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PRESSE/901: Relative und absolute Wahrheit (Buddhismus heute)


Buddhismus heute 48 - Frühjahr/Sommer 2010
Diamantweg-Buddhismus Karma-Kagyü-Linie

Relative und absolute Wahrheit
Ein Interview mit Lama Ole Nydahl


FRAGE: Was versteht man im Buddhismus unter "relativer und absoluter Wahrheit"?

OLE NYDAHL: Relative - bedingte - Wahrheit ist, wie die Dinge erscheinen, und absolute - letztendliche - Wahrheit ist, wie sie in der Tat sind, also leer von bestehender Eigennatur. Sie erscheinen in dieser von Mögen und Nicht-Mögen gefärbten Welt, sind aber letztendlich ohne wirkliches "Sein". Alles ist bedingt, Eindrücke wie Geschehnisse kommen und gehen und das einzig vorhandene - der Raum - erfährt seinen Reichtum.

FRAGE: Was können wir tun, um diese beiden Ebenen im Leben nicht zu verwechseln?

OLE NYDAHL: Wenn man von sich aus immer öfter zwischen den Geschehnissen verweht, ist das ein sehr gutes Zeichen. Man sollte wissen, dass die Erkenntnis des Bewusstseins von sich selbst das letztendliche Ziel ist.

Was zu jeder Zeit durch unsere Augen schaut und aus unserer Ohren hört, ist letztendliche Wahrheit. Wenn sie sich dauerhaft erkennt, ist das die Erleuchtung.

Selbsttätig spielt dann der Geist zum Nutzen anderer. Je mehr man im Wesen des Geistes verweilt, desto mehr erscheinen die Mittel, um anderen zu nutzen und ihnen etwas Gutes zu tun. Hat man den Geist kennen gelernt, erscheinen dauerhaft Freude und Mitgefühl, die von sich aus zum Wohle anderer arbeiten. Sie sind untrennbar vom bewussten Raum, und es macht deswegen einen großen Unterschied, ob man ihn erfährt oder nicht.

FRAGE: Was bedeutet es, in der Übung die höchste Sicht zu halten?

OLE NYDAHL: Es bedeutet dem Hier und Jetzt zu vertrauen. Unmittelbare Erfahrungen sind an sich frisch und spannend. Sie sind wie ein Kind, das am Ende eines dunklen Korridors eine Tür zu einer riesigen lichtdurchfluteten Halle aufstößt und einfach nur "Wow!" sagt. Dieser Augenblick der Wahrnehmung ist die nackte Bewusstheit, um die sich alles dreht.

Man wird dabei immer noch handeln, jetzt aber zunehmend für andere. Man trägt den "Werkzeugkasten" dazu nicht mehr vor seinem Gesicht, wo man dann nur ihn sieht, sondern an der Seite, was die Augen freihält. Während man also die Dinge des Lebens erledigt, bleibt die weite Sicht erhalten und wird nicht eingeengt. Es bleibt dann das Gefühl bestehen, dass eigentlich alles ein Geschenk des Raumes an sich selbst ist. Dabei verbessert man etwas, das gleichzeitig auf absoluter Ebene bereits an sich vollkommen ist und macht es nun auch auf bedingter Ebene nützlich. Man spielt also mit etwas Reichem, Schönem und Bedeutungsvollen, das aber genauso perfekt wäre, wenn man gar nichts damit täte.

FRAGE: Wie können wir im Leben ein Gleichgewicht schaffen zwischen unseren eigenen Freiheiten und unseren Verantwortungen für andere?

OLE NYDAHL: Allgemein würde ich sagen: Denk an andere und die anderen werden an dich denken. Es gibt eine alte chinesische Geschichte über einen Mann, der sehr gut meditierte. Er beschloss, in die Paranoia-Bereiche zu gehen, um sie sich einmal anzuschauen. Dort fand er einen wunderschönen Raum vor, in dem viele Menschen an einer mit bestem Essen gedeckten Tafel saßen. Aber jeder von ihnen hatte nur einen zwei Meter langen Löffel. Alles, was sie damit essen wollten, fiel auf ihre Köpfe oder hinter sie, aber sie konnten nichts zu sich nehmen. Der Mann beschloss dann, sich auch einmal die Himmel anzusehen. Dort fand er die gleiche Lage vor - bestes Essen, alle um den Tisch, jeder mit zwei Meter langem Löffel - aber hier fütterten sie sich gegenseitig!

Die Welt enthält jeden Reichtum, und wenn wir eine gute Einstellung haben, sollte es uns eigentlich gut gehen. Das enge Denken "Was ist für mich drin?" macht die Menschen gefühlsmäßig arm. Freigebigkeit macht uns reich, aber Erwartungen und Nehmen wollen, bei gleichzeitigem nur wenig Geben, engen alles ein.

FRAGE: "Wenn man nicht aus der Kurve fliegt, war man zu langsam. Und wenn man aus der Kurve fliegt, war man zu schnell." Was meinst Du damit, wenn Du das manchmal im Zusammenhang mit dem Grossen Siegel sagst?

