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PRESSE/678: Die Koanschulung im Rinzai-Zen (Zenshin)


ZENSHIN - Zeitschrift für Zenbuddhismus, Nr. 2/07

Die Koanschulung im Rinzai-Zen

Von Dorin Genpo


Einer der am meisten missverstandenen Begriffe des Zen ist meiner Meinung nach das Wort 'Koan'. Im Westen kann kaum jemand etwas damit anfangen, weil uns hier die Erfahrung mit dieser Art der spirituellen Schulung fehlt. Es ist jedoch nicht so, dass kein Interesse bestünde und Literatur zum Thema wird reichlich angeboten. Doch die echten Meister, Roshi, die fähig und befugt sind, Dokusan, authentische Koan-Schulung, zu geben, trifft man außerhalb Japans sehr selten. Häufig ist die erste Frage der Neuen im Dojo nach 'ihrem' Koan. Sie können noch nicht sitzen, noch nicht atmen, kennen ihr Hara nicht und meinen, Kikai Tanden wäre ein Fahrrad. Doch sie wollen ein Koan lösen.

Man hat viel gelesen, macht sich Gedanken und Vorstellungen. Hört der Westler vom Koan, denkt er vielleicht schon an ein paradoxes Rätsel, an eine komische Begebenheit zwischen Lehrer und Schüler, an scheinbar belanglose Gespräche und Aussprüche der alten Zen-Meister. Gerne möchte er auch ein Koan bekommen, da er gerne denkt, seinen Intellekt - sein Gehirn - mit allem möglichen füttern möchte und sich beim Kreuzworträtseln besonders schlau vorkommt.

Er läuft auch von Workshop zu Workshop, von Seminar zu Seminar und zu Zen-Kursen, wenn 'für Fortgeschrittene' Koans angeboten werden. Dann hat der Teilnehmer Gelegenheit, mit dem Lehrer ein Gespräch zu führen, unterhält sich und glaubt, in die Koan-Schulung eingetreten zu sein. Man ergeht sich in intellektueller Spekulation und diskursivem Denken, verplappert die Zeit und vergeudet Energie. Am Ende der Veranstaltung hat vor allem das Ego profitiert und der eigentliche Sinn der Sache wurde ins Gegenteil verkehrt. So ist 'Koan-Schulung' im Westen im großen und ganzen bis heute praktiziert worden.

Dass der sinnvollen Koan-Arbeit jahrelange Vorbereitung, intensive Übungszeiten mit Zazen, Sutren-Rezitation, Unterweisung durch den Lehrer, Atem- und Hara-Training vorausgehen sollte, erscheint dem Westler meist unnötig. Zu anstrengend! Er hat auch oft wenig Verständnis dafür, dass eine Grundkenntnis der buddhistischen Lehre und das Einhalten der Silas und Zen-Regeln für seine Entwicklung sehr hilfreich sein kann. Oft reagieren Zen-Interessenten empört, wenn sie zu hören bekommen, dass sie noch kein Koan erhalten, weil sie noch nicht richtig sitzen können und ihre Atmung noch nicht genügend entwickelt ist. Beleidigt und verletzt reagieren viele, wenn ihnen gesagt wird, dass ihre Einstellung und Motivation für ernsthafte Zen-Schulung nicht ausreicht.

Zen ist heute sehr populär und viele Menschen glauben, Zazen sei gleich Zen. Sie sind stolz darauf, wenn sie es schaffen, sich stundenlang still hinzuhocken, und sie in ihrem Hirn ein großes Vakuum erzeugen können. Es ist jedoch ein Irrtum anzunehmen, es genüge, eine Technik oder äußere Form zu imitieren, um Zen zu verstehen. So ist es auch mit den Koan: Wer glaubt, durch Lesen, Denken, Reden auf diesem Gebiet etwas zu erreichen oder erreicht zu haben, irrt gewaltig. Zen ist kein Egotrip und jeder, der sich auf seine Zazen-Praxis etwas einbildet, 'sitzt ganz schön daneben'. Das Zen, das in Europa praktiziert wird, ist oft nur 'Zen im Stile des Zen' (vom 'christlichen Zen' ganz zu schweigen).

