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BERICHT/256: Bilanz zum Besuch Benedikts XVI. in den USA (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 6/2008

Papst der Überraschungen
Eine Bilanz zum Besuch Benedikts XVI. in den USA

Von Ferdinand Oertel


Bei seiner Reise in die USA im April (vgl. HK, Mai 2008, 220f) hat Benedikt XVI. viele katholische und nicht-katholische Amerikaner durch die Art seines Auftretens wie durch seine Botschaft positiv überrascht. Er fand klare Worte zum kirchlichen Umgang mit den Pädophilieskandalen der vergangenen Jahre und grundierte Kritik an Entwicklungen in der amerikanischen Gesellschaft mit Lob für das amerikanische Verhältnis von Demokratie und Religion.


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Es kommt selten vor, dass die deutsche Wochenausgabe des "Osservatore Romano" auf der Titelseite als Aufmacher nicht eine aktuelle Ansprache des Papstes dokumentiert, sondern den Namensbeitrag eines Redaktionsmitgliedes veröffentlicht. Dies geschah in der Ausgabe vom 2. Mai 2008 mit einem Artikel, der die Überschrift "Eine historische Reise - reich an Ereignissen" trug und mit dem Kürzel g.m.v. unterzeichnet war. Dahinter verbirgt sich der Direktor der Gesamtausgabe des "Osservatore", Giovanni Maria Vian. Er gehörte zu den vatikanischen Begleitern des Papstes auf dessen Amerikareise und stellte aus eigener Anschauung fest: "Papst Benedikt XVI. hat den Vereinigten Staaten von Amerika seine Freundschaft bekundet." Damit drückte er genau das aus, was die amerikanischen Katholiken empfanden - und in dieser Form nicht erwartet hatten.

So ungewöhnlich diese persönliche Kommentierung im offiziösen Organ des Vatikans ist, so ungewöhnlich war die erste Reise Benedikts XVI. in die USA insgesamt. Direktor Vian hätte in der Überschrift seines Beitrages ergänzend einfügen können: - "reich an überraschenden Ereignissen". Die erste Papstreise Benedikts XVI. in die USA vom 14. bis 20. April 2008 war akribisch geplant, fast auf die Minute, wie aus den Programmankündigungen hervorging. Und doch steckte sie voller Überraschungen, die nicht nur den Katholiken, sondern auch dem amerikanischen Volk einen anderen Papst zeigten, als sie ihn kannten. Er bekundete tatsächlich ganz Amerika "seine Freundschaft" (Vian), besonders auch wohl deshalb, weil er - wie der kirchenkritische "National Catholic Reporter" in einem Editorial schreibt - "nicht als Professor, als Lehrmeister und Kirchen-Oberhaupt" kam, sondern "als bescheidener Seelsorger, der diejenigen suchte, die Schweres erlitten haben, um ihnen keine Predigt zu halten, sondern zuzuhören und sich von ihren Tränen rühren zu lassen".

Vor dieser ersten Reise des Papstes in die Vereinigten Staaten hatte es sowohl im Vatikan als auch in Amerika eine Reihe von Bedenken und Vorbehalten gegeben. Der ursprüngliche Anlass war eine Einladung des Generalsekretärs der Vereinten Nationen an den Papst, anlässlich des 60. Jahrestages der Gründung dieser Weltorganisation vor der Vollversammlung eine Ansprache zu halten. Da diese Vollversammlung jedoch erst im Herbst 2008 stattfindet und damit in die Endphase des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfes fällt, war man im Vatikan bestrebt, die Reise vorzuverlegen, um eine parteipolitische Instrumentalisierung auszuschließen.


Bedenken und Vorbehalte vor der Reise

Dazu bot ein zweiter Anlass Gelegenheit: die vor 200 Jahren vom ersten katholischen Bistum in den USA, Baltimore, ausgehende Gründung der vier Erzbistümer New York, Boston, Philadelphia und Louisville. Zu diesen Feiern lud die US-Bischofskonferenz den Papst ein, und daher konnte die Reise auf Mitte April vorverlegt werden, nachdem auf diplomatischem Weg für diesen Zeitpunkt auch eine Begegnung mit dem US-Präsidenten vereinbart worden war.

