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PRESSE/726: Die Geschichte Tibets (Chökor)


Chökor - Tibethaus-Journal, Ausgabe Nr. 42, April 2007

Die Geschichte Tibets

Von Tsewang Norbu


Nach der tibetischen Geschichtsschreibung entstand das erste Staatsgebilde Tibets im Jahre 127 vor Christus, als Nyatri Tsenpo, der erste König der Yarlung-Dynastie, die verschiedenen Stämme im Tsangpo-Tal unter seiner Herrschaft vereinte. Demzufolge ist der tibetische Staat heute 2134 Jahre alt. Es wäre töricht, von der Annahme auszugehen, dass irgendein Staat auf dieser Erde ununterbrochen für eine solch lange Zeitspanne die Geschicke seines Landes ohne zeitweilige Einwirkung fremder Mächte hätte allein lenken können. So stand Tibet auch in seiner über zweitausendjährigen Staatlichkeit zeitweise in wechselvollen Beziehungen zu Nachbarstaaten.


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Die Geschichte Tibets lässt sich ganz grob in 5 Perioden einteilen:

(1) Periode der Yarlung-Dynastie (127 B.C.-842 A.D.), 969 Jahre
(2) Periode des Zerfalls einer Zentralgewalt (842-1249), 407 Jahre
(3) Periode der geistlichen und weltlichen Familienherrschaft (1249-1642), 393 Jahre
(4) Periode der Herrschaft durch Reinkarnation (1642-1959), 317 Jahre
(5) Periode der chinesischen Herrschaft (1959-...), seit 48 Jahren


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Über die erste Hälfte der Yarlung-Dynastie ist uns sehr wenig überliefert worden. Fest steht, dass Bön die tragende Staatsreligion war, doch zur Zeit des 28. Königs, Lha Lhothori Nyentsen, soll Tibet stärker mit dem Buddhismus in Berührung gekommen sein. Spätestens zum Ende des 6. Jahrhunderts betrat Tibet endgültig die Bühne der Weltgeschichte, als infolge seiner Expansionspolitik Namri Songtsen mit den Nachbarländern in Berührung kam. Bereits unter seinem Sohn Songtsen Gampo (617-649), dem 33. König dieser Dynastie, stieg Tibet zu einer großen militärischen und politischen Macht im Zentralasien auf deren Autorität und Einfluss weit über die Nachbarländer hinausreichte. 200 Jahre lang übte Tibet in Zentral-, Ost- und teilweise sogar im Südasien Hegemonie aus.

Songtsen Gampo heiratete neben seinen tibetischen Gemahlinnen zwei ausländische Prinzessinnen, zuerst Brikuti aus Nepal und später Wencheng aus China. Sie waren beide glühende Verehrerinnen des Buddhismus und brachten aus ihrer Heimat buddhistische Geistliche, heilige Schriften, Statuen, Künstler etc. mit. Unter ihrer tatkräftigen Mitwirkung entstanden in der neuen Hauptstadt Lhasa die Kathedralen Ramoche und Tsuglagkhang. Während seiner Herrschaft wurde die tibetische Schrift entwickelt, buddhistische Texte wurden aus dem Sanskrit ins Tibetische übersetzt, Gewicht und Maß standardisiert und ein Kodex verkündet, der aus 16 allgemeinen ethisch-moralischen Verhaltensregeln bestand.

Tibet erreichte den Höhepunkt seiner politischen und militärischen Macht unter dem 37. König Trisong Detsen (755-797). Der Buddhismus hatte sich gegenüber der Bön-Religion durchgesetzt und wurde zur Staatsreligion erhoben. Militärische Operationen erstreckten sich weit in das Territorium der Nachbarländer. Besonders für China bildete Tibet eine permanente Quelle der Unruhe. Im Verlauf der häufigen militärischen Unternehmungen eroberte die tibetische Armee 763 die damalige chinesische Hauptstadt, Changan (heutige Xian), und setzte den Bruder der chinesischen Gattin des vorangegangenen tibetischen Königs als Kaiser von China ein.

