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STANDPUNKT/001: Psychoanalyse und Zen - Zwei Wege im Umgang mit dem Leiden (Ann-Katrin Godt)


"Psychoanalyse und Zen: Zwei Wege im Umgang mit dem Leiden"

Interview mit dem Zen-Meister Michael Sabaß von Ann-Katrin Godt, 31.10.2009


Freud sagte, dass in der analytischen Behandlung viel gewonnen wäre, wenn es gelingen würde, hysterisches Unglück in gemeines Unglück zu verwandeln, gegen das man sich mit wiedergenesendem Seelenleben besser zur Wehr setzten könne(1). Um dies zu bewerkstelligen meinte Freud: "Wo Es war, soll Ich werden."(2)

Sein Ziel war, Unbewusstes bewusst werden zu lassen und in das Ich zu integrieren, um dies zu stärken.

Dogen sagt: "... den Buddha-Weg zu studieren bedeutet, sich selbst zu studieren, sich selbst zu studieren bedeutet, sich selbst zu vergessen, sich selbst zu vergessen bedeutet, durch die Myriaden von Dingen verwirklicht zu werden."(3)

Im Osten wie im Westen wurde versucht, Antworten darauf zu finden, wie Leiden entsteht und wie Leiden aufgehoben werden kann. Diesen Gemeinsamkeiten und den Unterschieden möchten wir uns in diesem Interview widmen.

Michael Sabaß hat 1980 mit der Zen-Übung begonnen, ist seit 1995 Zen-Lehrer in Bremen und hat 2003 das Buch 'Über die Zen-Übung' veröffentlicht.(4)


Frage: Du hast an der Universität Bremen Veranstaltungen über buddhistische Psychologie angeboten, wie bist du darauf gekommen, Buddhismus und Psychologie zu verbinden?

Michael Sabaß: Für mich liegt das auf der Hand. Die Lehre Buddhas, wie ich sie verstehe, handelt nur davon: 'Wie funktioniert der Mensch', und das mit dem Ziel, wie vollständige Befreiung erreicht werden kann. Das heißt, einen Weg aufzeigen zu können: Wie kann der Mensch tatsächlich sein Leiden radikal und vollständig beenden? Also etwas erreichen, was in unserer Denkweise hier im Westen gar nicht für möglich gehalten wird: vollständig leidfrei zu sein. Wenn ich alles Religiöse aus der Lehre des Buddha streiche, was meiner Ansicht nach erst Jahre, Jahrhunderte danach hineininterpretiert wurde wie z.B. Rituale, die scheinbar viel mit Gottheiten zu tun haben und für uns wie Gebete aussehen, dann ist Buddhismus die Wissenschaft vom Menschen. Alle Symbole und Rituale sind "upaya", das heißt geschickte Mittel, um auf sich selber Einfluss zu nehmen, in sich selber, mit sich selber zu bewirken, dass man diesen Weg wirklich gehen kann, gehen möchte.


Frage: Du schreibst in Deinem Buch über die Zen-Übung, dass es in der Psychotherapie darum geht, Probleme zu klären und erträglich zu machen, während es im Zen darum geht, die Buddhanatur zu verwirklichen. Wie ist dieser Unterschied zu verstehen?

Michael Sabaß: Wie du Freud zitiert hast, geht es in der Psychoanalyse darum, Leiden erträglich zu machen oder Leiden soweit zu mindern, dass der Mensch alltagsfähig ist, ohne in schwierigen oder kritischen Situationen in Depressionen oder stark neurotisches Verhalten zu verfallen. Und der Weg dazu, den Freud aufgezeigt hat, ist, das Unbewusste bewusst zu machen und zu integrieren. Soweit ich das weiß, aber nur partiell, das heißt, die Psychoanalyse hat nicht den Anspruch, den Menschen insgesamt und vollständig von seinen Neurosen zu befreien, also eine große Befreiung zu erreichen von allen Abhängigkeiten, von allen Vorstellungen, allen Anhaftungen, allen Konzepten. Eine Psychoanalyse scheint für mich erfolgreich abgeschlossen werden zu können, wenn sowohl der Therapeut als auch der Patient sagt: "Ach, jetzt eigentlich komme ich ganz gut in meinem Leben klar." Zen will aber den ganzen Menschen befreien und zwar vollständig. Es soll das verwirklicht werden, was die vier Brahmaviharas genannt wird: Liebe, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut.

