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PRESSE/997: Die Suche nach der Seele (DMW)


Der Mittlere Weg - Nr. 3, September - Dezember 2015
Zeitschrift des Buddhistischen Bundes Hannover e.V.

Die Suche nach der Seele

von Axel Rodeck


Der Atman der Upanishaden

Der Tod eines geliebten Wesens veranlasste wohl in allen Kulturen zu der Frage, welche Lebenskraft dem Sterbenden entwichen war und wie man zum Wohle des Verstorbenen spirituelle Maßnahmen ergreifen konnte.

Der Glaube an ein spirituelles Element im Menschen, welches wir heute als "Seele" bezeichnen, ist bereits bei den steinzeitlichen Jägern nachweisbar. Diese hatten durch Träume und ekstatische Zustände die Existenz eines vom Leib unabhängigen Elements erfahren, dessen Lokalisierung jedoch nicht gelang. Einerseits galt der Kopf (nämlich das Gehirn) als Sitz dieser Seele (und wurde daher gern in magisch-religiöser Handlung verspeist), andererseits erstreckte sich das Element über den ganzen Körper, bildete also gewissermaßen sein "Double".

Machen wir einen Sprung zu Zarathustra (geb. 630 v. Chr.) und der iranischen Religion, die mit Erlösermythos, Auferstehungslehre und Eschatologie ("Lehre von den letzten Dingen") gewichtige Beiträge zur religiösen Gestaltung des Westens geleistet hat. Wir finden hier eine handfest materielle Seele, die nach dem Tode eine - Erde und Himmel verbindende - Brücke überqueren muss.

Wie im Westen hatte sich, ausgehend von derselben indo-arischen Tradition, auch in Indien ein Seelenglaube entwickelt. Denn im 9. Jh. v. Chr. gaben die Upanishaden ("Geheimlehren") den Gedanken auf, den Träger des Lebens im stofflichen Bereich (Feuer, Wasser) zu suchen, sie ersetzten diese Vorstellung vielmehr durch eine metaphysische Konzeption. Das Ergebnis ist die Annahme eines "Atman". Das Wort "Atman" ist etymologisch mit unserem Wort "Atem" verwandt und hatte ursprünglich auch diese Bedeutung. Es wuchs dann jedoch über die physiologische Sphäre hinaus und wurde ein philosophischer Begriff, seine ursprüngliche Bedeutung wurde von dem Wort "Prana" (Hauch) übernommen.

Der Atman ist der Kern einer Persönlichkeit, also das, was von ihr übrig bleibt, wenn man alles Akzidentielle von ihr abzieht. Es handelt sich dabei um eine feinstoffliche Substanz, eine "Monade" (griech. = "Einheit"), also nicht nur um etwas rein Geistiges. Diese Substanz enthält die Fähigkeit zur Speicherung von Wahrnehmungen und Empfindungen, sie speichert auch die Sinneseindrücke, die aus eigenen Handlungen resultieren, also das "Karma". Der Atman ist das dem menschlichen Körper innewohnende ewige Selbst, das den Tod überdauert und sich immer wieder in neuen Körpern inkarniert. Er ist das letzte, dessen man sich als Individuum bewusst sein kann, das Ich-Bewusstsein, die Individualseele.

Entsprechend der älteren stofflichen Feuerlehre mit ihrer Gleichsetzung von Körperwärme und Feuerhimmel wurde nun die Identität des "Atman" (Individualseele) mit der "Brahman" genannten Universalseele gelehrt. Das Wort "Brahman" bezeichnete ursprünglich das heilige Veda-Wort, dann die sich aus diesem ergebenden Kräfte und schließlich die Ursubstanz allen Seins. Aus dieser sind alle Lebewesen hervorgegangen und werden von ihr durchdrungen und gelenkt.

Das alte magische Mikrokosmos-Makrokosmos-Schema der Naturphilosophie wird jetzt also metaphysisch überhöht: Der Individualseele (atman) auf der Ebene des Mikrokosmos entspricht die Universalseele (brahman) auf der Ebene des Makrokosmos. Die (z.B. auf dem Wege der Meditation zu erlangende) weise Einsicht in die Identität von Atman und Brahman führt dann zur Erlösung, nämlich zur Befreiung vom Zwang der Wiedergeburten und damit zur Unsterblichkeit. Man muss dazu den Blick so nach innen richten, dass er durch keinerlei Wahrnehmungen mehr getrübt ist - dann erkennt der Atman als das erkennende Subjekt sich selber als das erkannte Objekt, die Spaltung in Subjekt und Objekt löst sich auf.