Unter das Motto "Christus unsere Hoffnung" stellten die amerikanischen Bischöfe die Vorbereitung und Durchführung der Papstreise. Es blieb nicht verborgen, dass Benedikt XVI. selbst bei den katholischen Gläubigen nicht so bekannt, vertraut und beliebt war wie sein Vorgänger, Johannes Paul II., der nach seinen mehrmaligen Besuchen in den USA in den achtziger und neunziger Jahren zum "Medienstar" avanciert war. Joseph Ratzinger hatte als Kardinal zwar mehrfach die USA besucht, aber nur vor kleineren Bischofs- und Theologenkreisen gesprochen. Er galt als orthodoxer Lehrmeister und Zensor, nachdem er als Präfekt der Glaubenskongregation mehrere lehramtliche Verbotsverfahren gegen Personen und Entwicklungen in den USA durchgeführt hatte.

Es wurde die Sorge laut, dass er nur abstrakt und dozierend seinem "Auftrag als Lehrer, Heilsverkünder und Regierender" folgen und nur den "Amtsvertretern" begegnen, nicht aber mit einfachen Gläubigen aller Schichten und Hautfarben zusammentreffen werde. Als Risiko erschienen Aktionen, die von progressiven Gruppierungen für Frauenordination, Recht auf Abtreibung und Homo-Ehen angekündigt waren. Und als spannungsgeladen wurde auch die Begegnung mit den einflussreichen jüdischen Vertretern angesehen, weil es wegen der neuen Karfreitagsbitte für den "alten" Ritus zu Unstimmigkeiten gekommen war. Schließlich kursierte noch die bange Frage: Würde der Papst sich zu dem sexuellen Vergehen so vieler Priester an Jugendlichen äußern, und wenn ja, in welcher Weise?

Positiv überrascht hatte das "Time"-Magazin mit einer Titelgeschichte unter der Überschrift "Der amerikanische Papst". Darin hieß es, Benedikt XVI. habe "eine sanfte Vorliebe für die Amerikaner", und zwar nicht nur, weil er in der katholischen Kirche viele Grundwerte lebendig sehe, sondern auch, weil er "auf faszinierende Weise" eine Vision von Amerika habe, die den Amerikanern selbst manchmal verlorengehe: als "ziviles Modell" einer Gesellschaft, in der Staat und Kirche getrennt seien, die Religion sich jedoch frei entwickeln und auf die Gesellschaftsgestaltung vital wirken könne.

Und dann begann das Unerwartete und Überraschende, das dem Papst schließlich den Namen "Pope of Surprises" einbrachte. Schon auf dem Hinflug bezog Benedikt eindeutig Stellung zum Pädophilieskandal und bekundete vor den mitreisenden Journalisten seine tiefe Scham über die sexuellen Vergehen so vieler amerikanischer Priester an jungen Menschen. Er erklärte dieses Verhalten als "dem Dienst am Evangelium entgegenstehend", so dass solche Priester für immer von der Seelsorge ausgeschlossen bleiben müssten. Damit traf der Papst nicht nur den Kern der Krise in der amerikanischen Kirche, sondern auch ein Thema, das gerade zu diesem Zeitpunkt viele Amerikaner erregte: die Aufdeckung neuer sexueller Missbräuche in der Polygamisten-Sekte in Texas.


Versöhnen und Heilen

Mit dem offenen Ansprechen des kirchlichen Sexualskandals weckte Benedikt (den die säkularen US-Medien in den nächsten Tagen nur noch "Heiliger Vater" nannten) so am Beginn seiner Reise eine nicht erwartete Aufmerksamkeit der säkularen Medien, die sich noch steigerte, als er seine tiefe Betroffenheit über diese Vergehen immer wieder äußerte: in Washington bei seiner Ansprache im Weißen Haus, beim Treffen mit den amerikanischen Bischöfen und bei allen Großveranstaltungen bis hin zum Abschlussgottesdienst im Tankee-Stadion in New York. Und als bekannt wurde, dass er sich mit einigen Opfern des sexuellen Missbrauchs privat getroffen hat und sich ihnen gegenüber entschuldigte für das, was ihnen Priester angetan haben, schrieb die "New York Times": "Dieses Treffen macht deutlich, dass von all den Botschaften, die Benedikt auf seiner fünftägigen Reise in den USA verkünden will, diejenige zentral ist, die den Missbrauch der Priester betrifft."