OLE NYDAHL: Es bedeutet mit allen Fühlern und voll im Hier und Jetzt zu sein. Motorradfahren gibt ein gutes Gespür davon. Fliegt man aus der Kurve, war man nicht voll dabei, und tut man es nicht, hätte man vielleicht mehr geben können. Das Gefühl, ständig voll im Hier und Jetzt zu sein, ist unvergleichlich und bringt auch Glück, es gibt einen feinen dünnen Bereich auf der Ebene der höchsten Leistung, der man vertrauen kann und auf der man fahren kann. Lernt also allmählich dem Raum vertrauen, nicht dem schläfrigen Raum der Gewohnheiten, sondern dessen leuchtend-bewusster und spannender Weite.

FRAGE: Was bedeutet es, dass Nirvana und Samsara das gleiche sind?

OLE NYDAHL: Es bedeutet, dass sie zwei verschiedene Sichtweisen desselben Geistes sind, eben was er von sich mitbekommt. Erkennt er sich als leuchtende Weite, ist das Nirvana. Sieht er nur was in ihm abläuft, ist das Samsara. Es gibt übrigens zwei Nirvanas. Das kleine entfernt die Fehlvorstellung von einem eigenen "Ich", wonach man sich nicht mehr als Zielscheibe fühlt, und das große lässt einem noch dazu die Traumhaftigkeit auch der Außenwelt erfahren, ihre "Leerheit" von einem dauerhaften Vorhandensein. Samsara heißt gefangen sein von den ganzen Eindrücken, die sich dort abwechseln.

FRAGE: Was bedeutet das Zitat von Buddha: "Die Dinge sind nicht, was sie zu sein scheinen. Sie sind aber auch nicht anders"?

OLE NYDAHL: Ich bin mir nicht sicher, ob ich das verstehe (Lama Ole lacht)! Sie sind nicht, was sie zu sein scheinen, denn sie sind vergänglich und ändern sich die ganze Zeit. Andererseits jedoch werden sie immer noch erfahren und bewirken alles. Bei der ersten Aussage geht es um die letztendliche Ebene: Die Dinge sind nicht von der Festigkeit, die unsere Sinne versprechen. Auf der bedingten Ebene geschieht aber etwas: Menschen haben Kinder, werden beerdigt und wiedergeboren, Kulturen kommen und die schädlichen gehen hoffentlich auch.

FRAGE: Kann man sagen, dass das Entwickeln von relativem Verständnis die absolute Einsicht beeinflusst und dass absolutes Verständnis uns auf relativer Ebene effektiver handeln lässt?

OLE NYDAHL: Das stimmt nicht ganz. Das Wichtigste, was es in der Erscheinungswelt zu verstehen gilt, ist die grundlegende Vergänglichkeit von allem Bedingten, außen wie innen. Durch sie wird einem klar, dass alles, weil zusammengesetzt, nicht bleiben kann. Wer die Veränderlichkeit vom Äußerem und Innerem verstanden hat, steht vor der Einsicht, dass alles seinem Wesen nach leer ist, also grundlegend wie ein Traum und nicht wirklich vorhanden. Diese Leerheit überall zu erkennen ist die Erleuchtung, die volle Verwirklichung.

FRAGE: Und können wir dadurch effektiver handeln?

OLE NYDAHL: Von sich aus schaffen unsere Körper und Rede die Dinge eigentlich sehr gut. Wenn wir aber alles vom Gehirn aus steuern wollen, wird alles klotzig und steif. Es gibt zwar überall eine Lernphase, in der die Dinge durch das Gehirn verarbeitet werden müssen, aber danach ist meistens Urlaub angesagt. Wer zum Beispiel auf einem Motorrad die ganze Zeit daran denkt, wo das Vorderrad jetzt sein sollte, fährt steif mit vielem Bremsen und komisch. Sind Maschine, Mann und Straße jenseits der Gedanken eins, wird aber jede Kurve eine Bestätigung.

Außer man macht bewusst Meditationen auf Achtsamkeit bei täglichen Bewegungen - so wie das behutsame Storch-ähnliche Wandeln, was Diamantwegschüler vor Lachen nicht schaffen - sollten die Körper und Rede innewohnenden Weisheiten sich im täglichen Leben frei entfalten können, während das Gewahrsein des Großhirns die Welt abtastet und versteht. Erlebt man Eins-Sein mit allem, entstehen furchtlose Eingebung, selbstentstandene Freude und tatkräftiges Mitgefühl von selbst.

FRAGE: Du sagst immer: "Höchste Wahrheit ist höchste Freude". Wie kann man diese Sicht in Alltagssituationen anwenden?