Also eine fundamentale Transformation zur Entwicklung von Weisheit und Mitgefühl. Damit verändert sich auch der Umgang mit mir selbst und mit anderen Menschen. Es ist dann nicht mehr wichtig, eine Verletzung, eine Trauer - irgendein Problem also - loszuwerden, sondern ich beobachte mich selbst und prüfe, wie ich damit umgehe. Was hat meinen Ärger ausgelöst, was meine Verletztheit, wie kann ich damit umgehen? Falle ich in Jammern oder Ärger, weil ich das Problem nicht haben will, oder kann ich in Gleichmut verweilen?

Ich muss nicht dankbar sein für Probleme, auch wenn sie eine Chance für mich sind, wenn ich auf dem Weg bin - aber sie annehmen, dass sie da sind und sie gar nicht loswerden wollen. Und ich vermute, das ist ein anderer Anspruch, als ihn die Psychoanalyse hat.


Frage: Im Buddhismus wird gesagt wird, dass man das Ego oder Ich transzendieren und als Illusion erkennen soll, während in der Analyse gesagt wird, dass man ein stabiles starkes Ego oder Ich entwickeln soll. Sind das zwei gegensätzliche und einander ausschließende Aussagen?

Michael Sabaß: Nein das sind sie nicht. In der Psychoanalyse geht es um die Entwicklung eines fundamentalen Selbstvertrauens: Ich darf hier sein, so wie ich bin; ich kann eine gesunde Abgrenzung zwischen mir und anderen bewerkstelligen, das innere Weltmodell, mit dem ich in dieser Welt lebe, ist hinreichend kongruent mit dem, wie ich die Wirklichkeit erlebe.

Niemand würde behaupten, im Zen ginge es darum, dieses Ich loszulassen. Im Gegenteil, wer das wirklich verwirklicht hat, den könnte man als erleuchtet bezeichnen. Im Buddhismus geht es um die Illusion, dass es in mir eine Persönlichkeit gäbe, eine Entität, ein Selbst, das mich und meine Identität ausmacht. Diese Vorstellung von einem Ich erzeugt eine fundamentale Dualität, in der ich mich und die Welt erlebe. Nämlich hier ist ein Ich, alles andere ist Nicht-Ich und getrennt von mir. Und diese Dualität, diese Aufteilung in meinem Denken, in meinem Fühlen, in meinem Umgang mit der Welt, diese tiefe Dualität ist nach Buddha die tiefste Ursache allen Leidens. Und aus dieser Illusion resultiert eben dieses 'um mich selbst bekümmert Sein'. Diese Angst, dieses um mich bekümmert sein, dieses Ich zu überwinden, darum geht es eigentlich im Zen. Und da reicht es nicht, dieses Ich rational als Illusion zu verstehen, sondern es ist langer langer Prozess der Transformation nötig, dass ich mich nicht mehr mit all' dem, was da in mir vorgeht, identifiziere.


Frage: Im Zen wird das sich selber Beobachten geübt. Es findet auch beim Sitzen während der Meditation freies Assoziieren statt, die Gedanken die dabei auftauchen, werden aber nicht gedeutet, sondern wieder losgelassen, während sie in der Psychoanalyse gedeutet werden. Was ist der Sinn des Loslassen im Unterschied zur Deutung?

Michael Sabaß: In den meisten Zen Schulen wird dem Anfänger gesagt:" Lass deine Gedanken und Gefühle und Videoclips im Geist kommen und wieder gehen. Sei nur Gewahrsein, übe Achtsamkeit beim Sitzen und im Alltag." Es kommt natürlich während des Sitzens, während der Meditation alles Mögliche aus dem Unbewussten hoch, und die Anleitung oder Anweisung ist: Hafte nicht daran, knüpfe nicht an die Impulse, die hochkommen, alle möglichen Gedankenketten und Videos. Wenn du nicht an dem interessiert bist, was da in Deinem Geist abgeht, dann hören die Gedanken von alleine auf.

