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PRESSE/626: Interview mit Sherab Gyaltsen Rinpoche (Buddhismus heute)


Buddhismus heute 43 - Sommer 2007
Das Diamantweg-Magazin der Karma-Kagyü-Linie

Im Westen kommen immer mehr Menschen zu den Belehrungen

Ein Interview mit Sherab Gyaltsen Rinpoche
Oktober 2006 in Braunschweig


Mitte des Jahres 2006 besuchte Sherab Gyaltsen Rinpoche zum ersten Mal europäische Diamantwegzentren und gab Belehrungen und Ermächtigungen. Dieses Interview wurde während eines gemeinsamen Kurses zusammen mit Lama Ole Nydahl in Braunschweig geführt.

FRAGE: In den letzten Wochen kamen viele Leute zu deinen Belehrungen und empfingen Einweihungen von dir. Nicht alle hatten aber die Möglichkeit, dich persönlich zu treffen. Möchtest du etwas über dich erzählen, woher du kommst zum Beispiel?

SHERAB GYALTSEN RINPOCHE: Ich wurde in Nepal geboren, in einer Gegend namens Manang an der Grenze zu Tibet. Auf Tibetisch wird die Gegend Nyishang genannt.

FRAGE: Könntest du etwas über dein Leben erzählen? Wo hast du zum Beispiel deine Ausbildung bekommen?

SHERAB GYALTSEN RINPOCHE: Ich begann mein Dharmastudium, als ich acht Jahre alt war, und das hat eine Vorgeschichte: Im Alter von vier Jahren lebte ich bei meinen Eltern und wir hatten Vieh in den Bergen, das wir zur Tränke hinunterbringen mussten. Eines Tages regnete es während dieser Arbeit und ich fand ein Buch auf dem Boden. Obwohl ich noch nicht lesen konnte, war ich sehr glücklich darüber und nahm es mit. Daheim erzählte ich allen Leuten, dass ich ein Buch gefunden hätte und darüber so glücklich sei. Etwas war bei der Sache sehr ungewöhnlich: Das Buch war überhaupt nicht nass geworden, obwohl es geregnet hatte.

Meine Mutter nahm es an sich und zeigte es einem Mönch, der aus Samye Ling in Tibet kam. Sie fragte ihn, was es wohl bedeuten könne, dass ihr Kind das Buch gefunden habe. Der Mönch antwortete, dass es bestimmt etwas zu bedeuten habe, dass er es aber aufgrund seines mangelnden Wissens nicht interpretieren könne. Er empfahl, das Buch einem hohen Lama zu zeigen. Als dann die frühere Inkarnation von Shangpa Rinpoche in das Land kam, nahm mein Vater, der eigentlich krank war, mich zusammen mit dem in einen Katakh eingewickelten Buch auf seinen Rücken mit zu Rinpoche.

Mein Vater hatte zwei Anliegen und sagte: "Ich bin krank. Bitte mache ein Orakel, ob es etwas Ernstes ist. Und ich habe mein Kind mit gebracht, es hat dieses Buch gefunden. Bitte sage mir etwas darüber." Rinpoche schaute sich das Buch an, sagte aber nicht, um was für ein Buch es sich handelte. Er meinte nur, dass ich im Alter von acht Jahren anfangen solle, das Dharma zu studieren. Wenn ich das nicht täte, dann würde ich kein langes Leben haben. Zu der Krankheit meines Vaters sagte er: "Du wirst sterben, auch wenn dir 100 Lamas Langlebens-Einweihungen geben würden."

Als wir nach Hause kamen, sagte mein Vater zu meiner Mutter: "Unser Sohn soll, wenn er acht Jahre alt ist, das Dharma studieren, sonst wird er nicht lange eben. Merke dir das!" Er wollte meiner Mutter nicht sagen, dass er selbst bald sterben würde, um sie nicht traurig zu machen. Aber er erzählte es einigen anderen Leuten. Er starb, als ich vier Jahre alt war. Als ich acht wurde, begann ich, wie Shangpa Rinpoche es geraten hatte, das Dharma zu lernen. So kam es also dazu, dass ich bereits damals damit anfing.

