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PRESSE/861: Bedeutung des Zen-Buddhismus in der Gegenwart (Zenshin)


ZENSHIN - Zeitschrift für Zenbuddhismus, Nr. 1/10

Bedeutung des Zen-Buddhismus in der Gegenwart

Vortrag von Hozumi Gensho Roshi auf dem Konvent
der Deutschen Buddhistischen Union in München am 28. Oktober 2001

Übersetzung: Toshiko Miyazaki und Genpo Döring


Ich fühle mich sehr geehrt, dass ich zum Konvent der Deutschen Buddhistischen Union eingeladen wurde, um hier sprechen zu können.

Ich bin Zen-Buddhist und komme aus Japan. Ich bin einer, der Buddhas Schicksal teilt, und so trat ich mit 7 Jahren in den Zentempel meines Onkels ein, um das Leben eines Novizen zu beginnen. Danach begann ich mit 18 ein vierjähriges buddhistisches Studium und dann folgten 12 Jahre asketische Praxis in einem Ausbildungskloster.

Danach kehrte ich zu meiner Alma Mater zurück. Nun, da ich Schüler in Gedanke und Praxis des Zen unterrichte, habe ich in meinem Tempel ein internationales Zen-Zentrum eröffnet, wo ich mich zusammen mit Ausländern einem Studium des Zen durch die Praxis eines asketischen Lebens widme. Auf diese Art hat sich diese Religion dem 21. Jahrhundert geöffnet und während wir als Menschheit unsere Würde verteidigen, fragen wir, wie wir nun leben sollten.

Gleichzeitig fragen sich die Ordinierten und die Laien: "Wie sollten wir sein?" - "Gibt es im Buddhismus Rettung für den modernen Menschen?" Man kann die Essenz des Buddhismus nicht nur durch Gelehrtheit verstehen. Wahres Verständnis - Erleuchtung - muss durch die Befreiung der Menschheit vom Leiden entstehen. Und dafür ist die Erfahrung asketischer Praxis einfach essentiell. Hier ist das traditionelle asketische Leben des Zen-Buddhismus von Bedeutung.

Darüber hinaus muss man genau nachforschen, was ein Mensch ist. Was ist das Selbst? Um diese Frage beantworten zu können, muss man tief in das eigene Herz schauen. Das kann nicht nur mit dem Verstand geschehen, den man durch die moderne Wissenschaft vermittelt bekommt. Ebenso wenig kann es nur durch gedankenlose menschliche Gefühle geschehen.

Man muss in der tieferen Quelle der menschlichen Natur suchen. Dazu muss man für den Geist tief in sich selber erwachen, in dem wir Verstand und Emotion transzendiert haben, das heißt, wir müssen zu unserer Spiritualität erwachen. Diese Spiritualität ist der tiefe Geist, den der Mensch immerfort sucht. Hier sind wir mit einer gemeinsamen Weltethik begabt, die in uns liegt und die alle Menschen verbindet.

Der Weg, um mit dieser universellen Wahrheit, die allen gemeinsam ist, eins zu werden, ist das asketische Leben des Zen. Deshalb stellt ein Leben mit Zen ständig die Fragen: "Was ist Menschlichkeit?", "Was ist das Selbst?", "Was ist dieser Makrokosmos?", "Was ist Natur?" Und andere solcher großen Fragen. Innerhalb dieser großen Fragen liegt die Bedeutung der eigenen kleinen Existenz. Dieses kleine Selbst, seine wahre Freiheit, liegt darin, das Herz wertzuschätzen, wenn man Leben und Tod, Licht und Dunkelheit, Erleuchtung und Illusion, 'Selbst' und 'andere' überwunden hat - wenn man die Gegensätzlichkeit aller Dualität überwunden hat, das ist Spiritualität. Was diese Spiritualität betrifft - indem man diese wahre Freiheit grundlegend versteht und sie sich zu eigen macht, dann findet man die Würde der Menschlichkeit frei von Leiden.

Was der moderne Mensch suchen muss, ist zuerst einmal seinen Geist zu beruhigen und ein ruhiges, friedliches Herz zu bekommen. Wenn man sein eigenes Herz nicht friedlich macht, wie kann man dann auf Frieden in der menschlichen Gesellschaft hoffen. Wenn wir nur die heutige egoistische, auf den Menschen zentrierten Lebensweise verfolgen, neigen wir zu Zusammenstößen zwischen den Kulturen und Rivalitäten zwischen verschiedenen Religionen, die schließlich die Menschheit auseinander brechen werden.