In vielen Zen-Schriften wird dies den Anfängern so nahegelegt, als wäre das ganz einfach. Ich habe es aber so erlebt, als spielte da in mir ein elektrisches Klavier, und ich kann weder bestimmen, was es spielt, noch den Stecker ziehen. Ab und zu hört es mal ganz kurz von alleine auf, und ohne mein Zutun erlebe ich wunderbare Stille. Viele Jahre lang habe ich aber alle Kraft darauf verwendet, mich auf den Atem zu konzentrieren, habe Atemzüge gezählt und mich auf Mantren konzentriert, um das Klavier zum Schweigen zu bringen. Erst nach vielen Jahren Übung ist es dann immer öfter eingetreten, dass das Klavier von alleine zu spielen aufgehört hat, weil ich mich nicht mehr für die Inhalte interessiert habe. Und das nicht nur beim Sitzen, sondern auch im Alltag. Das hat ja zugleich die im Zen angestrebte Folge, dass die Neurosen, Verletzungen Traumata und alles, was die Gedanken und Gefühle auslöst, keine Gewalt mehr über mich hat.

Soweit ich das verstehe, ist die freie Assoziation in der PA etwas ganz anderes: Da wirst, du ja aufgefordert, deine Gedanken laufen zu lassen und tatsächlich in die Ketten reinzugehen, von einer Gedankenkette zur nächsten, an dir interessiert zu sein. Und dann geht es auch noch darum, das zu deuten, Ursachen in der Vergangenheit zu finden, alte Verletzungen, Traumata vielleicht noch einmal zu erleben, zu fühlen, in die Vergangenheit einzutauchen, um dadurch die Macht der Vergangenheit über dich zu lösen..

Es ist m.E. auch nicht das gleiche, ob ich auf der Couch liege und in meinem Alltagsbewusstsein die Gedanken kommen und wieder fließen lasse, oder ob ich gelernt habe, mit der Meditation in tiefere Ebenen meines Bewusstseins zu kommen, in denen der Geist tiefer erfahren, tiefer erlebt wird, als es im normalen Alltagsbewusstsein der Fall ist. Deswegen glaube ich auch, bewirkt Meditation etwas Anderes als das freie Assoziieren auf der Couch.


Frage: Siehst du andere Gemeinsamkeit mit der Psychoanalyse, in der es auch darum geht, seine Vergangenheit durch "erinnern, wiederholen, durcharbeiten" loslassen zu können, um frei für die Gegenwart, wie sie ohne unsere vergangenheitsbezogene Brille ist, zu werden?

Michael Sabaß: Also Ähnlichkeiten oder Gemeinsamkeiten gibt es sicherlich. Ich weiß halt nicht, ob der Klient einer Analyse, wenn er sie abgeschlossen hat, nicht doch noch Vergangenheitsbezogen bleibt. Ein Zen-Schüler nach etwa 15 - 20 Jahren kontinuierlichem intensivem Training sollte eigentlich das verhaftet-Sein an Vergangenheit genauso wie an die Zukunft verlieren. Vergangenheit ist als Erinnerung natürlich da, aber nicht mehr relevant, es ist nicht mehr wichtig, was da gestern oder vor zehn oder 50 Jahren gewesen ist. Und ebenso sollte auch das verhaftet-Sein an die Zukunft gelöst sein, also an Vorstellungen und Wünsche, was er gerne in Zukunft erleben oder vermeiden möchte. Es spielt im alltäglichen Denken keine Rolle mehr.


Frage: Du benennst das Unbewusste in deinem Buch 'Keller' und beziehst dich auf das Alaya-Bewusstsein. Was ist der Unterschied zwischen Alaya-Bewusstsein im Buddhismus und dem Unbewussten in der Psychoanalyse?

Michael Sabaß: Das Alaya Bewusstsein ist in der Lehre des Buddha der große unbewusste Speicher, in dem alle Erinnerungen liegen, aber auch alle sogenannten Keime, also alles, was ich in meiner Vergangenheit nicht erledigt habe, nicht abgeschlossen habe, was noch Energie oder Potential hat, in mir wirksam zu werden - als Wünsche, als Ängste, als Befürchtungen, als Neigung zum Glücklichsein oder zum verzweifeln oder zum depressiv sein und so weiter. Auch alle meine Vorstellungen und Konzepte über mich und die Welt, mein 'inneres Weltbild'. Alles das ist Alaya. Das dürfte so ziemlich das gleiche sein wie das Unbewusste in der Psychoanalyse, auch wenn die gewählten Strukturen von 'Ich' und 'Es' andere sind als im Buddhismus. In der buddhistischen Bewusstseinslehre 'vijnana' gibt es aber eine noch tiefere Ebene des Bewusstsein, nämlich 'akasha', ein transpersonales universelles Bewusstsein, und die Grenze zwischen alaya und akasha ist offen. Da ähnelt dem kollektiven Unbewussten nach C.G. Jung.