Militärische Operationen wurden auch unter der Herrschaft des 40. Königs, Tri Rälpachen (815-836), fortgesetzt. Dabei gingen die Tibeter fast immer als Sieger hervor. Auf Vermittlung buddhistischer Geistlicher beider Länder wurde im Jahre 821 zwischen Tibet und China ein Friedensvertrag abgeschlossen, dessen Text in Tibetisch und Chinesisch auf einer Steinsäule in Lhasa heute noch erhalten geblieben ist. Die Förderung des Buddhismus durch den Staat und der Einfluss der buddhistischen Geistlichen erreichten ihren absoluten Höhepunkt. Umfangreiche Neuübersetzungen der buddhistischen Schriften wurden durchgeführt, sowie alte Übersetzungen revidiert und schließlich kanonisiert.

836 fiel König Tri Rälpachen einem Mordanschlag der antibuddhistischen Fraktion zum Opfer. Es ist überliefert, dass Langdarma, der ältere Bruder des Königs, und viele mächtige Adlige, welche an der alten Bön-Religion festhielten, die intensive Förderung des Buddhismus durch den Staat missbilligten. Langdarma bestieg den Thron, verbot die buddhistische Religion und ließ ihre Anhänger eliminieren. So war es kein Zufall, dass Langdarma 842 von einem buddhistischen Mönch ermordet wurde. Mit seinem Tode fand gleichzeitig aber das tibetische Großreich auch sein Ende.

Während der nächsten 400 Jahre zerfiel Tibet in zahlreiche Fürstentümer, die sich zum Teil heftig gegenseitig befehdeten. Nie wieder sollte Tibet seine einstige militärische und politische Vorherrschaft in Zentralasien zurückerlangen. Ein interessantes Merkmal dieser Dynastie war es, dass der Herrscher nur ein "primus inter pares" war. Selbst auf dem Höhepunkt ihrer Macht im 8. Jahrhundert scheint diese Dynastie keine absolutistische Monarchie gewesen zu sein.

1042, mit der Ankunft des großen indischen Gelehrten Atisha (980-1055) in Westtibet - eingeladen durch den westtibetischen König Yeshe Ö -, begann der Buddhismus wieder aufzuleben. Im Zuge dieser Renaissance wuchs die politische Bedeutung religiöser Führer. Anfang des 13. Jh. vermochte der berühmte Gelehrte Sakya Pandita Kunga Gyältsen (1182-1251) der Sakya-Schule des tibetischen Buddhismus zur einflussreichsten Persönlichkeit in ganz Tibet aufzusteigen. Sein Ruhm lenkte sogar die Aufmerksamkeit des Herrschers des entstehenden mongolischen Weltreiches auf sich. Mit Unterstützung der Mongolen gelang es Sakya Pandita, Tibet unter der Herrschaft der Sakyapas zu vereinen. Mit ihm nahm in Tibet somit das Herrschaftssystem der Hierarchen seinen Anfang, in dem die weltliche und religiöse Macht des Staates in der Person der Hierarchen nach dem Erbprinzip verschmolzen war. Der mongolische Prinz Godan Khan, ein Enkel des berühmten Tschinggis Khan, setzte 1249 Sakya Pandita als Vizekönig von Tibet ein.

Mit Sakya Pandita begann Tibet statt äußeren militärischen und politischen, nun "inneren", geistigen Einfluss auf die Herrscher seiner Nachbarländer zu nehmen. Tibets Einfluss auf seine Nachbarländer war nun subtiler und auch beständiger geworden. Sein Neffe und Nachfolger, Drogön Chögyäl Phagpa (1235-1280), vermochte durch sein Charisma und seine Gelehrsamkeit Kublai Khan (1216-1295), den späteren Kaiser des mongolischen Weltreiches, so zu beeindrucken, dass dieser ihn 1253 zum weltlichen Herrscher über Tibet und 1263 zum kaiserlichen Lehrer (Dishi) erhob. Unter Drogön Chögyäl Phagpa wurde die Verwaltung Tibets vollständig reorganisiert. Dank des besonderen Einflusses der Sakya-Hierarchen auf die mongolischen Kaiser erfreute sich Tibet einer Sonderstellung innerhalb des mongolischen Weltreiches.

1350 löste Jangchub Gyältsen aus dem Phagdru-Adelsgeschlecht die Herrschaft der Sakya-Hierarchen faktisch ab. Da ihr Patron, die mongolische Yuan-Dynastie, in China bereits dem Untergang geweiht war, kam sie nicht umhin, sich mit der vollendeten Tatsache abzufinden. Mit dem Erlöschen des Amtes des kaiserlichen Lehrers im Jahre 1358 war die nationale Erneuerung Tibets auch formell perfekt.