Die ersten Jahre lernte ich lesen, schreiben usw. Als ich zwölf war, machte ich Grundübungen - Verbeugungen, Diamantgeist, Mandala-Schenkungen, Guru Yoga. Im Alter von 13, 14 und 15 folgte ich in verschiedenen Häusern der Sitte, nach der man von Leuten eingeladen wurde, um wichtige Texte zu lesen und verschiedene Pujas zu machen, und sie gaben einem dafür zu essen. Das tat ich über drei Jahre, und währenddessen lebte ich bei meiner Mutter.

Mit 15 Jahren reiste ich nach Rumtek, um Gyalwa Karmapa zu treffen. Zuerst ging ich zu dem alten Kloster, in dem Karmapa sich zu der Zeit aufhielt. Ich nahm Zuflucht bei ihm, wurde ein Mönch und blieb in Rumtek. Als das neue Kloster Rumtek fertig war, zogen wir dann alle dort hoch. Damals hatten wir dort noch keine Shedra, keine Schule. Die Hauptausbildung bestand darin, all die Tantras zu studieren. Wir lernten Bücher auswendig und übten Rituale wie Demchog, Phagmo usw. Das studierte ich über drei Jahre, auch wie man die Instrumente spielt, wie man Tormas macht und Mandalas zeichnet. All diese Fertigkeiten waren Teil der Studien.

Ein sehr wichtiger Lama namens Sangye Rinpoche gab uns die Lungs für all die wichtigen Texte wie Gyü Lama, Hevajra-Tantra usw. Er gab uns auch die wichtigsten Belehrungen über die Ebenen von Versprechen, Gampopas "Juwelenschmuck der Befreiung" und viele andere Texte. Als ich 16 Jahre alt war, nahm ich die Novizen-Ordination. Mit 18 begleitete ich Karmapa zum Swayambhu-Stupa nach Nepal. Zu jener Zeit gab es noch keine anderen großen Klöster in Nepal. Dort blieb ich und bekam wichtige Ermächtigungen von Karmapa - Rote Weisheit (tib.: Dorje Phagmo), "Höchste Freude" (tib. Khorlo Demchog) usw. - und nahm die volle Ordination. Normalerweise muss man dafür 20 Jahre alt sein, aber Karmapa sagte damals, dass Swayambhu ein so wichtiger Platz und es gut sei, die Ordination dort zu nehmen. Es passte auch astrologisch mit dem Mondkalender, denn alle drei Jahre muss man einen Monat addieren. Auch deswegen sagte Karmapa, dass es günstig sei.

Ich kehrte dann nach Rumtek zurück und bekam im Alter von 20 Jahren weitere Einweihungen von Karmapa "Eins erkannt, alles verwirklicht" (tib. Tschig She Kün Dröl), das Große Siegel usw. Danach hatte ich in Rumtek verschiedene Aktivitäten. Die Mönche lernten dort Verschiedenes, kümmerten sich um die anderen Mönche und hatten über die Jahre verschiedene Funktionen. Mit 28 Jahren ging ich in ein Retreat und danach zurück nach Nepal. Zu jener Zeit starb Karmapa. Ich war zuerst in Pokhara, dann zurück an meiner eigenen Stelle, und gründete schließlich einen Retreatplatz für die Nonnen. In meiner Zeit in Pokhara begann ich mit den großen Versammlungen zum Rezitieren von Mani-Mantras.

FRAGE: Du hast also Ordination vom 16. Karmapa empfangen und viel Zeit mit ihm verbracht. Könntest du etwas über diese Zeit und den 16. Karmapa selbst erzählen?

SHERAB GYALTSEN RINPOCHE: Gyalwa Karmapa ist ein sehr besonderer Lehrer, man kann seine Qualitäten gar nicht voll erfassen. Er hat eine ungehinderte Fähigkeit, Dinge zu verstehen. Da ich das selbst sehen konnte, hatte ich natürlich sehr starke Hingabe und Vertrauen in ihn.

An seine Qualitäten zu glauben und diese Art von Vertrauen zu haben, erfordert auch etwas Begründung. Zu jener Zeit war es eine von Karmapas Hauptaktivitäten, andere Wiedergeburten zu finden. Es kamen Leute aus verschiedenen Klöstern und sagten: "Unser Lehrer ist gestorben. Könntest du uns helfen, seine Wiedergeburt zu finden?" Karmapa war dann aus seiner Weisheit heraus fähig genau zu sagen, wo die Wiedergeburt stattfand, er kannte sogar die Namen von Vater und Mutter und das exakte Datum der Geburt des Kindes. Es gab nicht viele, die fähig waren, Tulkus zu finden. Zu jener Zeit war er einer der wenigen, das war eine seiner besonderen Aktivitäten. Fast alle Tulkus der Kagyü und Nyingma-Schulen wurden von ihm gefunden, auch einige Gelugpas und Sakyapas.