Frage: Zen ist absichtslos und nicht dualistisch, folglich kann auch die Erleuchtung kein Ziel sein, denn dies würde wieder eine Dualität zwischen Selbst und Welt schaffen, deren Abschaffung ja gerade das Ziel der Erleuchtung ist. Trotzdem existiert im Zen ein Ziel, nämlich sein wahres Selbst, den Menschen ohne Rang und Namen zu erreichen. Was ist der Mensch ohne Rang und Namen?

Michael Sabaß: Also erstmal fängt jeder mit der Zen-Übung an, weil er ein Ziel hat, so wie ich auch vor 30 Jahren. Ich kenne niemanden, der von Anfang an das 'Nichts-Tun' verwirklichen würde oder könnte.

Der Mensch ohne Rang und Namen ist so ein Ausdruck, der auf Erleuchtung, vollständige Erleuchtung hinweist. Ich denke, das ist einer, der an nichts mehr hängt, der an seinem Ich nicht mehr hängt, der nicht mehr an irgendwelchen Konzepten hängt, an irgendwelchen Ideen, an irgendwelchen Wünschen. Aber jeder benutzt dennoch den Begriff 'Ich', auch Erleuchtete benutzen Konzepte. Der entscheidende Punkt ist, nicht daran zu hängen und in jedem Augenblick, während man ein Konzept, eine Idee, eine Vorstellung benutzt, zu durchschauen, dass es nicht die Wahrheit ist. Es sind also nur Hilfsmittel, um in dieser relativen Welt bestehen zu können, mit Menschen reden, mit Menschen umgehen zu können, mit sich selbst umgehen zu können. Wenn ich nicht um mich selbst bekümmert bin, dann liegt mir das Wohl und Wehe meiner Umgebung am Herzen. Dann geht es in allem Tun und Denken nicht mehr darum, etwas für mich zu erreichen oder etwas für mich vermeiden zu wollen, sondern es geht darum, um mich herum Glück und Harmonie und Lebendigkeit zu befördern.


Frage: Lässt sich eine Analogie herstellen zwischen dem Gewahrsein oder Shikantaza im Zen und der freien Assoziation des Patienten auf der Couch?

Michael Sabaß: Ja, wie ich vorhin schon gesagt habe, Analogien gibt es sicherlich, aber der wesentliche Unterschied ist für mich, dass Meditation eben in tiefere Ebenen des Geistes führt als die freie Assoziation in der Psychoanalyse. Und deswegen ist auch die Wirkung anders.

'Reines Gewahrsein' ist ein Geisteszustand, in dem alles stattfinden darf, keine Kontrolle ausgeübt wird - da sind also Gedanken, da laufen Videoclips im Geist, da wird alles, was die fünf Sinne liefern, nur wahrgenommen ohne Eingreifen, ohne Wertungen, ohne Beurteilungen. Wer das zu üben beginnt, ist erstaunt oder gar erschrocken, mit welcher Gewalt der 'kleine Kontrolleur' in meinem Hinterkopf agiert, der alles beurteilt, in Frage stellt, in 'Richtig' und 'Falsch' einordnen will usw.

Reines Gewahrsein wird zu 'Shikantaza', wenn das Interesse an den Geistesinhalten verlöscht - dann hört das innere Klavier auf zu spielen, und es bleibt ein unglaublich waches Wahrnehmen aller 5 Sinne, ohne dass im Geist eine Reaktion stattfindet. Das nennt man 'in Gleichmut in Stille sitzen'.


Frage: Wenn jetzt ein Patient in der Analyse für einen Augenblick alle Muster fallen lassen kann oder seine Vergangenheit fallen lässt, kann man dann vielleicht auch von Erleuchtung sprechen im Sinne des Zen?