Die Phagdru-Dynastie ließ die Traditionen und den Ruhm der einstigen Yarlung-Dynastie wiederaufleben. Jangchub Gyältsen reorganisierte die Verwaltung und erließ einen Kodex von 13 Regeln für die Prozessordnung und Bestrafung, welcher auf den 16 ethisch-moralischen Verhaltensregeln des Songtsen Gampos beruhte. Insgesamt regierten elf Phagdru-Herrscher nur 78 Jahre lang über Tibet, bevor sie 1436 ihre Macht an die Ringpung-Adelsfamilie verloren.

Doch schon vier Generationen später riss einer ihrer Minister im Jahre 1566 die Herrschaft an sich und rief in Shigatse die Dynastie der Tsangpa-Könige aus. Auffallendes Merkmal der Herrschaftsperiode dieser drei weltlichen Dynastien (1358-1642) war neben der Restauration des tibetischen Königtums die enge Bindung zur Kagyü-Schule und am Ende zur Karma-Kagyü-Unterschule des tibetischen Buddhismus. Außenpolitisch gesehen war es eine Periode des Stillstandes und der Zurückhaltung.

Nach dem Sturz der mongolischen Yuan-Dynastie stand China von 1368 bis 1644 unter der Herrschaft der Ming-Dynastie. Der Ming-Kaiserhof nahm sehr schnell Beziehungen zu tibetischen Geistlichen auf, indem er den prominentesten unter ihnen aus den verschiedenen Schulen Titel verlieh und sie auch nach China einlud. Wie andere Völker Asiens waren auch die Tibeter stets von dem Nimbus der chinesischen Kultur und dem Glanz der kaiserlichen Herrlichkeit fasziniert. Viele der tibetischen Geistlichen waren geradezu davon besessen, die hohe Gunst des Kaiserhofes in Beijing zu gewinnen, denn dies hatte neben einem Prestigegewinn innerhalb der tibetischen religiösen Hierarchie auch einen handfesten materiellen Anreiz. Und gerade hierin liegt der Keim für die spätere Tragödie Tibets, da die Chinesen es meisterhaft verstanden haben, die Beziehungen und die Politik der Titel-Verleihung an tibetischen geistlichen Würdenträger in eine Abhängigkeit Tibets zu China umzudeuten. Auch die nachfolgende Dynastie setzte die Politik der Titel-Verleihung fort. Der Wert der kaiserlichen Schenkungen überwog bei weitem den Wert des "Tributs" an den Hof. Dass es sich bei den häufigen Besuchen tibetischer Geistlicher am Kaiserhof in Beijing nicht um Tributgesandtschaften gehandelt hat, sondern primär um Prestigegewinn und wirtschaftliches Interesse, bestätigen indirekt die zahlreichen Eingaben des kaiserlichen Fiskus an den Kaisern, die Häufigkeit und die Mitgliederzahl solcher "Gesandtschaften" drastisch einzuschränken.

In den chinesischen Annalen werden diese häufigen Besuche tibetischer Geistlichen jedoch als "Tribut-Gesandtschaft" bezeichnet und somit wird der Eindruck erweckt, als ob Tibet dem Ming-Kaiserhof tributpflichtig gewesen wäre. Die immer wiederkehrenden Klagen des kaiserlichen Fiskus in den Ming-Annalen über diese Tribut-Gesandtschaften führen aber solche Behauptungen Chinas ad absurdum. In Wirklichkeit gibt es in der Geschichte keinen stichfesten Beleg dafür, dass sich irgendwann einmal ein weltlicher Herrscher Tibets formell den Ming-Kaisern unterworfen hätte. Auf der faktischen Ebene sieht es nicht anders aus. Der Ming-Kaiserhof übte weder Autorität noch Einfluss auf die weltlichen Herrscher Tibets aus.

Gewaltige innenpolitische Unruhen und starke Rivalitäten zwischen den verschiedenen Schulen des tibetischen Buddhismus um die Gunst der weltlichen Machthaber (und umgekehrt) kennzeichneten die allgemeine Lage Tibets in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Neben der Sakya- und Kagyü-Schulen gewann nun die Gelug-Schule unter den Tibetern und Mongolen zusehends an Ansehen und Macht.