Erst das Verständnis des wahren Selbst (also der Seele) beendet somit den Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt. Wenn das Individuum seine Unwissenheit überwunden und gelernt hat, die Identität des Selbst (atman) mit der letzten Wirklichkeit aller Dinge, dem Absoluten (brahman) zu begreifen, löst sich im Zeitpunkt des Todes der physische Körper in seine Grundbestandteile auf und der feine Körper verbindet sich mit den feinen Elementen. Der Mensch ist jetzt erlöst. Der Zustand, den er erlangt, wird von den verschiedenen philosophischen Schulen unterschiedlich beschrieben: Die einen nehmen ein verklärtes individuelles Fortleben in eines Gottes überirdischer Heilswelt an. Andere sehen z.B. das Heil in einem Fortbestehen der individuellen Existenz, allerdings ohne Verbindung der Seele mit den Organen und somit ohne Bewusstsein von der Welt.

Bis zu diesem Zeitpunkt der Erlösung (moksha) ist die Seele - als würde ein Schwert in mehreren ineinander gesteckten Scheiden stecken - in zwei oder drei Körper gekleidet:

  1. den physischen Körper, der aus den die Materie bildenden Elementen besteht und nach dem Tode zerfällt,
     
  2. den unsichtbaren feinmateriellen Körper, der die Gegenstücke zu den Sinnesorganen des physischen Körpers enthält, also "feinstoffliche" Ohren, Augen usw.
     
  3. den (nach teilweise vertretener Ansicht vorhandenen) "ursächlichen Körper", der sich im Tiefschlaf manifestiert.

Der Tod ist also die Trennung des feinen Körpers vom physischen Körper - und solange das Individuum noch nicht erlöst ist, muss sich der freigewordene feine Körper einen neuen adäquaten physischen Körper suchen. Es wird die Ansicht vertreten, dass die Seele des Verstorbenen bei der Wanderung vom toten zum neuen Leib von einem unsichtbaren feinmateriellen Körper umgeben ist, welcher Träger der feinen Wahrnehmungsorgane und des psychischen Lebens ist. Modern ausgedrückt: Der Geistleib wandert als "elektronisch-photonisches Kraftfeld" zum nächsten Dasein und nimmt dabei sein Karma mit.

Der feine Körper ist somit das Verbindungsstück zwischen altem und neuem Körper und man nimmt an, dass er nach seiner Loslösung vom physischen Körper noch Bewusstsein besitzt. Er kann, wenn auch für Wesen mit physischem Körper nicht fassbar, mit seinen feinen Sinnesorganen sehen, hören und denken.

Freilich werden auch andere Ansichten vertreten, etwa dass die Seele direkt mit dem groben Leib verbunden ist. Spätere indische Schulen führten, auch unter buddhistischem Einfluss, zu Modifizierungen, die aber alle von der Existenz einer "Seele" ausgehen.


Die Anatta-Lehre des Buddha Gautama

Wider den Seelenglauben

Im 6. Jh.v.Chr. ergeben sich in Indien - wie auch in anderen Teilen der Welt - einschneidende kulturelle, religiöse und soziale Veränderungen. Es entwickeln sich Reformbewegungen, getragen von der Opposition gegen festgefügte politische und religiöse Strukturen der altindischen Gesellschaft. Neue Gesellschaftsschichten entstehen und wenden sich gegen die von den Brahmanen beanspruchte politische und religiöse Vorherrschaft. Es vollzieht sich ein spiritueller Aufbruch, der die alte vedische Opfertheologie bekämpft und die Wahrheit auf neuen Wegen sucht. Tausende von Menschen verlassen ihr bisheriges Leben, schließen sich Asketenbewegungen an und suchen das Heil außerhalb des orthodoxen Rahmens. Ihre Kritik richtet sich gegen den etablierten, überritualisierten und sinnentleerten vedisch-brahmanischen Opferkult.

Unter diesen Bedingungen ist kein Platz mehr für die hergebrachten esoterischen Atman-Lehren der Brahmanen. Die Wanderasketen gehen mit ihren Lehren in die Exoterik und predigen den Massen, und zwar in der Volkssprache statt im Sanskrit als nur den Gebildeten verständlicher Gelehrtensprache. Sie setzen der Metaphysik der Atman-Lehre eine rationalistische Ethik entgegen, eine Lehre, in der Lebenswandel mehr zählt als Geburt und Bildung. An die Stelle der vedischen Vorstellungen von Atman und Brahman treten die verschiedensten Theorien hinsichtlich einer "Seele" des Menschen.