Wer Zen übt und sich selbst wirklich erforschen und kennen lernen möchte, muss auch einen triftigen Grund dafür haben. Ich möchte damit sagen, dass es sehr wichtig ist, sich darüber im Klaren zu sein, warum man übt und mit welcher Motivation man diesen Weg dann tatsächlich geht.

Für gut motiviert halte ich den Suchenden, der z.B. eine Art 'Überdruss' in sich verspürt: Überdruss mit der Welt, mit der Art, wie die Menschen mit dieser Welt umgehen, wie sie die Probleme dieser Welt angehen und wie sie sich und andere Lebewesen behandeln. Eine gute Motivation ist u.a. auch, wenn der Übende erkennt, dass alles Leiden und unbefriedigt sein als Ursache Gier, Hass und Unwissenheit hat. Wenn er erkennt, dass Gier, Hass und Unwissenheit das Leben der Menschen und sein eigenes bestimmt, und er dies ändern will, dann wird er nach geeigneten Wegen suchen und hoffentlich bei sich beginnen, schlechte Eigenschaften abzubauen. Glaubt er jedoch, dass alles, wie es bis jetzt auf dieser Erde gelaufen ist, in Ordnung ist und genau so weitergehen soll, braucht er kein Zazen. Ebenso überflüssig ist der Zen-Weg für Menschen, die keine Probleme haben.

Im alten China verstand man unter "Kung-an" (Koan) Gesetz, öffentlichen Aushang oder Regierungserlass. Mit der Zeit benutzte man das Wort für 'paradoxe' Begebenheiten, die sich zwischen zwei Zen-Menschen, z.B. Meister und Schüler, zutrugen, sowie für die Aussprüche der alten Zen-Meister. Ein Koan soll dem Übenden etwas aufzeigen, klar machen. Und so können wir feststellen, dass bereits in den Reden des Shakyamuni Buddha, den Sutren und anderen buddhistischen Texten 'Koan' enthalten sind, die in der Rinzai-Schule eingesetzt werden. Offiziell gibt es etwa eintausendachthundert Koan, aber alles in unserem Leben kann Koan sein und ist es auch, wenn wir uns nicht mit oberflächlichen Antworten zufrieden geben. Ein fähiger Meister setzt so den Schüler gelegentlich vor Aufgaben, die dieser sicher nicht in einer Koan-Sammlung nachlesen kann oder vielleicht schon kennt. Solche Aufgaben sind nicht mit herkömmlichen Lösungsstrategien zu bewältigen und führen auf gänzlich neue Erfahrungsebenen. Das 'Aufeinanderprallen' von Lehrer und Schüler kann man als "zwei Diebe, die sich in der Nacht begegnen, erkennen sich sofort" bezeichnen. Wie schade, wenn einer von ihnen schlaftrunken dahintorkelt! Im Rinzai-Zen ist die Koan-Schulung von herausragender Bedeutung. Hakuin Ekaku Zenji (1685-1768) ist eine der großen Persönlichkeiten des japanischen Buddhismus. Er gilt als Reformator des Rinzai-Zen und ist Schöpfer des Koan-Systems, das seither in der Rinzai-shu benutzt wird. Hakuins Humanität und Volkstümlichkeit machten ihn weit über die Grenzen seiner eigenen Schule beliebt. Er war hervorragender Literat und Kalligraph und hinterließ Werke von hohem Rang. Bis ins Alter von 42 Jahren widmete er sich ganz seiner Ausbildung und unterzog sich einer strengen Zen-Schulung. Dann ließ er sich in einem kleinen Tempel am Fuß des Berges Fuji nieder und begann seine Lehrtätigkeit und sein Engagement für das einfache Volk. Fast alle japanischen Rinzai-Zen-Meister stammen aus der Linie Hakuins.

Hakuin systematisierte die Koan-Schulung, indem er z.B. die Koan nach verschiedenen Schwierigkeitsstufen einteilte und die Reihenfolge festlegte. Außerdem kreierte er viele neue Aufgaben und 'Rätsel'. Eines seiner berühmtesten Koan ist, "der Ton der einen Hand". Es lautet: Wenn man zwei Hände zusammenschlägt, entsteht ein Ton. Welcher Ton entsteht mit nur einer Hand? Oder: Wie ist der Ton der einen Hand?