Die Anhänger der Sakya- und Gelug-Schulen wurden zunächst in Tibet einer starken Unterdrückung durch die Tsangpa-Könige ausgesetzt, die bekanntlich Förderer der Karma-Kagyü-Unterschule waren. Aus diesem Grunde bat der V. Dalai Lama, Ngawang Lobsang Gyatso (1617-1682), den mächtigen Mongolen-Fürsten des Qoshot-Stammes, Gushri Khan (1584-1656), um Beistand. Gushri Khan, der wie die meisten Mongolen seiner Zeit Anhänger der Gelug-Schule war, eilte herbei und besiegte 1642 den Tsangpa-Herrscher. Anschließend erhob er den V. Dalai Lama zum obersten geistlichen und weltlichen Herrscher über ganz Tibet. Der Khan nahm die Aufgabe der Landesverteidigung in die eigene Hand und ernannte sich selbst zum nominellen König von Tibet. Diesen Titel vererbte er später seinen Nachfolgern. Darüber hinaus führte Gushri Khan das Amt eines Regenten neu ein und verbrachte selbst lieber die meiste Zeit in seiner fernen Heimat am Kokonor-See. Als Gushri Khan 1656 verstarb, wurde der V. Dalai Lama alleiniger Herrscher über Tibet, obwohl das Amt des "Titular-Königs von Tibet" formell noch bis 1717 fortbestand.

Der V. Dalai Lama zeichnete sich durch große Gelehrsamkeit, politische Scharf- und Weitsichtigkeit sowie durch große Entschlossenheit und Charakterstärke aus. Er verlegte den Sitz seiner Regierung von Shigatse nach Lhasa, ließ den Potala-Palast erbauen und führte einen revidierten Gesetzeskodex ein.

Zudem institutionalisierte er die Herrschaft durch Reinkarnation und errichtete somit das einzigartige Regierungssystem, in welchem sowohl die geistliche als auch die weltliche Macht in der Person des Dalai Lama vereint wurde. Diese so genannte "Herrschaft des Ganden Phodrang" dauerte von 1642 bis zum Nationalaufstand im März 1959. Prinzipiell kann man sagen: Da die Tibeter Chinas Herrschaft über Tibet nicht anerkannt haben, besteht die legitime Regierung Tibets unter dem XIV Dalai Lama im Exil auch heute noch fort.

Das Bündnis zwischen dem V. Dalai Lama und Gushri Khan wird von den Tibetern, wie früher schon im Falle der Sakya-Hierarchen und den mongolischen Yuan-Kaisern, als Priester-Patron-Beziehungen bezeichnet. Hierbei gewährleistet die säkulare Gewalt ihre weltliche Unterstützung als Gegenleistung für den geistigen Beistand seitens der kirchlichen Gewalt. Dieses spezielle zentralasiatische Beziehungsmuster, das später auch zwischen den Dalai Lamas und den Mandschu-Kaisern der Qing-Dynastie weiter bestand, ist jedoch sehr flexibel und lässt sich schwer in das Vokabular der modernen westlichen Staats- und Rechtslehre übertragen. Es wird in ihm nichts eindeutig und endgültig bestimmt, was auf die Oberherrschaft des einen Verbündeten oder die Unterordnung des anderen hinzielt. Aus diesem Grunde lassen sich die Auswirkungen dieser Priester-Patron-Beziehungen in der Praxis nur im Zusammenhang mit den jeweiligen historischen Gegebenheiten erläutern. Zu den geschickten bündnispolitischen Schachzügen des V. Dalai Lama gehört zweifelsohne sein Staatsbesuch in China im Jahre 1652.

Der Dalai Lama verfolgte bei der Annahme der wiederholt ausgesprochenen Einladung nach Beijing innenpolitische Ziele. Für Shunzhi, den ersten Mandschu-Kaiser der Qing-Dynastie (1644-1911), spielten sicherlich in erster Linie außenpolitische Überlegungen eine Rolle. Die guten Beziehungen zum Dalai Lama, der unter den Mongolen großen Einfluss besaß, halfen dem Mandschu-Kaiser, die Bedrohung seitens der Mongolen abzuwenden. Noch sind insbesondere die westmongolischen Dschungaren eine ernstzunehmende und aggressive Bedrohung für das neu gegründete Mandschu-Reich. In den letzten Jahren seiner Herrschaft stand dem V. Dalai Lama bei der Ausübung seiner Regierungsgeschäfte ein fähiger Mönchgelehrter Namens Sanggyä Gyatso zur Seite, welcher schon bald der mächtigste Mann im ganzen Land werden sollte. 1679 wurde Sanggyä Gyatso zum Regenten erkoren. Nach dem Tode des V. Dalai Lama im Jahre 1682 gelang es dem Regenten zum unangefochtenen Herrscher Tibets aufzusteigen, da die Titular-Könige von Tibet, d.h. die Nachfolger Gushri Khans, allesamt schwach waren. Dies sollte sich aber mit dem ehrgeizigen Lhabzang Khan, dem 6. und letzten Titular-König Tibets (1697-1717), bald ändern.