Hier eine Geschichte als Beispiel dafür, wie Karmapa war und inwiefern er alles wusste, was die Leute dachten. Ein mittlerweile leider verstorbener Sikkimese namens Khyenpa Gyaltsen lebte damals in Sikkim, und es kamen immer wieder Touristengruppen dort hin. Eines Tages brachte er eine solche Gruppe nach Rumtek, damit sie Karmapa sehen könnten, denn er wusste, wie wichtig Karmapa war. Karmapa saß in dem großen Raum in Rumtek auf dem Boden zwischen verschiedenen Vogelkäfigen. Manchmal verbrachte er seine Zeit in dieser Weise, dass er sich um die Vögel kümmerte und mit ihnen kommunizierte. Karmapa hatte etwa drei Vögel in jedem Käfig, und er wechselte das schmutzige Wasser aus, gab ihnen Futter und war vollkommen mit ihnen beschäftigt.

Diese Gruppe kam also herein, Khyenpa Gyaltsen stellte sie vor und erklärte ihr, dass dies der Karmapa sei. Karmapa sagte allen, sie sollen sich setzen und bat, dass man Tee für sie machen solle. Die Leute saßen also da und stellten manchmal Fragen. Karmapa war so sehr in seine Arbeit vertieft, dass er manchmal antwortete, manchmal aber auch einfach nur völlig beschäftigt war. Khyenpa Gyaltsen dachte: "Das ist irgendwie schade. Diese Leute kommen von so weit her, und Karmapa beachtet sie gar nicht richtig. Es wäre schön für sie, wenn er ihnen mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen wurde." Im gleichen Moment, als er das dachte, schaute ihn Karmapa an, lachte und sagte auf Tibetisch: "Warum übersetzt du der Gruppe nicht, was du gerade gedacht hast?" Er war so geschockt, dass er danach in Karmapas Gegenwart verzweifelt versuchte, überhaupt nicht zu denken. Ihm war klar, dass Karmapa genau wusste, was er dachte und was in seinem Geist vorging.

FRAGE: Trafst du Ende der 60er Jahre auch Hannah und Ole? Hast du Erinnerungen an sie?

SHERAB GYALTSEN RINPOCHE: Ja, wir trafen uns. Sie waren tatsächlich die ersten Westler, die ich sah. Zuerst kamen Touristengruppen, und einige kamen auch einfach nur aus Neugier. Aber unter den Leuten, die für das Dharma kamen und eine Verbindung zum Dharma hatten, waren sie wohl die ersten, die ich zu Karmapa gehen sah. Da ich kein Englisch verstand, konnte ich nicht mit ihnen reden. Aber sie waren die ersten, die ich dort sah.

FRAGE: Wir hörten auch, dass du Lopön Tsechu Rinpoche kanntest. Er besuchte regelmäßig unsere Zentren. Hast du Erinnerungen an ihn?

SHERAB GYALTSEN RINPOCHE: Ja, ich kannte ihn aus Nepal. Als ich 18 Jahre alt war und Karmapa sich in Swayambhu in Nepal aufhielt, war es Lopön Tsechu Rinpoche, der sich um alles kümmerte, und ich traf ihn dort. Einige Zeit lang sahen wir uns nicht so oft, aber später hatte Lopön Tsechu Rinpoche einiges in Swayambhu zu tun, und da lernten wir uns eigentlich sehr gut kennen, denn wir arbeiteten in Verbindung mit den Klöstern dort zusammen und wurden nahe Freunde. Einmal gründeten wir gewissermaßen gemeinsam ein Nonnenkloster, luden Shamar Rinpoche und den König und die Königin von Nepal dazu ein, und Lopön Tsechu Rinpoche arrangierte das alles.

Als ich 25 Jahre alt war, kam Kunu Rinpoche - ein sehr besonderer Lama aus West Indien. Er hatte einen Text über den Erleuchtungsgeist verfasst, reiste nach Nepal und lehrte über diesen Text. Wir bekamen gemeinsam die Erklärungen von diesem Lama.

