruppe, der sich viel mit alten indischen Texten befasst hat und indisches Bogenschießen praktiziert, sozusagen eine alte Kultur wieder nach Indien brachte, um sie dort zu beleben. Wie groß das Interesse ist und die Bereitschaft, wieder an die alte Tradition anzuknüpfen, zeigt die Tatsache, dass nicht nur die Gurus und der engere Kreis der Übenden mit uns zusammen lernten, sondern auch, dass es zwei Fernsehteams gab, die Aufnahmen machten und eine Tageszeitung einen großen Artikel mit Bild über unsere Praxis veröffentlichte.

Aber nun zu unserer Übung mit dem Bogen. Im Unterschied zur abendländischen Form des Bogenschießens ist die indische Art - vom Yoga stammend - in den Übungsabläufen sehr unterschiedlich, also stehend, kniend, Haltung des Helden, aus der vollen Drehung, aus dem Lotus- oder Schneidersitz, vor allem aber sowohl rechts als auch links schießend und zwar unabhängig davon, ob Rechts- oder Linkshänder. Das Ganze geschmeidig, flexibel, leicht, fließend. Das war für mich eine völlig neue Erfahrung, und der Widerstand, Altes aufzugeben und mich auf Neues einzulassen, war sehr heftig. Nur langsam ahnte ich, dass die Übung des Loslassens eine gute Zenpraxis ist, aber ich erkannte auch schnell die große Bereicherung dieser Übungsform. Keine einseitige Belastung der Muskulatur, keine Inanspruchnahme nur einer Gehirnhälfte, eine Übung im Fluss, fast als Tanz ausgeführt, das war faszinierend.

An zwei Tagen waren wir unterwegs in die Berge und besuchten einen der wenigen indischen Bogenschützen, die es noch gibt. Inmitten einer Tee- und Kaffeeplantage in einem kleinen Dorf kam es zu dieser Begegnung. Die Bogen, mit denen wir üben durften, waren handgefertigt aus Bambus, und die Dorfbewohner waren beeindruckt von unseren kleinen mitgebrachten Reiterbogen. So entstand im Laufe des Tages eine richtige Bogengruppe aus Jung und Alt, Geübten und Ungeübten.

Unsere Fahrt ging weiter zu einem berühmten hinduistischen Heiligtum, einem Wallfahrtsort, an dem jeweils zu Vollmond der Ahnen gedacht wird. An einem Gebirgsbach entlang führt ein Pfad zu kleinen Bachmulden, an denen gebadet wird, um mit rituellen Gesten der Ahnen zu gedenken und gleichzeitig eigenes Karma abzutragen. Am Abend, als keine Einheimischen unterwegs waren, nahmen auch wir ein Bad zusammen mit unseren indischen Freunden. Am eigentlichen Festtag waren Hunderte unterwegs und ich erhielt von unserem Guru die Erlaubnis an der Prozession teilzunehmen. Das war zunächst recht aufregend, denn ich hatte keine Ahnung, wie man auf den einzigen Fremden reagieren würde. Aber die Blicke waren freundlich, die Augen leuchteten, manche fragten nach meinem Namen und meiner Herkunft. Überhaupt - religiöse Praxis hat dort viel mit Freude zu tun, mit Singen und Lachen.

Wenn ich heute auf diese Reise zurückblicke, gibt es ein paar Punkte, die mich neben vielen Erfahrungen besonders prägten:

Die große religiöse Toleranz. In unserer Nachbarschaft sahen wir am Abend eine Frau, die eine Art Gehmeditation in ihrem Garten ausführte. Aus einem Nachbarhaus ertönten regelmäßig Mantren, die voller Hingabe gesungen wurden, unsere Gurus pflegten eine hinduistische Tradition und aus der Ferne klang der Gebetsruf von der Moschee. Natürlich ist mir klar, dass diese multireligiöse Praxis auch ihre Probleme hat, aber beeindruckend war der freundliche, offene Umgang miteinander trotz unterschiedlicher religiöser Traditionen.

Da ich seit vielen Jahren in unserem Sangha eine Kombination von Zazen und Bogenschießen anbiete und deshalb von manchen schräg angeschaut wurde, war es sehr schön zu sehen, dass die Verbindung von Kampfkünsten und meditativer Praxis in Indien wohl seit tausenden von Jahren ganz selbstverständlich ist. Insofern wurde durch die Erfahrung dort bestätigt, was bei mir und vielen Übenden als hilfreich auf dem Weg erlebt wurde und wird.

Die große Schwierigkeit, alte Muster loszulassen, in meinem Fall mich zu befreien von über 20jähriger Bogenpraxis und mit Offenheit Neues zu erleben. So wurde der Anfängergeist wieder lebendig.

Die neue Art des Bogenschießens hat meine Übungspraxis verändert und ich erlebe mit Freude die Flexibilität und Dynamik des Schießens als große Bereicherung und bin dabei, dies unserem ganzen Sangha zu vermitteln.

Vor kurzem fragte mich ein Schüler: "Musstest du nach Indien fahren, um das zu lernen?"

"Ja," sagte ich, "ich musste nach Indien fahren, um dies für mich und für euch zu lernen."


Kyu-Sei Kurt Österle ist Zen-Meister und Lehrer von Zen und Bogenschießen und wird vom 21.-22. September zusammen mit seiner Frau in Hamburg sein. Er ist Autor des Buches "Wenn der Bogen zerbrochen ist, dann schieß", Barth-Verlag.


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Quelle:
Buddhistische Montsblätter Nr. 3/2007, Juli - September, Seite 22-25
Herausgeberin: Buddhistische Gesellschaft Hamburg e.V.,
Beisserstr. 23, 22337 Hamburg
Tel.: 040 / 6313696, Fax: 040 / 6313690
E-Mail: bm@bghh.de
Internet: www.bghh.de

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Abonnementspreis: 20,-- Euro jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juli 2007