Lhabzang Khan, der 1697 sein Amt antrat, begnügte sich nicht wie seine Vorgänger damit, nur nomineller Herrscher Tibets zu sein, sondern wollte auch die faktische Macht an sich reißen. Bei diesem Vorhaben standen ihm jedoch der mächtige Regent Sanggyä Gyatso und der noch minderjährige VI. Dalai Lama im Wege. Erst im Jahre 1705 gelang es Lhabzang Khan den Regenten zu eliminieren. Anschließend ließ er den jungen Dalai Lama mit der Begründung festnehmen, dass dieser, wie sein ausschweifender Lebenswandel beweise, nicht die richtige Reinkarnation sei. Er veranlasste, ihn nach China zu deportieren. Auf dem Weg dorthin kam der VI. Dalai Lama 1706 um, wahrscheinlich nicht ohne fremde Einwirkung. Die Nachricht vom Tode des VI. Dalai Lama löste eine Welle der Entrüstungen unter den Tibetern aus. Auch die westmongolischen Dschungaren und die Mongolen am Kokonor-See gerieten darüber sehr in Zorn. Lhabzang Khan hatte die Einstellung der Tibeter gegenüber ihrem als Libertin geltenden jungen VI. Dalai Lama vollkommen falsch eingeschätzt. Nun geriet er in akute Bedrängnis. Zwischenzeitlich hatten die Tibeter einen 1708 in Lithang/Ost-Tibet geborenen Knaben ausfindig gemacht, den sie als den VII. Dalai anerkannten. Lhabzang Khan hingegen präsentierte den Tibetern einen 25-jährigen Mönch (mutmaßlich sein eigener Sohn), als den wahren VI. Dalai Lama. Auf Wunsch von Lhabzang erkannte der Mandschu-Kaiser Kangxi ebenfalls diesen Mönch als den wahren VI. Dalai Lama an.

Diese Einmischung eines Fremden in ihre religiösen Angelegenheiten erboste die Tibeter so sehr, dass sie sich gegen den Khan erhoben. In seiner Not suchte Lhabzang Khan Hilfe beim Mandschu-Kaiserhof. Kangxi sah eine willkommene Gelegenheit, endlich seinen Einfluss in Tibet zu etablieren und sagte Hilfe zu. Er entsandte aber keine Militärhilfe, sondern lediglich ein Beraterteam nach Lhasa. Kangxi wollte sich nicht überstürzt auf die Seite des Verlierers stellen und zog es lieber vor, zuerst abzuwarten. Inzwischen hatten die Tibeter schon heimlich mit den Oirat-Dschungaren Kontakt aufgenommen. Sie baten um militärischen Beistand, den verhassten Lhabzang Khan zu eliminieren und den jungen VII. Dalai Lama von Lithang nach Lhasa zu geleiten. Daraufhin stieß eine 6000 Mann starke Dschungaren-Armee nach Lhasa vor und ermordete 1717 Lhabzang Khan, den letzten mongolischen Titular-König von Tibet. Als die Tibeter aber merkten, dass die Dschungaren außerstande waren, dem jungen VII. Dalai Lama von Ost-Tibet nach Lhasa Geleitschutz zu bieten, fühlten sie sich getäuscht. Und als die Dschungaren dann auch noch begannen, die heiligen Stätten Lhasas als Kriegsbeute zu plündern und die Bevölkerung zu schikanieren, schlugen die verletzten Gefühle der Tibeter in Hass um. Der Mandschu-Kaiser Kangxi, der Lhabzang Khan aber bisher nur verbale Unterstützung hatte zukommen lassen, wusste die Gunst der Stunde zu nutzen. Er erkannte nun den jungen Knaben in Lithang als den VII. Dalai Lama an und schickte 1718 eine Militär-Expedition nach Tibet; sie wurde jedoch kurz vor Lhasa von den Dschungaren aufgerieben.