Traditionell findet die Koanschulung im Zenkloster statt. Während der Sesshin, Phasen intensiver Übung, müssen die jungen Mönche drei- oder viermal zu ihrem Meister, um in einem "unter vier Augen Gespräch" den Stand ihrer Erkenntnis darzulegen. [...] Begibt sich der Schüler vertrauensvoll in dieses bewährte System, wird sich seine Sicht der Dinge grundlegend ändern. Er kommt auf diese Weise einer Lösung seines Koan (oder seiner Probleme) ein Stück näher.

Im Folgenden möchte ich ein wenig auf den Ablauf der Koan-Schulung eingehen. Der Schüler hat bereits eine längere Phase grundlegender Ausbildung absolviert und kommt zum Dokusan in das Zimmer des Meisters. Er öffnet die Türe, macht mit gefalteten Händen (Gassho) eine tiefe Verbeugung, tritt ein, schließt die Türe und übt die dreifache Niederwerfung. Alsdann bleibt er vor dem Meister sitzen. Dieser fragt ihn vielleicht etwas und gibt ihm dann sein erstes Koan. Sehr häufig wird dem Anfänger die folgende Aufgabe gestellt.

Das erste Koan des 'Mumonkan' (Sammlung aus dem 13. Jahrhundert):
Ein Mönch kommt zu Meister Joshu und fragte ihn: "Hat ein Hund wirklich die Buddhanatur?"
Meister Joshu antwortete: "Mu".

Eventuell lässt der Meister den Schüler den Text wiederholen und sagt ihm dann, daß er beim nächsten Dokusan die Lösung (oder eine Antwort) vortragen soll. Darauf betätigt der Meister eine Glocke und der Schüler muss sich unverzüglich zurückziehen. Er beginnt, nach einer Antwort zu suchen.

Nach der buddhistischen Lehre ist allen Lebewesen die Buddhanatur zu eigen. Warum gibt Meister Joshu dann diese Antwort? Warum sagt er nicht "ja" oder "nein" oder "weiß nicht"? Dies hat der Schüler zu ergründen. Zuerst wird er vermutlich versuchen, die Lösung mit dem Verstand zu finden, und erst, wenn sich sein Denken erschöpft hat, wird er andere Lösungsmöglichkeiten in Betracht ziehen.

Befindet sich der Schüler in einer authentischen Ausbildung, wird er solange von seinem Meister zurückgewiesen, bis er die anfangs beschriebenen Verhaltensweisen aufgibt. Er wird beispielsweise erkennen, dass schlaues Reden und gewandte Ausdrucksweisen wenig hilfreich bei der Lösung seiner Aufgaben sind. Unter Anleitung seines Lehrers wird er Instinkt und Intuition wieder entdecken, er wird die tiefste Quelle menschlichen Daseins berühren.

Für den Außenstehenden mag dies alles hart und unfreundlich erscheinen, tatsächlich ist dem aber nicht so. Die Zen-Meister handeln aus Mitgefühl und Erbarmen und weisen so auch anderen Menschen den Weg zum großen Erwachen. Sie setzen die Koan als Hilfsmittel ein, entsprechend dem Charakter und den Fähigkeiten der Schüler. Manche Menschen benötigen kein oder ein oder viele Koan. Am Lehrer ist es nun, zu erkennen, was für seinen Schüler (oder 'sein Gegenüber') notwendig ist, ob und wie ein Koan, ein 'Kunstgriff', eingesetzt werden muss.


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Quelle:
ZENSHIN - Zeitschrift für Zenbuddhismus, Nr. 2/07, S. 37-39
Herausgeberin: Hakuin Zen Gemeinschaft Deutschland e.V. (HZG)
Burggasse 15, 86424 Dinkelscherben
Redaktion: Nanshu Susanne Fendler / Bunsetsu Michael Schön
Übelherrgasse 6, 89420 Höchstädt a.d.D.
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ZENSHIN erscheint halbjährlich.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. März 2008