Höchste Medienaufmerksamkeit fand von Anfang an ein zweites unerwartetes Bekenntnis Benedikts: sein Lob der amerikanischen Demokratie und vor allem der Religionsfreiheit, "die dieses Land für Generationen von Einwanderern anziehend" gemacht habe. Als er vor den Führungsspitzen der USA im Garten des Weißen Hauses die Ursprungsidee der "Gründerväter" zitierte, dass alle Menschen nach dem Willen des Schöpfers in Freiheit und Gleichheit geboren sind, erhielt er großen Beifall. Benedikt beließ es jedoch nicht nur beim Lob, sondern betonte, dass Freiheit immer mit der Wahrheit verbunden ist. Wenn eine Gesellschaft sich nicht von der Wahrheit leiten lasse, so der Papst, verliere sie ihre Grundlage: "Eine Demokratie ohne Werte kann ihre Seele verlieren."

Das Thema der Bindung der Freiheit an die Wahrheit variierte Benedikt bei fast allen Veranstaltungen. Und immer wieder brachte er subtil, diplomatisch oder als Seelsorger Kritik an Fehlentwicklungen in der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft an. Bei der ersten großen Messe im Baseball-Stadion von Washington sprach er von "Zeichen eines zerstörerischen Zusammenbruchs der Grundfesten der Gesellschaft", wenn Individualismus und Relativismus zu Entscheidungskriterien würden.

Die "New York Times" rückte in den Mittelpunkt ihres Berichts über diesen Gottesdienst das Eintreten des Papstes für die Rechte der Immigranten. Obwohl er sich nur allgemein für die Menschenrechte von Einwanderern insbesondere hinsichtlich der "Familieneinheit" ausgesprochen und nicht konkret zur umstrittenen Legalisierung der Millionen illegaler Hispanics geäußert habe, habe er "einen Nerv" der gegenwärtigen Politik getroffen. Am selben Tag wurde nämlich bekannt, dass die Einwanderungsbehörde bei Durchsuchungen von Hühnerfarmen im Südwesten der USA mehrere hundert illegale Einwanderer verhaftet hatte. Im Yankee-Stadion erwähnte der Papst als Beispiele für die Missachtung der Menschenwürde in der Geschichte der USA die Versklavung der Schwarzen und das Unrecht an den Indianern (ohne missdeutbare Formulierungen wie auf der Brasilienreise über die Eroberung Südamerikas). Und um seine Verbundenheit mit den katholischen Hispanics, die inzwischen 30 Prozent aller Katholiken in den USA ausmachen, auszudrücken, trug der Papst bei allen Großveranstaltungen Teile seiner Reden auch in spanischer Sprache vor.

Hinsichtlich der Ausübung seines Lehramtes waren die Begegnungen mit dem Episkopat und mit den Professoren der katholischen Universitäten, Hochschulen und Colleges mit besonderer Spannung erwartet worden. Auch bei diesen beiden Begegnungen verhielt Benedikt sich anders als erwartet. Bei der Bischofsbegegnung lobte er den "tiefen Glauben", den "religiösen Eifer", das "Vertrauen auf Gott" der amerikanischen Katholiken und ihren Einsatz für das "Einbringen von moralischen Argumenten" in die öffentliche Debatte. Es ist kaum registriert worden, dass Benedikt dabei besonders die Rolle der Laien ansprach. Den Bischöfen, denen oft vorgehalten wird, Laien nicht in wesentliche Entwicklungen und Entscheidungen einzubeziehen, sagte er, sie seien "mit Laienchristen von beträchtlicher kultureller Vielfalt gesegnet, die ihre umfassenden Gaben in den Dienst für die Kirche und der ganzen Gesellschaft einbringen".

Ohne bestimmte politische Entwicklungen zu nennen, merkte der Papst kritisch an, dass "in den Vereinigten Staaten - wie anderswo - die derzeitige und beabsichtigte Gesetzgebung aus moralischer Perspektive Anlass zur Sorge" gibt. Um "die größere Gemeinschaft allmählich für die moralische Wahrheit zu öffnen", sei die Rolle der katholischen Laien "als Sauerteig in der Gesellschaft" entscheidend. Mit der Bemerkung, dass nicht "alle katholischen Bürger (...) in ethischen Kernfragen" mit der Lehre der Kirche übereinstimmen, dürfte er sich indirekt auf Abtreibung, Homo-Ehen und Embryonenforschung bezogen haben. Hier müssten die Bischöfe "gewährleisten", dass in der moralischen Bildung "auf allen Ebenen die authentische Lehre der Kirche vom Evangelium des Lebens" wiedergegeben werde.

