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BERICHT/287: Der kirchliche Beitrag zu solidarischen Nachbarschaftsnetzwerken (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 5/2009

Starkes Wir
Der kirchliche Beitrag zu solidarischen Nachbarschaftsnetzwerken

Von Andreas Lob-Hüdepohl


Den Sozialarbeiter und Politiker Barack Obama hat diese Tradition geprägt: das so genannte Community Organizing. Dessen Ziel ist eine Verbesserung der Lebensbedingungen, die sich konsequent über die Entwicklung und Bündelung aller Ressourcen und Utopien der betroffenen Bevölkerung einstellt. Die Beteiligung der Kirchen an Prozessen des Community Organizing geht über die Frage situationsbezogener Opportunität oder angemessenen Sozialstaatsengagements hinaus.


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"Yes we can!" - Selten hat ein Slogan in so kurzer Zeit eine solch steile Karriere gemacht wie der Wahl(kampf)spruch des neuen US-Präsidenten Barack Obama - vielleicht gerade deshalb, weil er sich so wohltuend von den markigen Parolen der bisherigen US-Administration unterscheidet; vielleicht aber auch, weil etwas an diesem Wahlspruch so gar nicht in das oftmals sorgfältig gepflegte Stereotyp über die US-amerikanische Lebens- und Politikkultur hineinpasst. Zwei der drei Wahlspruchworte erstaunen natürlich nicht: Dass die US-amerikanische Lebenskultur persönliche Krisen wie gesellschaftliche Probleme vor allem als Herausforderungen identifiziert, denen man mit einem entschiedenen Yes begegnet und sich nicht hinter einem verzagten Nein versteckt; und dass man solches Ja auf ein selbstbewusstes Können aufbaut, anstatt sich in einer herbeigeredeten Ohnmachtsromantik selbst zu verlieren, all dies überrascht nicht.

Eher irritiert das kleine Wörtchen "we": Baut nicht der US-amerikanische Mythos von einem gelingenden und prosperierenden Leben auf die liberalistische Fiktion eines freien, unabhängig starken Individuums auf, das sich voll und ganz auf seine eigenen Kräfte besinnt, wenn nötig mit rücksichts losem Ellenbogen gegen andere seinen Lebenserfolg erkämpft und darin - nach populär-calvinistischer Überzeugung - seine höchst individuelle göttliche Vorsehung als Starker oder - bei Misslingen - als Scheiternder persönlich in die Weltgeschichte einschreibt? Wie ist das Wir des "Yes we can" zu verstehen? Schwach oder stark, das Wir als alle Einzelne oder als Wir gemeinsam?


Wenn der Wahl(kampf)spruch Barack Obamas nicht nur das Ergebnis knallhart kalkulierender Werbestrategen und Wahlkampfstrategien war, sondern wenigstens noch Spuren seines persönlichen wie beruflichen Werdeganges in sich aufgenommen hat, so wird man das "Yes we can" durchaus als ein starkes Wir verstehen dürfen; ein Wir, das sich gemeinsam den Krisen und Problemen des Alltags selbstbewusst entgegenstellt. Denn der Sozialarbeiter und Politiker Obama steht in der Tradition des Community Organizing, das in den USA und besonders in der Heimatstadt des Präsidenten spätestens seit der Gründung der Industrial Areas Foundation eine lange Tradition besitzt und eng mit dem Namen Saul Alinsky (1909-1972) verbunden ist.


Seit Mitte der dreißiger Jahre arbeitete der gelernte Kriminologe Alinsky, über dessen Wirken die derzeitige US-Vizepräsidentin Hillary Clinton promovierte, als Community Organizer zunächst in den Slums von Chicago, später in den depravierten Stadtvierteln vieler amerikanischer Großstädte. Sein Einsatz galt nicht einfach nur dem Kampf gegen die Verwahrlosung ganzer Stadteile, sondern in erster Linie für die Transformation eines oftmals zersplitterten und vielfach verstummten Unmuts der lokalen Bevölkerung in die politische Macht eines vereinten Protestes und gemeinsamen Gestaltungswillens der Betroffenen selbst.