Der Mensch hat sich schon immer mit der Frage beschäftigt "Was ist der Mensch?". Ob im Westen oder im Osten, fand er bei seinen Nachforschungen einen Weg, den er Religion nennt. Ob in grauer Vorzeit, im Mittelalter oder in der modernen Zeit zeigen die Religionen Richtlinien auf und weisen unter anderem auf eine optimale Moral hin. Aufgrund unterschiedlichster geographischer, klimatischer und anderer Unterschiede hat der Mensch auch unterschiedliche Charaktere entwickelt. Egal wo sie lebten und leben, auf dem Festland, in den Bergen, im Meer oder in der Wüste. Alle Menschen haben die ihrer Eigenart gemäße Religion. So wie sich das Leben an die Bedingungen in heißen oder kalten Zonen angepasst hat, so entwickelten sich auch die Religionen der Menschen. Im Laufe der Zeit bauten die Stämme und Völker die Religionen auf, die zu ihnen passten wie die Landschaft und die natürliche Umgebung die sie sich als Heimat ausgesucht hatten. Durch seine Religion kultivierte der Mensch das Leben. So erleben wir diese geistige Zeit, in der jeder seine eigene Religion besitzt. Jedes Volk entwickelte verschiedene Glaubensvorstellungen.

Wie wollen wir nun feststellen, was Religion eigentlich ist? Hierbei müssen sich alle Religionen erforschen und sich auf den Grund gehen. Im Laufe der Zeit haben sie verschiedene Entwicklungen durchgemacht und haben ihren Charakter geändert, das sollte man gründlich analysieren. Das heißt, dass man seine eigene Religion von Grund auf überprüfen und kennen sollte.

Jeder Mensch entwickelt sich vom Baby zum Erwachsenen. Die körperlichen Veränderungen und die geistige Entwicklung sind dabei unübersehbar. Auch unsere Zeit ändert sich ständig und in zunehmendem Tempo. Wir erleben die Veränderungen als immer extremer. Internationalisierung, Informationsflut und multikulturelle zeit, so zeigt sich das 21. Jahrhundert. Wir sollten dennoch herausfinden, welche Religion für diesen Zeitabschnitt entsprechend ist. Deshalb werden folgende Fragen immer wichtiger: "Was bin ich?", "Was ist das Leben?", "Was ist der Mensch?"

Was ist ein Menschenleben wert? Diese beschränkte Zeit, die man als Mensch zu leben hat. Auf diese Frage müssen wir jedoch voll eingehen. Ich bin in Japan geboren und bin dort der Lehre des Buddha begegnet. Nun führe ich mein Leben als Zen-Mönch. Viele Menschen fragen sich, was ihre Existenz wert ist. Alle wollen glücklich sein. Sie suchen sich einen Platz, der ihnen gefühlt, um dort zu leben. Das ist normal. Sie wollen mit guten Menschen befreundet sein. Wir alle denken da gleich. Aber in Wirklichkeit läuft nicht alles so, wie man das gerne hätte. Beim Wünschen fangen die Probleme an. Der Mensch produziert seine Probleme selbst. Doch dies ist der Beginn seiner Entwicklung. Mir kommt das jedenfalls so vor. Wieso muss er so viele Probleme erfahren? Warum muss er so stark leiden? So möchte er sich von seinem Kummer befreien. Erst wenn er seinen Problemen begegnet, merkt er, wie dumm er eigentlich ist. So fragt man sich und erforscht das eigene Herz. Diese Herzensschau ist wichtig! Buddha hat dies auch alles durchgemacht. Bodhidharma ist den gleichen Weg wie der Buddha gegangen. Rinzai Gigen, der Begründer der Rinzai-Schule, hat sich auch auf diesen Weg begeben und ihn durchgestanden. Solche Meister leben gar nicht so weit weg von uns (das heißt: sie sind nicht viel anders als wir). Sie hatten einen menschlichen Körper - wie wir. Wenn sie sich geschnitten haben, bluteten sie aus dieser Verletzung. Sie hatten Probleme und Leiden - wie wir auch.

Wo liegt dann der Unterschied zwischen diesen Meistern und weltlichen Menschen? Sie hatten einen festen Glauben, sie waren selbstdiszipliniert und sie hatten einen stärkeren Willen als andere. Mit außerordentlicher Motivation, Mühe und Hingabe kamen sie über asketische Übung zur Erfahrung. Ohne diese Art des Studiums wären sie nicht unsere Vorgänger geworden.