Auf der eindeutigen Verkündigung der Lehre der Kirche bestand der Papst auch bei der Ansprache vor den Vertretern katholischer Bildungsinstitutionen. Abweichungen von ihr seien "weit davon entfernt, die akademische Freiheit zu fördern, sie schwächen hingegen die katholische Identität und führen unvermeidlich zu Verwirrungen, ob moralisch, intellektuell oder spirituell". Andererseits bekannte er sich voll zum "großen Wert der akademischen Freiheit". Sie könne aber nicht als Begründung dafür angeführt werden, um Positionen zu rechtfertigen, die der Lehre der Kirche widersprechen.


Respekt und Zeit zum Gespräch

In seinen Ansprachen bei den Großveranstaltungen in den Baseball-Stadien von Washington und New York ermunterte Benedikt die amerikanischen Gläubigen zur missionarischen Mitgestaltung der Gesellschaft und zur Einheit in der Kirche. Die amerikanische Gesellschaft, die "an einem moralischen Kreuzungspunkt steht", so sagte er den Gläubigen in Washington, brauche die Hoffnungsbotschaft der Kirche und die Treue zur Bibel. In New York nannte er als das Fundament der Einheit "das Wort Gottes, das Fleisch geworden ist in Christus Jesus, unserem Herrn". Alle äußeren Zeichen der Identität, alle Strukturen, Vereinigungen oder Programme, "so wichtig und gar wesentlich sie auch sein mögen", existierten letztlich nur dazu, diese Einheit zu fördern. Und er zeichnete wiederum die "wunderbare Vision einer Welt, die von der befreienden Wahrheit des Evangeliums verwandelt ist".

Die "New York Times" stellte zu diesen Äußerungen des Papstes fest, dass er immer die "Strategie" verfolgt habe, "mehr über das positive Potenzial des Glaubens als über Sünden zu sprechen". Das ging auch aus zahlreichen spontanen Äußerungen von zufälligen Teilnehmern der Papstveranstaltungen hervor, die immer wieder in den Medien zitiert wurden. Dafür nur einige Beispiele aus der "New York Times": Der Papst sei bestrebt, "alle Gläubigen in der Kirche und die Komplexität der Situation anzusprechen"; er sei "offen für alle Dinge, und das gebe vor allem den Menschen Hoffnung, die sich ausgeschlossen fühlten"; er sei "offener und nicht so ernst wie allgemein erwartet"; es gehe "eine Aura des Friedens" von ihm aus.

Das Jesuiten-Magazin "America" fasste den Gesamteindruck so zusammen: "Nachdem man den Papst über eine ereignisreiche Woche mit wichtigen Zeremonien, Diskussionen, Treffen und liturgischen Begegnungen verfolgt hat, blieb vielen ein Mann in Erinnerung, dessen Glaube ihm wirklich Freude brachte, eine Freude, die er mit seinen Mitchristen teilen wollte, den Kindern Gottes".

Dieselbe positive Grundstimmung prägte auch die Begegnungen Benedikts mit den Vertretern anderer Religionen in Washington, den Repräsentanten der anderen christlichen Glaubensgemeinschaften in New Tork und den jüdischen Vertretern beim erst nachträglich eingeschobenen Besuch in der Park East Synagoge in New York. Der Rabbiner und Professor für Geschichte und Theologie des Judentums, Jacob Neusner vom Bard College, der an der interreligiösen Begegnung mit dem Papst teilnahm, äußerte den Gesamteindruck: "Der Heilige Vater ist nicht nur von den Katholiken, sondern auch den Protestanten, den Juden, den Hindus, den Muslimen und den übrigen religiösen Gemeinschaften mit großer Begeisterung aufgenommen worden. Während dieses Besuches ist er der Papst aller gewesen." Dieser überschwängliche Eindruck entstand sicherlich bei Neusner auch deshalb, weil er seit langem im Briefwechsel mit Joseph Ratzinger steht und ihm erstmals in Washington persönlich begegnete. Allerdings verlief auch der Besuch in der jüdischen Synagoge harmonisch, die Verstimmung über die Karfreitagsbitte wurde gar nicht angesprochen, sondern der 78-jährige Rabbi Arthur Schneier, ein österreichischer Jude, der den Holocaust überlebte, sprach ebenfalls von einem "historischen Besuch".