Solche Transformationen von resignativer Ohnmacht in kreative Gestaltungsmacht stellen sich keineswegs durch bloßes Zureden ein. Sie sind vielmehr das Ergebnis eines oftmals mühevollen Prozesses, in dem ein dichtes Beziehungsnetz zwischen Einzelpersonen, Initiativgruppen, Nachbarschaften und vielen weiteren lokalen Akteuren geknüpft und zu einer stabilen Basis eines gemeinschaftlichen Engagements für die Verbesserung der unmittelbar erspürbaren Lebensbedingungen fundamentiert wird.

Ziel des Community Organizing ist eine Verbesserung der Lebensbedingungen, die sich konsequent über die Entwicklung und Bündelung aller Ressourcen und Utopien der betroffenen Bevölkerung einstellt. Community Organizing setzt weniger auf äußerliche Hilfe, sondern auf die Entwicklung menschenwürdiger Lebenslagen sozusagen von einem gemeinsam gestalteten Innen. Das macht professionalisierte Unterstützung nicht überflüssig, im Gegenteil: Schon die Industrial Areas Foundation investierte viel in die Ausbildung von (ehrenamtlichen) Netzwerkern und "Schlüsselpersonen" oder in die Anstellung (hauptamtlicher) Organizer.

Dennoch fördert Community Organizing nicht ein außengewirktes Wohlergehen der Bevölkerung, sondern im eigentlichen Sinne des Wortes ein subjektives Wohlbefinden, das sich in der Erfahrung eigener Wirkmacht als Gefühl der Anerkennung und Wertschätzung, der Selbstachtung und des Selbstvertrauens einstellt. Ihre Würde, so könnte man das unausgesprochene Credo des Community Organizing zusammenfassen, erfahren Menschen in prekären Lebenslagen nicht schon dadurch, dass sie Leistungen erhalten, sondern dass sie unter Aufbietung eigener Kräfte irgendwann einmal sagen können: "Das habe ich gemeinsam mit anderen selbstständig geschafft!"


Betroffene zu Beteiligten machen

Natürlich sind die Entwicklungslinien und Konzeptionen des Community Organizing zunächst zu verstehen vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und vor allem auch wohlfahrtstaatlichen Bedingungen der Vereinigten Staaten. Gleichwohl werden wichtige Einsichten in den letzten Jahren auch in Europa und speziell in Deutschland aufgegriffen. Zwar unterscheiden sich die Konzepte und Realitäten wohlfahrtstaatlicher Politik zwischen Deutschland und dem anglo-amerikanischen Raum ganz erheblich. In einigen Konsequenzen für die betroffene Bevölkerung kommen sich beide Traditionslinien aber offensichtlich sehr nahe. Mag die Verstummung und Resignation depravierter Bevölkerung in den USA auch einem Mangel an staatlich organisierten sozialen Sicherungssystemen geschuldet sein, so birgt das deutsche Modell wohlfahrtstaatlicher Daseinsvorsorge die große Gefahr, ähnlichen Deaktivierungstendenzen Vorschub zu leisten und damit in hohem Maße kontraindiziert zu wirken.

Das Ziel sozialer Unterstützungssysteme, wie sie etwa das deutsche Sozialgesetzbuch in seinen Fundamentalnormen festhält, besteht zwar darin, den Empfänger sozialer Unterstützung zur Führung eines Lebens zu befähigen, das seiner Würde als Mensch entspricht, und ihn so weit als möglich von besonderer Unterstützung unabhängig zu machen (vgl. Paragraph 1 Abs. 2 SGB I). Die Praxis sozialer Unterstützungsleistungen, die Konzentration der Sozialhilfe auf Sach- und Geldleistungen etwa oder der Hang expertokratischer Professionalität sozialpädagogischer Leistungen mit einem manches Mal kaum noch zu verbergenden Fürsorgepaternalismus, deaktiviert jedoch langfristig die vorfindlichen Eigenressourcen auf Seiten der Hilfeempfänger. Sie bergen die Gefahr, deren Kompetenzen zur Problembewältigung zu zerstören und sie damit langfristig von fremder Hilfe abhängig zu machen.