In die Zahl der Wanderasketen reiht sich ein junger Mann aus gutem Hause ein, Siddhartha Gautama, der spätere Buddha. Von seinem Lehrer Uddaka Ramaputta wird er in den Lehren der Upanishaden unterrichtet. Aber nachdem Gautama die Erleuchtung gefunden hat, zum Buddha geworden ist, wird die Atman-Theorie von ihm heftig abgelehnt. Dabei geht der Buddha offensichtlich von Gedankengängen der Uccedavadins, einer den Materialisten zuzurechnenden Gruppe, aus, denn die Existenz eines Atman (Pali: atta) zu leugnen, war in Indien nicht neu und wurde insbesodere von den Materialisten betrieben. Konsequenter als alle anderen nichtmaterialistischen Denker Indiens lehrt der Buddha: Nirgendwo ist Ewigkeit, auch nicht in einer "Seele".


Eine kühne Reduktion

Angelpunkt wissenschaftlicher Betrachtungsweise ist der Reduktionismus, die Aufspaltung der Natur in ihre natürlichen Bestandteile. Es ist großartig, wie der Buddha dieses Mittel anwandte und durch "unerbittliche Analyse" (M. Eliade) die Existenz einer ewigen, sich durch die Wiedergeburten wie eine Perlenkette ziehenden Seele (atman) widerlegte und demonstrativ den "An-Atman" (Pali: anatta) verkündete, die Seelenlosigkeit (auch: Ichlosigkeit) der empirischen Person. Die fünf Konstituenten der empirischen Person ("khandhas") - Körper, Empfindungen, Wahrnehmungen, Geistesregungen und Bewusstsein - sind nämlich sämtlich vergänglich und erfüllen daher nicht die an eine Seele zu stellende Anforderung, den Tod zu überdauern:

  1. Da ist zunächst der Körper (rupa), dessen Vergänglichkeit für jeden Betrachter klar auf der Hand liegt. Er ist unbeständig und leidhaft, in ihm kann nicht die ewige Seele, das Selbst (Skt: atman, Pali: atta) gesehen werden. Der Körper ist der Träger der restlichen vier (nichtphysischen) Khandhas (nama). Auch in diesen sucht man vergeblich nach der (ewigen) Seele:
     
  2. Die Empfindungen, also unsere sinnlichen Eindrücke, wechseln ständig, auch sehr extrem, und sind von verschiedensten Einflüssen abhängig. Was so schwankend und abhängig ist, kann nicht unser ewiges Ich sein.
     
  3. Die Wahrnehmungen entstehen im Kopf aus den Empfindungen, sie sind wechselnd positiv, negativ oder neutral. Sie sind nicht das Ich selber, sondern verstärken das Greifenwollen nach einem Ich.
     
  4. Die Geistesregungen, nämlich Begierden und Absichten, sind abhängig von den Wahrnehmungen und drängen darauf, Vorstellung in Wirklichkeit zu verwandeln. Ohne selber dauerhaft zu sein, prägen sie unsere Gewohnheiten, sind Anstifter zu karmischem Tun.
     
  5. Das Bewusstsein schließlich ergibt sich aus der Summe der anderen drei Nama-Elemente und kann somit erst recht nicht den "Atta" enthalten.

Diese analytische Zerlegung der Persönlichkeit in physische und mentale Bestandteile ist vom Buddha erschöpfend gemeint und kann auch aus heutiger Sicht so verstanden werden. Die Aussage Buddhas deckt sich mit heutiger wissenschaftlicher Erkenntnis, dass das "Ich" nur ein Bündel verschiedener Perzeptionen ist, die einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und ständig in Fluss und Bewegung sind. Die Welt ist nicht, sondern sie geschieht, die scheinbare Beständigkeit des Ich besteht nur in der Kontinuität.

Und dieses Kontinuum von Daseinsfaktoren findet nach buddhistischer Überzeugung gemäß der Wiedergeburtslehre kein definitives Ende durch den Tod. Denn an den letzten Moment des Sterbenden schließt sich unmittelbar (nach mahayanischer Ansicht auch später) der erste Moment eines neu entstehenden Wesens an. Da alles in der Welt, insbesondere die empirische Person, vergänglich ist, muss auch die brahmanische Annahme eines Atman falsch sein, denn dieser wird ja als ewige, sich durch die Wiedergeburten ziehende Entität angesehen.

Es sei darauf hingewiesen, dass der Buddha nicht nur durch rational-nüchterne Analyse der Khandhas, sondern auch im Wege der Erleuchtung die Unpersönlichkeit des Daseins erfuhr: Analyse und mystische Schau gehen also ineinander über.