In dieser Weise kannte ich Lopön Tsechu Rinpoche. Er war einer meiner Freunde, kein Lehrer, denn er kam aus einer anderen Linie. Er war Drukpa Kagyü, und ich Karma Kamtsang. Deswegen empfing ich keine Ermächtigungen, Übertragungen durch Lesen oder Erklärungen von ihm.(1)

(1) Anmerkung der Redaktion: Dies bezieht sich auf die ursprüngliche Ausbildung von Lopön Tsechu Rinpoche. Er erhielt später jedoch vom 16. Karmapa auch die Karma-Kamtsang-Übertragung.

FRAGE: Als buddhistischer Lehrer und Rinpoche hast du vielleicht viele Schüler und allgemein eine große Verantwortung. Was ist deine derzeitige Aktivität in Nepal?

SHERAB GYALTSEN RINPOCHE: Seit 1984 veranstalte ich mit den Schülern im ersten Monat des neuen Jahres die große Mani-Praxis. Das tue ich mittlerweile seit 22 Jahren. Zu dieser Praxis kommen viele Menschen, 1500 bis 2000. Es sind alles Laien-Praktizierende, sie kommen in der Mehrzahl aus Nyishang, aber es kommen auch viele Tibeter von überall sowie Leute aus verschiedenen Teilen Nepals. Wir machen zusammen die Praxis auf "Liebevolle Augen" und rezitieren gemeinsam die Mantras. Wir wollen 100 Millionen Mantras sammeln, aber es kann auch achtmal soviel werden, oder wie in diesem Jahr sogar zehnmal soviel - das sind eine Milliarde.

FRAGE: Du bist ein Dorje Lopön, ein Vajra-Meister, für Retreats. Was bedeutet das?

SHERAB GYALTSEN RINPOCHE: Es bedeutet, dass man die Ermächtigungen und Erklärungen für Leute im Retreat gibt. Ich hatte zuerst eine Retreatstelle für Nonnen gegründet und war drei Jahre lang Lehrer dort. Die Stelle war aber sehr schwer zu erreichen im Sommer regnete es, im Winter schneite es, die Flugzeuge konnten nicht landen, und es war ziemlich schwierig, dort alles zu organisieren. Wir konnten deshalb dort nur ein Retreat durchführen. Später starteten wir dann gemeinsam mit Shamar Rinpoche eine Retreatstelle in Parphing in Nepal, einem Guru Rinpoche Platz. Wir haben jetzt zwei Drei-Jahres-Retreats abgeschlossen. Das dritte fängt an, und ich bin Lehrer und Retreatmeister dort.

FRAGE: Was ist der Sinn eines Retreats?

SHERAB GYALTSEN RINPOCHE: Im Retreat verwendet man seine ganze Zeit für die Praxis, für die Meditation. Man fängt mit den Grundübungen an, zuerst die vier allgemeinen, dann die vier besonderen. Anschließend übt man verschiedene Guru Yogas, dann das Lodjong - Geben und Nehmen. Später kommt Shine, dann Lhagtong und danach eine Yidam-Praxis - Rote Weisheit. Wenn man diese abgeschlossen hat, kann man die Sechs Lehren Naropas und in Verbindung mit ihnen bestimmte Körperübungen praktizieren. Später kann man Yidams wie Höchste Freude, Allmächtiger Ozean und Oh Diamant üben. Man meditiert auch auf "Buddha des Grenzenlosen Lichtes", man lernt die Chöd Praxis und am Ende dann die "Weiße Befreierin", eine Langlebens-Praxis. Und zwei weitere Yidams, wovon einer Mitugpa (skt. Akshobya) ist. Im zwölften Monat des Jahres macht man drei Wochen lang die Praxis und die Mantras von Mahakala, und in der letzten Woche die große Mahakala-Puja. Innerhalb eines Retreats macht man das drei oder vier Mal, je nachdem wann das Retreat anfängt. Also mindestens drei Monate, manchmal vier Monate Mahakala-Praxis. Als ich im Retreat war, praktizierte ich es viermal, da wir das Retreat im Winter anfingen.

FRAGE: Wie kam die Idee auf, die Zentren in Europa zu besuchen?