Diese gefährlichen Folgen der Praxis sozialer Unterstützungssysteme sind seit Jahrzehnten in den Fachdisziplinen Sozialer Arbeit bekannt, und deren Kritik verbindet sich auch mit prominenten Namen wie Johanno Strasser oder Jürgen Habermas, denen man kaum eine Nähe zu neoliberalem Zynismus gegenüber menschlichem Leid und sozialen Notlagen unterstellen wird. Die Alternative zu einer Praxis wohlfahrtstaatlicher Unterstützungsleistungen, die Hilfeempfänger zu deaktivieren drohen, heißt nämlich nicht der Appell an eine atomisierte Eigenverantwortung, die sich auf die persönlichen Selbstheilungskräfte zu konzentrieren hat und damit soziale Notlagen und deren Lösung privatisiert.

Die Alternative heißt, so der prominenteste Vertreter des Community Organizing in Deutschland, der US-Amerikaner Leo J. Penta, die Eigenverantwortung von Menschen "in den lebensweltlichen Kontext der intermediären Institutionen der Zivilgesellschaft", also "in den Kontext nicht staatlich erzwungener, sondern freiwilliger Bildung von Solidarität" einzubetten. Solche zivilgesellschaftlichen Institutionen können vielfältige Formen nachbarschaftlicher Netzwerke oder Bürgerplattformen annehmen. Wichtig ist nur, dass sie Organisationsformen bereithalten, die nicht nur eine nachhaltige, also beständige Artikulationsform für die Betroffenen sichern, sondern die Betroffenen in einem emphatischen Sinne zu Beteiligten machen: sie die Gestaltung ihres öffentlichen Nahraumes selbst in die Hand nehmen zu lassen, oder anders gewendet, soziale Teilhabe im Modus der Teilgabe eigener Aktivitäten und Optionen.


Paradigmenwechsel wohlfahrtstaatlicher Aktivitäten

Community Organizing will solche Bindungs- und Bildungsprozesse solidarischer Netzwerke professionell unterstützen. Es vollzieht damit einen wichtigen Paradigmenwechsel wohlfahrtstaatlicher Aktivitäten. Es folgt nicht mehr der herkömmlichen Logik des "Für-andere-Tun", sondern der zivilgesellschaftlichen Logik des "Mit-anderen-für-sich-etwas-Tun" (Leo Penta). Auch diese Logik ist durchaus noch entwicklungsfähig, wenn sie ein egozentrisches Missverständnis des bloßen "Für-sich" vermeiden will. Denn die durch Community Organizing unterstützten Netzwerke oder Bürgerplattformen bringen Menschen, Gruppierungen und Stadtteilinitiativen mit manches Mal höchst unterschiedlichen Hintergründen und Einzelinteressen zusammen, die zwar bestimmte Ziele gemeinsam verfolgen, die aber auch die unterschiedlichen Optionen, Interessen und Bedürftigkeiten der jeweils anderen erkennen, respektieren und durchsetzen helfen, ohne dass die jeweils eigenen Anliegen unmittelbar berührt oder befördert werden müssen.

Soziale Netzwerke und Bürgerplattformen weiten den zunächst auf sich selbst beschränkten Blick hin auf andere. Sie nötigen mitunter zum konstruktiven Aushandeln von beziehungsweise zur Verständigung über die Optionen und Handlungsstrategien aller Beteiligten. Deshalb folgen sie der Logik des Mit-anderen-für-sich-und-andere-etwas-Tun. In diesem Sinne unterstützt Community Organizing eine Demokratie, die sich nicht nur als Legitimationsinstanz politischer Herrschaft anderer, sondern als partizipative Lebensform aller versteht.


Mit seiner Logik des Mit-anderen-für-sich-und-andere-etwas-Tun greift Community Organizing eine Intuition dessen auf, was der Kasseler Soziologe Heinz Bude einen "neuen politischen Egalitarismus" nennt (vgl. HK, Februar 2009, 70ff.). Dieser neue Gleichheitsprimat hebt nicht auf die Gleichheit aller Ausstattungsmerkmale oder gar auf die Einheitlichkeit aller Lebensformen in einer Gesellschaft ab, sondern stellt eine "Kultur der gerechten Anstrengung" in den Mittelpunkt. Angesichts zunehmender sozialer und gesellschaftlicher Verwerfungen beinhaltet eine Kultur der gerechten Anstrengung vor allem "Appell und Forderung, dass es jetzt die Anstrengung aller, jeder einzelnen gesellschaftlichen Gruppe braucht, um das ganze wieder in Lot zu bringen. (...) Jede Gruppe wird - nach ihren Möglichkeiten natürlich - herangezogen zur Bewältigung der allgemeinen Aufgabe."