1720 kämpfte sich dann eine noch stärkere Mandschu-Armee den Weg nach Lhasa frei. Doch zu spät: Die Tibeter hatten die Dschungaren nun bereits selber geschlagen. Allerdings vermochten sich die Mandschus des jungen Dalai Lama zu bemächtigen und brachten ihn nach Lhasa. Nun wurden die Mandschus als Retter Tibets, Wiederhersteller des Friedens und Überbringer des neuen Dalai Lama gefeiert.

Allerdings dachten die Mandschus nicht daran, Tibet freiwillig zu verlassen, sondern blieben dort. Und somit geriet Tibet zwischen 1720 und 1911 zeitweise in ein Abhängigkeitsverhältnis zur Mandschu-Dynastie. Jeweils für einen kurzen Zeitraum übten die Mandschus starken Einfluss auf die Regierung Tibets aus, und zwar unmittelbar nach ihrer Intervention im Jahre 1720, nach dem tibetischen Bürgerkrieg von 1727-28, nach der Anti-Mandschu-Revolte von 1750 und nach dem Gorkha-Krieg von 1792. Die Autorität der Mandschus in Tibet während dieser knapp 200 Jahre wuchs oder sank also immer in unmittelbarem Zusammenhang mit der Eintracht innerhalb der tibetischen Herrscherschicht und der Stabilität der Mandschu-Dynastie in China.

Zur Zeit des Gorkha-Krieges von 1792 zwischen Tibet und Nepal hatte die Mandschu-Dynastie in China den Höhepunkt ihrer Macht längst überschritten und die Schwäche des Reiches war nicht mehr zu übersehen. Tibet erlangte seine De-facto-Souveränität wieder und stellte dies im 19. Jahrhundert eindrucksvoll unter Beweis. Die tibetische Regierung in Lhasa lehnte abermals entschieden ab, die Auswirkungen der Verträge anzunehmen, die zwischen Großbritannien und China über Tibet abgeschlossen worden waren. Im Bewusstsein ihrer faktischen Eigenständigkeit hatte die tibetische Regierung im 18. und insbesondere im 19. Jahrhundert die diplomatischen Vorstöße Britisch-Indiens ignoriert.

Und sie beging den verhängnisvollen Fehler, die staatliche Eigenständigkeit durch Isolation bewahren zu wollen. Parallel zu ihrer diplomatischen Offensive im Verlaufe des "Großen Spieles" zwischen Großbritannien und dem zaristischen Russland um Zentralasien unternahm der marode Mandschu-Kaiserhof einen letzten Versuch, seinem Einfluss in Tibet wieder Geltung zu verschaffen. So fiel 1909 ein großes mandschurisch-chinesisches Heer in Lhasa ein. Der XIII. Dalai Lama floh nach Indien. Doch zwei Jahre später wurde die Mandschu-Dynastie in China gestürzt, und die militärisch erfolgreich durchgeführte Aktion in Tibet war somit von kurzer Dauer. Der XIII. Dalai Lama kehrte nach Tibet zurück, erklärte die besonderen Beziehungen zwischen den Dalai Lamas zum Mandschu-Kaiserhof für beendet und rief 1912 die volle Unabhängigkeit Tibets aus. Tibet erlangte erneut seine Souveränität völlig wieder, jedoch versäumte es, durch Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zu übrigen Staaten der Völkergemeinschaft, seine Unabhängigkeit international abzusichern.

Am Rande ist es hier interessant festzuhalten, dass es während der gesamten Regierungszeit der Mandschus in China eine starke nationalistische Strömung der Han gegen diese Fremdherrschaft gab. Die Parole "Fort mit den Qing, zurück zu den Ming" der Taiping-Revolution von 1850-64, die bekanntlich großen Anklang unter den Chinesen fand, ist deutlicher Beleg dafür, dass die Chinesen diese Mandschu-Dynastie als Fremdherrschaft empfunden hatten. Solche historische Tatsachen sind nicht unbedeutend für die Klärung des völkerrechtlichen Status Tibets hinsichtlich der Bewertung von Verhältnissen, welche aus den Priester-Patron-Beziehungen zwischen den Dalai Lamas von Tibet und den Mandschu-Kaisern der Qing-Dynastie in China erwuchsen.