Auf nicht so ungeteilte Zustimmung sollen beim Treffen mit den anderen christlichen Kirchen Benedikts Bemerkungen gefallen sein, dass "prophetische Aktionen" von einzelnen fundamentalistischen Gruppen mit der Bibel und der christlichen Tradition "nicht immer übereinstimmen" und dass andere kirchliche Gemeinschaften "den Versuch aufgegeben haben, in christlicher Einheit zu handeln, wenn sie der Idee lokaler Optionen folgten". Das bezogen Teilnehmer, Beobachter und Medien eindeutig auf Entwicklungen in der anglikanischen Episkopalkirche. Auch bei dieser Gelegenheit unterstrich Benedikt die Rückbindung an die Lehre der Kirche: "Ein klares, überzeugendes Zeugnis unserer Errettung durch Jesus Christus muss auf der Anerkennung der normativen apostolischen Lehre basieren."

Obwohl sein Besuch bei den Vereinten Nationen der Ausgangspunkt der Reise war, ist die Rede des Papstes vor der Vollversammlung publizistisch nicht so beachtet worden wie die Reden seiner Amtsvorgänger Johannes Pauls II. und Pauls VI. Ihm habe die rhetorische Kraft gefehlt, hieß es einerseits in Pressekommentaren, andererseits wiesen Beobachter darauf hin, dass die UN in den USA sowieso nicht besonders hochgeschätzt werden und dass es deshalb sogar - erstmals negativ - überrascht habe, wie Benedikt die Weltorganisation generell gelobt habe.


Klare Akzente vor der UNO

Hauptthema seiner Rede war die Frage der Menschenrechte. Er lobte zwar die vor 60 Jahren verabschiedete Erklärung als "wirksamste Strategie, um Ungleichheiten zwischen Ländern und sozialen Gruppen zu beseitigen und um die Sicherheit zu erhöhen", sprach jedoch auch Unzulänglichkeiten in der Verwirklichung der Grundprinzipien Gerechtigkeit, Menschenwürde, Zusammenarbeit und humanitäre Hilfe an. Dabei fehle es oft am multilateralen Konsens, weil die kleinen Nationen den Entscheidungen der großen Nationen des Sicherheitsrates untergeordnet seien.

Andererseits dürfe das Prinzip der Souveränität jedes Mitgliedstaates nicht dazu führen, Interventionen zu unterlassen, wenn grundlegende Menschenrechte in einem Staat verletzt werden. Damit habe er, so kommentierte "America" das, was man in UN-Kreisen immer als "humanitäre Intervention" bezeichne, zur höchsten Verpflichtung der Weltorganisation erklärt: "die Pflicht zu schützen": die Notleidenden ebenso wie die Unterdrückten.

In einer Analyse dieser Papstrede kommt der Gründer des "Catholic Family and Human Rights Instituts" bei der UN, Douglas A. Sylva, in einem Beitrag für das Monatsmagazin "First Things" zu dem Schluss, dass die tiefere Intention Benedikts den meisten Hörern und Beobachtern nicht bewusst geworden sei. Der Papst habe sich auf den Relativismus bezogen, mit dem die "human dignity" der Menschenrechtserklärung oft missverständlich ausgelegt werde: ohne Bezug auf Gott. Deshalb habe er zur "Wiederentdeckung der Transparenz" aufgerufen, zur Rückbindung der Menschenrechte an Gott.

Bemerkenswert ist die Deutung Sylvas, dass der Papst im Grunde - ohne es zu nennen - die amerikanische Trennung von Staat und Kirche auf die UN übertragen habe. Es gebe in der Weltorganisation keine etablierte Religion, aber Gläubige aller Bekenntnisse könnten ihren Glauben in die Debatten einbringen, wenn sie im Einklang mit der Vernunft stünden.

Insgesamt wurden erste kritische Äußerungen nur vereinzelt laut. Der Konvertit und katholische Priester Richard John Neuhaus, der in seinem Magazin "First Things" ein einflussreiches konservatives Sprachrohr besitzt, kritisierte in einem Online-Artikel "Benedikt and Beauty" Elemente bei der ersten großen Gottesdienstfeier in Washington, die mit Benedikts Auffassungen über die "Reinerhaltung der Schönheit der Liturgie" nicht übereinstimmten. Neuhaus erntete allerdings viele E-Mail-Proteste von Gläubigen, die gerade in der Gestaltung dieses Gottesdienstes die Vielfalt der amerikanischen Kirche vorgefunden haben. In einem Leitartikel bemerkte in diesem Sinn "America", dass Benedikt, obwohl seine Vorliebe für die traditionellen Formen der Liturgie bekannt sei, diese vielsprachig und multi-kulturell gestaltete liturgische Feier, die so charakteristisch für die Vereinigten Staaten war, "offenbar genossen hat".