SHERAB GYALTSEN RINPOCHE: Es war eigentlich nicht direkt mein Wunsch gewesen. Von meiner Seite aus hatte ich keine Pläne, den Westen zu besuchen, denn ich verstehe die Sprache nicht. Deswegen hatte ich nicht vor, das jemals zu tun. Ich dachte, dass ich nicht so nützlich sei, wenn ich die Sprache nicht verstehe. Lehren kann ich zwar mit einem Übersetzer, aber es geht ja nicht nur um das direkte Lehren, sondern auch um Austausch mit den Leuten. Wenn man kein Wort sagen kann, findet dieser Austausch nicht statt. Es schränkt die Kommunikation sehr ein, wenn man die Sprache nicht kennt. Ich hatte also nicht den Wunsch gehabt.

Aber dann wurde ich immer wieder eingeladen, und ab und zu kamen Leute nach Nepal und sagten mir, es sei gut zu kommen. Schon für letztes Jahr war ein Besuch in euren Zentren geplant. Da ich aber die Situation nicht richtig kannte und nicht richtig kommunizieren konnte, musste ich nach Belgien und das Visum passte nicht für die Reise. Deswegen klappte es letztes Jahr nicht, und ich kam erst 2006 zum ersten Mal in eure Zentren. Es geschah also, weil ihr mich eingeladen habt.

FRAGE: Was sind deine Eindrücke von Europa und den Praktizierenden hier?

SHERAB GYALTSEN RINPOCHE: Ich habe nicht alle Zentren gesehen, nur sechs oder sieben Stellen, aber ich denke, dass die Menschen sehr offen sind und dass sowohl die Leute, die die Zentren machen, als auch die Praktizierenden sehr für das Dharma motiviert sind. Sie sind sehr aktiv und sehr involviert, und ich mag das sehr. Ich habe bisher nichts gesehen, wovon ich sagen könnte, es wäre nicht gut.

FRAGE: Wie siehst du die Unterschiede in der Art zu praktizieren im Osten und im Westen?

SHERAB GYALTSEN RINPOCHE: Ich sehe einen großen Unterschied in der Herangehensweise an das Dharma. Wenn man sich Länder wie Malaysia, Taiwan usw. anschaut, dann sind die Leute dort sehr auf Rituale, Pujas, Ermächtigungen und Segen aus. Ich bin dort nicht viel gereist, aber als ich dort war, fiel mir auf, dass sehr viele Leute kamen, wenn ich am ersten Tag eine Einweihung gab. Wenn es dann am nächsten Tag ein anderes Programm gab, kamen weniger Leute. Und einen Tag später noch weniger Leute. Es kam nur noch die Hälfte, wenn ich länger blieb. Hier im Westen scheint es andersrum zu sein es kommen eigentlich immer mehr Leute. Je länger man hier ist, umso mehr Leute kommen.

FRAGE: Und wie verhält es sich in Indien und Nepal?

SHERAB GYALTSEN RINPOCHE: Es gibt dort natürlich viele Klöster, viele Lamas und viele Mönche und sie praktizieren Dharma. Aber im Allgemeinen haben die Leute einen anderen Ansatz. Sie wollen gerne Ermächtigungen und erwarten, dann mit verschiedenen Objekten gesegnet zu werden. Nach Erklärungen fragen sie tatsächlich nicht. Das ist generell im ganzen Osten so: Die Leute fragen nicht nach Anweisungen, nach der Bedeutung und nach Erklärungen. Das ist ein großer Unterschied zwischen Ost und West. Ich denke, dass es im Osten ein Fehler ist, nicht mehr in die Praxis zu gehen.

Im Westen sehe ich Entwicklung. Ich war vor 20 Jahren zum ersten Mal als Begleitung von Shamar Rinpoche hier. Zu der Zeit wurde Shamar Rinpoche bei Einweihungen gebeten, Erklärungen zu geben und es gab Fragen und Antworten. Aber seit damals hat sich die Qualität der Fragen der Leute sehr verändert. Damals lagen sie noch viel mehr im persönlichen Bereich, also über eigene Probleme und Fragen zu einem selbst, nicht so sehr in Verbindung mit dem, was eigentlich gelehrt wurde. Mir scheint, dass die Leute heute auch in ihren Fragen viel klarer sind. Wenn ich das "Große Siegel" lehre, drehen sich die Fragen um das "Große Siegel". Wenn ich über die Grundübungen lehre, wird über die Grundübungen gefragt. Die Fragen kommen mehr auf den Punkt. Hier sehe ich die Entwicklung im Westen.