Am 1. Oktober 1949 proklamierte Mao Zedong die Gründung der Volksrepublik China. Kurz darauf (1949-50) marschierten die Einheiten der VBA in Tibet ein unter dem Vorwand, Tibet von den Imperialisten zu befreien und in den Schoß des Mutterlandes zurückzuholen. Die tibetische Regierung wandte sich an die UNO um Hilfe, fand aber kein Gehör. Am 23. Mai 1951 mussten die Tibeter unter Druck den sog. 17-Punkte-Vertrag (Maßnahmen zur friedlichen Befreiung Tibets) unterzeichnen, worin sich China vertraglich verpflichtete, nichts an den bestehenden Verhältnissen in Tibet zu ändern, so lange das tibetische Volk dazu nicht bereit sei. Aber die chinesische Besatzungsmacht dachte nicht daran, dieses feierliche Versprechen zu halten und verletzte nach und nach die Vertragsbedingungen. Unter den Tibetern wuchs der Widerstand gegen die chinesische Fremdherrschaft.

Schließlich erhob sich das tibetische Volk am 10. März 1959 in Lhasa gegen die Besatzungsmacht. Eine Woche später flüchtete der XIV. Dalai Lama nach Indien. Der Widerstand der schlecht ausgerüsteten Tibeter wurde von den Chinesen schnell und blutig niedergeschlagen. Auf seiner Flucht rief der Dalai Lama am 26. März 1959 in Süd-Tibet eine Provisorische Regierung Tibets aus und kündigte den ungleichen 17-Punkte-Vertrag auf. Am darauffolgenden Tag erklärte in Beijing der chinesische Premier Zhou Enlai die tibetische Regierung für abgesetzt. Kurz danach wurden die Demokratischen Reformen in ganz Tibet eingeleitet, welche die völlige Zerstörung der politischen Ordnung, der religiösen Institutionen und des gesamten Alltagsleben im alten Tibet zur Folge hatten.

Am 9. September 1965 wurde West- und Zentral-Tibet zur "Autonomen Region" ausgerufen. Binnen eines Jahres brach in China die Große Proletarische Kulturrevolution (1966-76) aus. Die Roten Garden führten in Tibet das bereits begonnene Zerstörungswerk fort und entfachten eine nie da gewesene Terrorherrschaft, welche in Tibet bis ca. 1979 dauerte. Mit dem Besuch des damaligen ZK-Generalsekretärs und späteren Parteivorsitzenden Hu Yaobang in Tibet im Mai 1980 und nach seinem spektakulären Eingeständnis der Fehler und Versäumnisse in Tibet wurde eine neue Tibet-Politik eingeleitet, die allgemein als "Liberalisierungspolitik" bekannt ist. Seither hat sich einiges auf dem Dach der Welt zum Besseren gewendet, doch gelten die Tibeter heute in ihrem eigenen Land als Bürger zweiter Klasse. Die chinesische Tibet-Politik zielt nach wie vor darauf ab, die nationale und kulturelle Identität des tibetischen Volkes auszulöschen. Nicht das Ziel, sondern lediglich die Mittel der chinesischen Tibet-Politik haben sich gewandelt. Bereits Mitte der 80er Jahre nimmt die Bekämpfung des "Separatismus" wieder eine zentrale Stellung in der chinesischen Tibet-Politik ein.


Tsewang Norbu wurde 1949 in Tibet geboren, musste 1959 nach Indien flüchten. Er studierte an der Universität Delhi und arbeitete im Büro des Dalai Lama. Seit Mai 1973 lebt Tsewang Norbu in der Bundesrepublik Deutschland, wo er an der Universität Bonn Sinologie, Tibetologie und Politikwissenschaft studierte. 1979 war er Mitbegründer des Vereins der Tibeter in Deutschland e.V. Nachdem Tsewang Norbu einige Jahre lang Mitarbeiter von Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag und Europaparlament war, wechselte er Ende 1992 zur Heinrich-Böll-Stiftung, wo er Koordinator des BesucherInnenprogramms ist.


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Quelle:
Chökor - Tibethaus-Journal
Ausgabe Nr. 42, April 2007, Seite 15-21
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Erscheinungsweise: halbjährlich
Einzelheft: 5 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Oktober 2008