Nach Abschluss der Reise kommt Neuhaus in einer ersten Gesamtwürdigung allerdings zu dem positiven Urteil, dass Benedikt in Amerika "das menschliche Antlitz des Gesichtes Gottes" sichtbar gemacht habe. Als Kern seiner Botschaft nennt Neuhaus den Begriff des "prophetischen Humanismus", den der führende amerikanische Theologe und Kardinal Avery Dulles geprägt hat (in New Tork schob Benedikt sogar einen Kurzbesuch bei dem altersgeschwächten Jesuiten in sein volles Programm ein).

Kritisch äußerten sich katholische Studenten des überkonfessionellen "Union Theological Seminary" in New Tork: Sein Besuch werde nicht zu dem führen, was viele in der amerikanischen Kirche als notwendige Reformen ansehen, und es sei zu befürchten, dass diese Themen (gemeint sind unter anderem Frauenordination und Bischofswahlen durch das Kirchenvolk) in absehbarer Zeit angesprochen würden. Und "Hardliner" in der Kirche zeigten sich enttäuscht, dass Benedikt kein klares Worte zur Frage der Kommunionverweigerung für Politiker gesagt hat, die in ethischen Fragen wie Abtreibung, Homo-Ehe und Embryonenforschung abweichende Haltungen zur Lehre der Kirche vertreten.


Die meisten Bilanzen sind positiv ausgefallen

Die meisten Bilanzen des Papstbesuches in den kirchlichen Medien waren überaus positiv. Die nationale Wochenzeitschrift "Our Sunday Visitor" titelte: "Der gute Hirte war unter uns". Sie fasst seine Botschaft unter der Überschrift "Verkündigung der Erneuerung": "Mit Überraschungen im Ärmel hat Papst Benedikt XVI. freundlich, aber bestimmt die Katholiken und Amerikaner herausgefordert." "Catholic World Report" und "National Catholic Register" greifen das auf, was Benedikt selbst als Hoffnung bezeichnet hat: Für die amerikanische Kirche "bricht ein neues Pfingsten" an.

Im "Register" heißt es, die Menschen seien müde vom Schwund der Religion in so vielen säkularen Gesellschaften und "hungern nach der Offenbarung Gottes über die letzte Bestimmung des Menschen". Benedikt habe ihnen durch "Zeichen der Harmonie zwischen Vernunft und Glauben" neue Hoffnung gegeben. Der römische Korrespondent der CNS, John Thavis, nennt drei Ergebnisse des Papstbesuches: den Pädophilieskandal zu einem gewissen Abschluss gebracht zu haben, eine umfassende moralische Erneuerung der US-Kultur von sozialer Gerechtigkeit bis zur Abtreibung, und zwar "ohne Belehrungen und Drohungen", und die Einheit einer oft zerstrittenen Kirche wieder herzustellen, um die Gesellschaft glaubhaft evangelisieren zu können.

Nach vorne blickend, warnt "America" davor, die Augen vor dem zu verschließen, was Benedikt kritisch zur amerikanischen Kirche und Gesellschaft gesagt habe. Sowohl sein Lob als auch seine Kritik müssten zu Herzen genommen werden, "um neue Wege zur Vertreibung der dunklen Schatten zu finden, die unseren amerikanischen Charakter verdunkeln". Der "National Catholic Reporter" stellt die vielleicht entscheidende Frage: "Wird die Vertiefung in die Texte der Ansprachen und Predigten begleitet sein von einer Änderung in Haltungen oder Handlungsweisen in der amerikanischen Kirche?" Eine Voraussetzung zum Nach-Studieren hat die US-Bischofskonferenz bereits geschaffen. Auf der Website ihres "Office of Digital Media" heißt es: Um jedem die Chance zu geben, sich mit den Ereignissen zu befassen, könnten auf "uspapalvisit.org" bis Ende Juni alle Texte der Ansprachen und rund zwanzig Videos abgerufen werden.


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Ferdinand Oertel (geb. 1927), promovierte mit einer Arbeit über Thomas Wolfe. Seine berufliche Laufbahn im katholischen Journalismus führte ihn zur Katholischen Nachrichtenagentur, zur Zeitschrift "Die christliche Familie", zur Aachener Kirchenzeitung und zu "Leben und Erziehen". Seit dem Studium in St. Louis regelmäßig Aufenthalte in den USA. Langjährige Mitarbeit bei der Herder-Korrespondenz.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
62. Jahrgang, Heft 6, Juni 2008, S. 291-295
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. August 2008