FRAGE: Du hast viele Segens-Ermächtigungen gegeben. Was ist deren Bedeutung?

SHERAB GYALTSEN RINPOCHE: Man muss Segen-Ermächtigungen gegenüber einer "echten" Ermächtigung unterscheiden. Bei einer echten Einweihung haben sich Lehrer und Schüler kennen gelernt, eine Verbindung ist entstanden, der Lehrer kann sehen, ob der Schüler eine bestimmte Ermächtigung wirklich bekommen hat und die Praxis machen und sich auf diesem Weg entwickeln wird. Hier wird man auch sehr einbezogen, es ist eine Verpflichtung dabei. Dies wäre die eigentliche Bedeutung einer Ermächtigung, wie es sein sollte.

Die andere Art von Ermächtigung, die ihr gerade angesprochen habt, wird lange im Voraus groß ankündigt und es kommen viele Leute. hier ist es dann nicht möglich, solch eine Verbindung zwischen Lehrer und Schüler aufzubauen. Deswegen geht es dann mehr um einen Segen, kann man sagen. Natürlich werden positive Eindrücke in den Geist gepflanzt und Leute bekommen dadurch eine Verbindung mit Dharma. Es hat diese Qualitäten, aber es ist nicht wirklich eine Einweihung im eigentlichen Sinne.

FRAGE: Du bist ein Experte für Stupa-Bau. Was ist die Bedeutung eines Stupa?

SHERAB GYALTSEN RINPOCHE: Es gibt Repräsentationen für Körper, Rede und Geist des Buddha. Ein Stupa steht für Buddhas Geist. Wenn man einen Stupa gebaut hat, dann haben die Leute etwas, worauf sie sich beziehen und was sie nutzen können. Sie verwenden den Stupa, indem sie kommen und Wünsche machen, praktizieren und dem Stupa Geschenke darbringen. Das ist genauso, wie den Buddha selbst zu treffen. Es ist eine sehr wichtige Aktivität.

FRAGE: Wirst du wieder unsere Zentren besuchen?

SHERAB GYALTSEN RINPOCHE: Wir werden sehen. Ich habe im Osten viel Verantwortung und Aktivitäten. Wie gesagt: Im ersten Monat mache ich immer diese Hundertmillionen Mandalas. Wenn ich jedoch zurückkomme, werden wir Millionen von Mantras des "Buddha des Grenzen losen Lichtes" machen, und im Sommer sammeln wir dann viele Millionen Guru Rinpoche Mantras.

Es gibt einen Monat, in dem bei Hindu-Ritualen in Nepal viele Tiere geschlachtet werden, und in dieser Zeit machen wir dann "Liebevolle Augen"-Praxis.

Ich habe auch die Verantwortung für Retreatzentren und muss mich um diese kümmern. Nächstes Jahr wird es in Pokhara eine weitere Retreatstelle wie die in Parping geben, und man hat mich gebeten, diese beim ersten Retreat zu betreuen. Die Wiedergeburt von Dusing Rinpoche - er ist jetzt im gleichen Alter wie Karmapa wird daran teilnehmen. Ich werde ihn ausbilden, und wenn er alles gelernt hat, wird er die Leitung der Stelle übernehmen. Ich werde sie zwar nicht fortführen, aber ich habe für das erste Mal zugesagt. Das bedeutet also, dass ich nächstes Jahr zwei Retreatstellen betreue und zumindest für den Start Zeit brauche. Es wird zwei oder drei Monate im nächsten Jahr geben, in denen ich zeitlich flexibler bin und dann werden wir sehen, welche anderen Aktivitäten ich noch aufnehmen kann.

BUDDHISMUS HEUTE-REDAKTEUR: Vielen Dank für deine Zeit und die Antworten!


Aus dem Tibetischen ins Englische: Hannah Nydahl
Ins Deutsche: Detlev Göbel und Claudia Knoll


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Quelle:
Buddhismus heute 43, Sommer 2007, Seite 14-18
Herausgeber:
Buddhistischer Dachverband Diamantweg der Karma Kagyü
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. August 2007