Was hat Buddha am Ende seiner sechsjährigen asketischen Übung erhalten? Er kam zu der Einsicht, dass extremes Leiden, ebenso wie extreme Freude zu vermeiden sei. Was er im Meditations-Samadhi erfahren hat, war der mittlere Weg. Dort fand er sein friedliches Herz und Zen. Bis er jedoch zu dieser Einsicht gelangte, war es notwendig, dass er beide Extreme erfuhr. Buddhas Einstellung zum Leben ist der Mittlere Weg. Sich vom Leiden nicht erdrücken lassen und an der Freude nicht haften. Die Lehre, die er seinen Schülern vermittelte, war die, den Mittleren Weg zu gehen. Vor etwa 2500 Jahren (in der Zentradition am 8. Dezember) erfuhr Prinz Siddharta die Erleuchtung und wurde zum Buddha. Seine Weisheit kam aus dieser Erfahrung im Zen-Samadhi.

Zen-Meditation ist die Grundlage des Buddhismus. Seine Lehre gab Buddha an seine Schüler weiter, so wie man Wasser von einem Gefäß in das andere gibt. Von Herz zu Herz. Außerhalb des Herzen existiert kein Gesetz. Dabei sind unsere menschlichen Gefühle sehr wichtig. Die letzten Worte Buddhas an seinen Schüler Ananda lauten: "Ananda, sei dir selbst ein Licht, fördere deine Selbstverantwortung, hänge nicht an anderen. Lass das Dharma dein inneres Licht sein. Prüfe dich durch das Dharma und lebe richtig." Ein weiterer berühmter Ausspruch Buddhas: "Sei dir selbst ein Licht, beleuchte die Lehre und nimm die Lehre zum Licht."

Jeder Mensch kommt nackt und alleine auf diese Welt, alleine geht er auch wieder ins Jenseits. Wem kann er denn Vertrauen schenken? Wenn er zu sich selbst kein Vertrauen hat, wie könnte er da Weisheit und festen Glauben erlangen?

Das menschliche Leben ist nicht einfach, manchmal sogar sehr problematisch. Darum frage dich: Wie willst du leben? In dieser Frage findet sich einer der Hauptaussagen des Rinzai-Zen. Rinzai Zenji sagt: "In unserem Körper aus rötlichem Fleisch lebt ein wahrer Mensch ohne Rang und Namen. Er kommt ständig aus den Öffnungen eures Gesichtes und verschwindet wieder. Wer von euch ihm noch nicht begegnet ist, schau ihn an! Schau ihn an!"

Wir alle haben in unserem Körper einen absolut freien Gemütszustand, der keinen Unterschied macht zwischen uns und anderen - wir können auf dieser Ebene nicht mehr diskriminieren. Im Alltag ist es jedoch so, dass aus unserem Gesicht unsere Gefühle und Eindrücke aus- und eintreten, wie sie es gerade möchten. Wer also seinem eigenen großartigen Herz noch nicht begegnet ist, der solle sich beeilen und aufwachen. Das ist der Sinn von Rinzais Hinweis. Das eigentliche Ziel der Zen-Schule ist es, diesen absolut freien Gemütszustand zu erreichen. Dafür üben wir asketisch.

Das ist alles. So einfach ist das. Doch wir Menschen sind so dumm. Unser eigener Verstand hindert uns daran die Wirklichkeit so zu sehen wie sie ist und wir werden sehr wackelig, wenn wir unsere Lebenslinie finden möchten. So machen wir fortlaufend Umwege. Es ist jedoch notwendig das Zenherz im Alltag zu verwirklichen. Wer Zen übt, will mit aufrechtem Herzen leben. Deshalb ist in der Zenschule die eigene Übung und Erfahrung sehr wichtig. Es geht darum, dass man Kälte und Hitze selbst erfahren muss, um zu wissen, wie das ist. Wenn der Körper einmal in der Kälte war, weiß er, was Kälte ist. Wenn man wissen möchte, ob das Wasser heiß ist, muss man es spüren. Das ist wichtig! Dafür ist asketische Übung notwendig. Buddha hat die Sitzmeditation bis an sein Lebensende praktiziert. So wurde seine Übung in der Zenschule bis auf den heutigen Tag weitergegeben.

Eines Tages können wir zu unserem wahren Selbst erwachen. In der Rinzai-Schule nennen wir diese Erfahrung Kensho, Selbstwesenschau. Es ist der Augenblick, in dem wir unseren wahren Charakter treffen. Der Mensch erkennt sich als Mensch in seiner vollkommenen Humanität. Kensho kann man nicht so einfach, ohne weiteres, erfahren. Auch unsere Vorgänger, die Buddhas, Patriarchen und Meister mussten während ihrer asketischen Übung leiden. Der Mensch selbst ist dabei auch nicht so einfach. Wenn er sich auf den Weg macht und asketisch übt, braucht er trotzdem Unterstützung in Form eines Begleiters, eines Lehrers, den er fragen kann, ob die richtige Richtung eingeschlagen wurde. Ohne die Mithilfe des Lehrers kann er kaum zu befriedigenden Ergebnissen gelangen.