Beweisfälligkeit des Seelenglaubens

Der Buddha hat die Atman-Lehre verworfen und damit die letzte Hoffnung zerstört, den Träger des Lebens doch noch irgendwie im Körper zu finden. Stattdessen hat er in einer intellektuell äußerst anspruchsvollen Theorie die Erlösung auf den Weg der Ethik verwiesen. Er besaß den Mut, den Massen nicht die als "Ananda" bezeichnete metaphysische Wonne zu versprechen, sondern beschränkte sich auf die Mitteilung eines der Leidensüberwindung dienenden Verfahrens. Das alte Mikrokosmos-Makrokosmos Schema wurde nun endgültig aufgegeben, die Magie fiel weg und aus Religion wurde Philosophie.

Die Existenz eines Ich im Sinn von emotionalen Regungen - verbunden mit dem daraus folgenden, jedem Menschen vertrauten Ich-Gefühl - zweifelte Buddha jedoch in keiner Weise an. Was er bestreitet, ist die Existenz einer ewigen Seelen-Entität, die den Tod überdauert und der Seelenwanderung unterliegt. Dabei ist dies Bestreiten mehr als eine als "Skepsis" zu bezeichnende intellektuelle Position zu verstehen, denn der Buddha fordert die Vertreter des Seelenglaubens auf, doch einen Beweis für die Existenz eines unvergänglichen Selbst zu führen. Seine Kontra-Stellung gegen die Atman-Theorie gilt nicht primär der Leugnung eines "Etwas" hinter den Dingen, sondern der brahmanischen Behauptung, ein durch Abstraktion gebildeter Begriff wie der Atman sei die einzige Realität.

Die Frage nach dem Atman blieb letztlich unbeantwortet: Auf die vom Wanderasketen Vacchagotta an ihn gerichtete direkte Frage, ob es nun einen Atman gibt oder nicht, hat der Buddha geschwiegen und damit angedeutet, dass die Wahrheit zwischen dem Vernichtungsglauben der Materialisten einerseits und dem Glauben an eine ewige Seele andererseits liegt. Buddhas Anatta-Lehre ist ein mittlerer Weg zwischen den beiden Extremen der an eine ewige Seele Glaubenden einerseits und der von völliger Vernichtung durch den Tod Überzeugten andererseits.

Der Buddha handelte und lehrte ausschließlich als Erlösungspragmatiker, die Erklärung der Welt war nicht seine Aufgabe. Letztlich war für ihn die Frage nach einer Seele nur sekundär. Mit seiner Anatta-Lehre hat Buddha Gautama anscheinend nicht leugnen wollen, dass es etwas hinter oder außerhalb der empirischen Welt geben könnte. Dieses Etwas war aber nicht zu erkennen und brauchte aus der Sicht der Erlösungssuche auch gar nicht erkannt zu werden.

Damit liegt das Schwergewicht der Lehre Buddhas nicht mehr wie das der Atman-Theorie auf der Transzendenz, sondern auf der empirischen Welt. Als nüchterner Pragmatiker geht der Buddha allen Spekulationen wie über den Träger des Lebens einfach aus dem Wege, benutzt seine Anatta-Lehre eher als "heilspädagogisches" Mittel denn als philosophische Doktrin und greift genau da an, wo die Wurzel des Übels ist, nämlich beim Geburtenkreislauf. Die Existenz eines Absoluten kann für ihn dahingestellt bleiben. Erst in späteren Texten, etwa im Milandapanha, wird die Existenz eines wie auch immer gearteten "Selbst" kategorisch verneint.

Unter den Buddhisten ist man sich nicht einig, was die Existenz der Seele betrifft. Der Buddha würde heute wohl lächelnd darauf hinweisen, dass inzwischen 2500 Jahre vergangen sind und der Nachweis des Atman immer noch nicht gelungen ist - seine Skepsis sich also bestätigt habe. Denn auf den Nachweis warten die Seelengläubigen der indischen Religionen genau so vergeblich wie die gläubigen Christen seit 2000 Jahren auf die Auferstehung und das Gottesreich auf Erden. Bis jetzt jedenfalls: Von einer Seele findet sich keine Spur, auch nicht mit den Mitteln der modernen Naturwissenschaft.

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Quelle:
Der Mittlere Weg - majjhima-patipada
47. Jahrgang, September - Dezember 2015, Nr. 3, Seite 6-10
Herausgeber: Buddhistischer Bund Hannover e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. September 2015

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