OLE NYDAHL: Einfach indem man in jedem und in jeder Lage das Beste und Feinste für wichtig hält, was man auffassen kann. Selbstverständlich: Hat ein Mann schöne blaue Augen, hält einem aber ein Messer vor die Brust, muss erst das Messer weg (Witz). Wenn man mit einem Mann redet, sollte man sich auf etwas Bedeutungsvolles an ihm einstellen. An seinem Gesicht, seinen Händen oder seinem Auto, und wenn das nicht geht, dann vielleicht bei seiner Freundin, seiner Mundart, oder was auch immer. Man versucht, sich immer bei irgendetwas Bedeutungsvollem einzuklinken, denn je schöner und bedeutungsvoller wir die Dinge sehen können, umso näher sind wir an der Wahrheit. Buddha sagte häufig, dass man nicht sterben muss, um in ein Reines Land zu gehen. Man muss auch nicht woanders hingehen, um Buddhas zu treffen, sondern nur den eigenen Geist entschleiern. Für kurze Augenblicke erfahren das viele, wie zum Beispiel meine Generation, die mit geisteserweiternden Stoffen fleißig nachhalf und leider daran weitgehend kaputt ging. Wer hinterher kam, war zwar weniger idealistisch, aber hat sich zum Glück nicht die Hirnzellen ausgebrannt. Ihr werdet das Reine Land in der Vertiefung entdecken und zusätzlich - weil durch Segen und eigene Arbeit erworben - den Zustand länger halten können. Drogen erlauben nur kurz reinzuschauen und man kann nicht darin verweilen. Mit Meditation wird der Zustand untrennbar von einem.

FRAGE: Wann sollte man kritisch sein und wann versuchen, eine Art "dynamischer Wahrheit" zu verwenden?

OLE NYDAHL: Seid kritisch, wenn Leute nicht lernbereit sind und verwendet dynamische Wahrheit, solange sie mitspielen. Man erkennt es schon an der Körperhaltung der Menschen, wenn man mit ihnen redet. Lehnen sie sich vor, nehmen sie immer noch etwas auf, sind offen und spielen mit. Wenn sie anfangen, Abstand zu schaffen - etwas zwischen euch auf den Tisch stellen, sich zurücklehnen usw., dann überlegen sie schon, wie sie euch loswerden können oder um das herumzukommen, was ihr wollt. Dann - wenn weniger brenzlig - rundet man alles mit etwas Lob ab oder startet, wenn nötig das kritische Programm, wechselt von Karotte zur Peitsche.

Ich würde einfach von der Körpersprache und dem allgemeinen Verhalten der Menschen ausgehen. Bei Vorträgen merkt man ganz deutlich, wenn man die Leute durch zu viel lebensferne Abstraktion verloren hat: Wenn sie anfangen, sich zurückzulehnen, sich zuzuflüstern oder/und auf ihre Uhren zu schauen. Dann muss man ihnen etwas geben, worauf sie sich beziehen können und was näher an ihrem Leben ist.

Ich würde sagen, man versucht es, wo überhaupt möglich, nach Kräften mit der Karotte. Jedes Zeigen von Unmut wird als Schwäche und peinlich aufgenommen. Außer als Schullehrer: Hier lohnt es sich, den Kindern zuerst seine Kraft zu zeigen und danach auch freundlich zu sein. Sie werden dann dankbar sein, gut lernen und leicht handzuhaben sein. Wenn man anfangs zu weich ankommt, verschwenden Schüler wie man selbst leicht ein Jahr.

FRAGE: "Im Hier und Jetzt sein" - was ist das für eine Erfahrung und was ist es nicht?

OLE NYDAHL: Es ist nichts Intellektuelles, sondern ein entspanntes gutes Gefühl, dass die Dinge irgendwie bedeutsam sind, einfach nur weil sie sind. Dass man der Ganzheit nichts hinzuzufügen oder wegzunehmen braucht.

Heute beim Fahren haben wir zum Beispiel hier in Polen all diese pommerschen Fichten gesehen. Wundervolle Bäume, mit denen mein Bruder viel gearbeitet hat. Ich habe in Schweden viele von ihnen gefällt und mit Hannah durch den Schnee gezogen. Im Hier und Jetzt sein, bedeutete deswegen heute für mich, diese Bäume zu genießen: zu wissen, wie ihr Harz riecht, wie es sich anfühlt, sie zu tragen, sich einen Augenblick zu erinnern, wie schwer es war, das Harz aus Haar und Arbeitskleidung zu reinigen... all diese Dinge. Sofort in allem zu sein, was gerade anliegt - die Bäume, die bekannten Landschaften, der Gedanke an andere, an die Gesichter unserer ersten Kopenhagener Gruppe zu denken, die oft mithalf. Auch dass die Kettensägen heutzutage kaum etwas wiegen und so gut sind, dass sie eine Kupplung haben, um die Umdrehungszahl zu begrenzen all diese Dinge sind sehr spannend und damals und dort zu sein, ohne etwas auszugrenzen oder vergessen zu wollen, zeigt ein Leben mit wenig Schlacken.


Das Interview wurde geführt von Kasia Biala


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Quelle:
Buddhismus heute 48, Frühjahr/Sommer 2010, Seite 26-29
Herausgeber:
Buddhistischer Dachverband Diamantweg e.V. (BDD) in Deutschland
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"Buddhismus heute" erscheint auch in weiteren Sprachen.
Einzelheft: 8,00 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Februar 2011