Um den Zenweg zu gehen, reicht es jedoch nicht aus, nur Zazen - Meditation - zu üben. Übungsort ist überall. So kann man jederzeit und überall den Problemen des Lebens auf den Grund gehen und nachforschen. Jetzt, gerade dieser Moment ist wichtig! Wie wir in diesem Augenblick praktizieren, das ist wichtig. Wenn man dabei die richtige Herzenseinstellung gefunden hat, entspringen dem auch die entsprechenden Handlungen und führen zu sozialem Verhalten. Die Freude des anderen wie meine eigene annehmen, aber auch die Trauer des anderen wie meine eigene annehmen. Alle Menschen sollten mit diesem Gefühl leben. Dabei sollten wir jedoch nicht nur die Menschen wichtig nehmen. sondern alle Lebewesen in unsere guten Gedanken und Taten einschließen und sie achten. Wir Menschen sind ein Teil der Natur und leben in ihr. Diese Gedanken öffnen ein Zenleben und bringen unsere Dankbarkeit zum Ausdruck.

Ich sage hier noch einmal, es ist notwendig, dass sich der Mensch selbst erforscht und aus der Begegnung mit seinem Selbst in der Lage ist ein inhaltsreiches Leben zu führen, das von Weisheit, Mitgefühl und Vernunft bestimmt wird. Dann kann es nicht mehr sein, dass das Vorhandensein von verschiedenen Rassen, Nationalitäten, Religionen, Geschlechtern, Kulturen, Weltanschauungen, usw. als unüberwindliche Probleme angesehen werden.

Es ist an der Zeit, dass wir eine friedliche Weltordnung aufbauen, die auf Wohlfahrt gegründet ist. Dafür müssen wir mit uns selbst streng sein und ernsthaft üben. Dann wird Zen und Buddhismus auch weiterhin eine große Rolle spielen.

Ich glaube, dass wir heute, in diesem modernen Zeitalter dazu aufgerufen sind, ein bescheidenes Herz hervorzubringen. Daran denkend rezitiere ich die folgenden Worte in meinem Zendo nach der Morgenandacht zusammen mit den Übenden und betrachte sie als ehrliche Gelübde.

1. Ich gelobe, als ein menschliches Wesen ohne Unterlass nach den grundlegenden Prinzipien des Universums zu suchen.

2. Ich gelobe, statt andere zu kritisieren, lieber daran zu denken, mich selber gründlich zu untersuchen.

3. Ich gelobe, für die Gaben der Natur dankbar zu sein und voll Mitgefühl alles Leben zu respektieren.

4. Ich gelobe, vergangene Erfahrungen zu nutzen, um für die Zukunft eine helle Gegenwart zu schaffen und heute völlig zu leben.

5. Ich gelobe, andere Rassen, Nationalität, Geschlecht und Religion zu respektieren und für einen harmonischen Geist und ein friedliches Zusammensein zu wirken.

Jeder Satz dieser fünf Gelübde ist sehr schwer in die Praxis umzusetzen. Ich möchte jedoch jemand werden, der in der Lage ist, diese schwierigen Dinge in die Tat umzusetzen. Und wenn ich dazu fähig werde, zusammen mit allen anderen in diesem einen Leben, dann werden wir ein wunderbares menschliches Leben führen. Wir sollten versuchen, solch ein Leben zu führen, und ohne uns zurückzuhalten auf dieses Ziel hinarbeiten. Daran denkend übe und lebe ich auch heute schon. Ich danke Ihnen allen für Ihre freundliche Aufmerksamkeit.


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Quelle:
ZENSHIN - Zeitschrift für Zenbuddhismus, Nr. 1/10, S. 4-8
Herausgeberin: Hakuin Zen Gemeinschaft Deutschland e.V. (HZG)
Burggasse 15, 86424 Dinkelscherben
Redaktion: Nanshu Susanne Fendler / Bunsetsu Michael Schön
Übelherrgasse 6, 89420 Höchstädt a.d.D.
E-Mail: s-fendler@t-online.de / schoen-bio@gmx.de
Internet: www.shoboji.de

ZENSHIN erscheint halbjährlich.
Einzelheft 7,50 Euro inklusive Versand


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. August 2010