Michael Sabaß: Da muss ich erst einmal etwas zu Begriff 'Erleuchtung sagen', der sehr häufig missverständlich benutzt wird und in den viel hinein interpretiert wird. Ich verstehe es so: Es gibt drei Arten oder drei unterschiedliche Interpretationen von Erleuchtung.

Das eine ist das plötzliche Erleuchtungserlebnis, japanisch 'Satori' oder 'Kensho'. Das Bewusstsein springt spontan aus dem Alltagsbewusstsein in einen völlig anderen veränderten Bewusstseinszustand, in dem man erlebt, dass alle Ideen und alle Konzepte, alles Ich plötzlich verschwunden ist, und man sieht die Welt mit völlig anderen Augen. Ich habe es so erlebt, als hätte ich bisher in einer schwarz-weiß-Fotografie gelebt, und ganz plötzlich ist die Welt dreidimensional, farbig und bunt. Und das entscheidende Kennzeichen einer solchen Erscheinung ist: Ich bin eins mit der Welt, die Welt ist eins mit mir. Die Dualität von Ich und Nicht-Ich, von der ich vorhin gesprochen habe, ist völlig weg. Aber das Bewusstsein kehrt langsam wieder in das Alltagsbewusstsein zurück, und im Grunde findet man sich dann auf der gleichen Ebene wieder wie vor diesem Erleuchtungserlebnis. So ein Erleuchtungserlebnis, so ein Satori ist sozusagen ein Blick in das wahre Selbst, aber es geht wieder vorbei.

In einer anderen Interpretation von 'Erleuchtung' wird einem gesagt: "Du bist Buddha, so wie Du bist, also mach doch nicht solche Anstrengungen, sondern nimm dich an, wie du bist. Es gibt nichts zu tun". Ich finde, diese Aussage trifft haargenau den Punkt dessen, was Zen meint bzw. worauf es hinführen will. Wenn du alle Bewertungen von 'gut' und 'schlecht' weg lassen kannst, dann ist die Welt 'Buddha', erleuchtet, so wie sie gerade ist. Wir können es nur nicht glauben. Also müssen wir üben. Das bedeutet nicht Gleichgültigkeit, sondern öffnet dich für Liebe, Mitfreude, Mitgefühl und Gleichmut - und Handeln, um das Leiden anderer zu mindern.

Der eigentliche Begriff 'Erleuchtung' ist die allmähliche Erleuchtung, eine grundlegende Transformation, die viele viele Jahre dauert, bis man dieses wahre Selbst, wie man es im Satori einmal kurz erlebt hat, tatsächlich dauerhaft verwirklicht hat. Das ist ein ewig langer Weg. Ich weiß nicht ob es so etwas wie 'vollständige Erleuchtung' gibt, wie es dem historischen Buddha zugeschrieben wird. Wir sind alle, und zwar alle, ob Schüler oder Zen-Meister oder keins von beidem, 'partiell erleuchtet' - nämlich in Bezug auf Ereignisse oder Dinge oder Menschen, an denen wir nicht haften und wo diese Getrenntheit von Ich und Objekt keine Rolle spielt, wo wir nicht um uns selbst bekümmert sind. Wenn du z.B. einen Kranken versorgst, an dem du nicht hängst, an dem du nicht haftest, dann bist du unbefangen, bist klaren Geistes und sorgsam. Also du bist leer (shunyata), das heißt, du hängst nicht an Konzepten, du bist unbefangen und offen. Du bist weise (prajna), du erkennst klar die Situation, was der Kranke braucht, bist offenen Geistes. Und du hast Mitgefühl (Karuna), du bis berührt, was dich ja dazu bringt, zu helfen, du bist sorgsam. Solche Situationen kennt jeder von uns, nicht nur in irgendwelchen Augenblicken, sondern in Bezug auf bestimmte Menschen oder Situationen.

Erleuchtung ist also keine Eigenschaft, sondern ein Ereignis in diesem und nur diesem Augenblick. Ich denke schon, dass die Psychoanalyse dazu verhilft, eben immer öfter oder in immer mehr Bereichen des Lebens oder der Begegnungen erleuchtet zu handeln und zu denken und zu fühlen.