Fast liest sich Budes Forderung wie eine späte Übersetzung des berühmten Diktums, das der erste katholische Präsident der Vereinigten Staaten, John F. Kennedy, den Leistungsträgern seiner Gesellschaft zugemutet hat: "Denke nicht daran, was die Gesellschaft dir geben kann, sondern du der Gesellschaft geben kannst!"


Damit kein Missverständnis entsteht: Community Organizing organisiert nicht - jedenfalls vorerst nicht - die Milieus und Communities der herkömmlichen Leistungsträger und Besserverdiener, um sie zu dem zu nötigen, was sie um der Gerechtigkeit willen für den Erhalt und die Entwicklung eines demokratischen und sozialen Gemeinwesens ohnehin beizusteuern haben. Community Organizing fördert nach wie vor unterprivilegierte Menschen - aber mit der Maßgabe, sie über Netzwerke und Bürgerplattformen gemeinschaftlich zu Leistungsträgern ihrer eigenen Sache und damit zu Gebern werden zu lassen. Es befähigt solche Bürgerinnen und Bürger zur Gestaltung des sie umgebenden öffentlichen Raumes, die bis dato nicht oder nur unzureichend beteiligt waren und deren vitale Interessen und Optionen vernachlässigt wurden.

Zentrales Instrument ist der Aufbau von Bürgerplattformen, in denen sich die Betroffenen selbst repräsentieren können - und sei dies zu Beginn noch so fragmentarisch. Diese Plattformen selbst ruhen auf einem dichten Netz persönlicher Beziehungen auf, in denen die Beteiligten - oftmals seit langem wieder zum ersten Mal - Respekt, Achtung und Vertrauen erfahren. Eine der wichtigsten Aufgaben des professionellen Organizers ist die Initiierung und Entwicklung dieser persönlichen Beziehungsnetze.


Erfahrung des Respekts und der Anerkennung

Solche Erfahrung des Respekts und der Anerkennung stiften neue Selbstachtung und neues Selbstvertrauen auf Seiten Benachteiligter. Und es vergeschwistert zu einem handlungsfähigen Wir, das Gestaltungsmacht entfaltet. Denn Community Organizing stiftet zwischen den Betroffenen und Akteuren eine kommunikative, solidarische Praxis in einem emphatischen Sinne: In dem sie in der Wahrnehmung, Aushandlung und Durchsetzung ihrer Optionen und Interessen gemeinsame Sache machen und sich dabei im Interesse jedes Einzelnen dem gemeinsamen Wohl verpflichtet fühlen, erfahren sie sich nicht als Unterlegene und in dieser Weise Hilfsbedürftige, sondern als zugleich Unterstützende wie Unterstützte.

Ihre marginalisierte Lebenslage wird keinesfalls verkannt oder gar romantisiert, im Gegenteil. Respekt- und vertrauensvolle Beziehungen spielen aber gerade Menschen in einer prekären Lebenslage eine Form basaler Anerkennung und Wertschätzung zu, die zum Ausgangspunkt persönlicher Lebensführungskompetenz wie wirksamer politischer Handlungsfähigkeit werden können. Sie dienen der persönlichen wie gesellschaftlichen Subjektwerdung jedes Einzelnen oder - theologisch gesprochen - seiner Menschwerdung als Mensch; inmitten seiner Geschichte und Gesellschaft als "krummes Holz" (Helmut Gollwitzer) im sich aufrichtenden Gang.


Kirche im Alltag menschlicher Lebenswelt

In den Vereinigten Staaten ist es selbstverständlich, dass sich die christlichen, jüdischen oder auch muslimischen Religionsgemeinschaften aktiv in die Prozesse des Community Organizing einbringen - sei es als Kirchengemeinden in Bürgerplattformen, sei es als soziale Netzwerke im Hintergrund. Gelegentlich finden sich neben dem Broad Based Community Organizing, das sich dezidiert auf Bürgerplattformen stützt, auch Faith Based Community Organizing, das dezidiert die jeweilige Glaubensgemeinschaft zum Ausgangspunkt einer politisch ambitionierten Gestaltung ihres Sozialraumes wählt. Auch in Deutschland beginnen Kirchen, sich in die ersten Aufbrüche des Community Organizing einzubringen - etwa als erstes in Hamburg ("ImPuls Mitte"), jüngst in Berlin ("Bürgerplattform Wedding") oder bald in Wuppertal.