Frage: Besteht das Verbindende von Psychoanalyse und Zen vielleicht darin, dass beide daran arbeiten, uns von alten Mustern zu befreien, damit es gelingt, eine nicht-dualistische Sicht der Welt einzunehmen? Oder unternimmt jede der beiden einen eigenen Versuch, mit dem Dualismus zwischen Subjekt und Objekt umzugehen?

Michael Sabaß: Ich weiß nicht, ob die Psychoanalyse wirklich den Dualismus überwinden will. Ich vermute, die Psychoanalyse will einen einigermaßen gesunden Umgang mit dem Dualismus zwischen Subjekt und Objekt, also im Umgang mit sich selbst, mit Situationen, Dingen oder anderen Menschen erreichen. Aber sie hat, glaube ich, nicht den Anspruch, eben diesen Dualismus vollständig aufzuheben, was im Buddhismus Einheit genannt wird, so wie ich vorhin so ein Erleuchtenserlebnis geschildert habe: sich wirklich nicht getrennt zu erleben, nicht getrennt zu sein von Allem um mich herum.


Frage: Was können Zen und Psychoanalyse voneinander lernen?

Michael Sabaß: Für die Praxis des Zen genügen die einfachsten Modelle des Geistes, des Bewusstseins, weil es nur darum geht, die Identifikation mit den Gedanken und Gefühlen aufzulösen und sich nicht für das 'Dahinter' zu interessieren. Deswegen meine ich auch, dass ein Zen-Schüler nicht gleichzeitig Analyse machen soll.

Zen ist keineswegs für jeden Menschen eine geeignete Praxis, und Zen-Lehrer sollten das unterscheiden können. Für Zen Lehrer, Zen-Meister kann daher sicherlich vieles von dem Wissen der Psychoanalyse über den Menschen und über den Umgang mit Neurosen, mit dem Unbewussten wichtig sein: Das mag für das Zen, wie es in Klöstern in Asien praktiziert wird, nicht gelten, aber für das Laien-Zen im Westen durchaus. Wenn die Praxis in Asien ohne Reflektion einfach nur blind auf Menschen mit westlichen Denkmustern und Weltbildern übertragen wird, kann nicht nur viel von den Wirkungen, die die Zen-Übung haben kann, verloren gehen, sondern auch viel Schaden angerichtet werden.

Was Analytiker vom Zen lernen können, darüber kann ich nur spekulieren. Ich denke, die buddhistische Psychologie hat in ihrer Analyse von Geistesvorgängen eine Tiefe und Differenziertheit, die generell für die Psychologie des Westens spannend sein könnte für das Verständnis dessen, zu was der Geist fähig ist und welche Wege es gibt, ihn zu heilen. Dabei meine ich ausdrücklich nicht nur Zen, sondern eher noch andere buddhistische Richtungen.

Für Analytiker könnte vielleicht auch interessant sein, etwas über meditative Bewusstseinszustände zu erfahren und damit möglicherweise - das ist jetzt Spekulation - die Wirksamkeit einer analytischen Sitzung zu erhöhen. Ob und wie aber Meditation und Kontemplation für analytische Sitzungen nutzbar gemacht werden könnte, das kann ich nicht beurteilen.


Ann-Katrin Godt: Ja, vielen Dank für das Interview.


Anmerkungen:

(1) (Freud: 1895, Studien über Hysterie: Zur Psychotherapie der Hysterie, GW I: 311-312)
(2) (Freud, 1933, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. GW XV., S. 86)
(3) (Meister Dogen (1200-1253), Shobogenzo Genjokoan)
(4) 'Über die Zen-Übung - und warum wir uns das antun', pro-business-Verlag, ISBN 3-934529-09-7


Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
Dieses Interview mit Michael Sabaß entstand im Vorfeld der Podiumsdiskussion Psychoanalyse und Zen - Neurose und Erleuchtung mit dem Psychoanalytiker Ralf Zwiebel und dem Zen-Lehrer Michael Sabaß am 27. November 2009 in Bremen.

Weitere Informationen unter:
www.schattenblick.de -> Infopool -> Religion -> Buddhismus
TERMINE/517: Bremen - Psychoanalyse und Zen - Neurose und Erleuchtung, 27.11.09


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Quelle:
© 2009 Ann-Katrin Godt, Bremen
Der Schattenblick veröffentlicht das Interview mit der freundlichen Genehmigung der Autorin


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. November 2009