Die Beteiligung von Kirchen an Prozessen des Community Organizing geht über die Frage situationsbezogener Opportunität oder angemessenen Sozialstaatsengagements hinaus; sie berührt auch ihr grundsätzliches Selbstverständnis als Kirche - namentlich von Gemeinden, Gemeinschaften und Verbänden der katholischen Kirche. Das Zweite Vatikanische Konzil hat nochmals klar herausgestellt: Kirche ist nicht Selbstzweck, sondern Sakrament, also "Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit" (LG 1). Sie ist Zeichen und Werkzeug für die heilsame Zuwendung Gottes zum Menschen insgesamt. Dieses "Heil von Gott für uns Menschen" (Edward Schillebeeckx) umfasst das ganze Koordinatensystem, innerhalb dessen Menschen ihr Menschsein zur Entfaltung bringen: ihre Leiblichkeit ebenso wie den gemeinsam geteilten Raum ihrer menschlichen Mitwelt und ihrer natürlichen Umwelt; die strukturellen Verflechtungen menschlicher Lebensführung in die kulturellen und ökonomischen Rahmenbedingungen ebenso wie ihre geistig-geistliche Mitte ("Seele"), die ihrer persönlichen Lebensführung Konsistenz und Ausrichtung verleiht.


In der heilsamen Sorge um dieses umfassende Koordinatensystem menschlicher Lebenswirklichkeit wird die therapeutische Dimension christlicher Erlösung handgreiflich. Die Pastoral der Kirche greift infolgedessen weit über traditionelle Formen der seelsorglichen Begleitung Einzelner hinaus auch in die Weite des politischen Raumes. Gerade die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanums entfaltet ein Verständnis kirchlicher Pastoral, das die Kirche wieder dorthin zurückführt, wo sie nach dem Willen ihres Stifters hingehört: in den Alltag menschlicher Lebenswelt - einschließlich ihrer sozialen und politischen Strukturen (GS 40ff.). Die Hoffnung, die in Christen lebt und von der sie Zeugnis abzulegen haben, soll sich, so die dogmatische Konstitution über das Wesen der Kirche, auch in der Umwandlung der Strukturen des profanen Weltlebens zum Ausdruck kommen (LG 35).

Natürlich ist die Pastoral der Kirche nicht auf Prozesse des Community Organizing angewiesen, um ihren Beitrag zur Kommunikation des Evangeliums auch in der Weite des politischen Raumes zu leisten. Gleichwohl bietet Community Organizing eine günstige Gelegenheitsstruktur für die Selbstkonstitution einer sozialpastoralen Kirche vor Ort. Auch hier hängt vieles davon ab, welcher kirchliche Akteur etwa beim Aufbau von Bürgerplattformen oder bei der Durchführung von Aktionen beteiligt ist - ob Pfarrgemeinde, Ordensgemeinschaft, Kolpingfamilie oder eine Einrichtung des Caritasverbandes.


Erste empirische Befunde

Am augenfälligsten bieten sich für eine Pfarrgemeinde enorme Chancen. Erste empirische Befunde, die im Zusammenhang eines vom Deutschen Caritasverband unterstützten Pilotprojektes zur Beteiligung von Kirche an Community Organizing Prozessen vom Berliner Institut für christliche Ethik und Politik erhoben wurden, deuten darauf hin, dass die Mitwirkung von Kirchengemeinden etwa im Rahmen einer Bürgerplattform deutlich positive Rückwirkungen auf die Verlebendigung gemeindlichen Lebens haben kann. Eine Mitwirkung ermöglicht der Gemeinde zunächst die Verortung in ihren Stadtteil oder in die dörfliche Gemeinschaft und damit eine Entgrenzung nach außen. Sie folgt dem Diktum Alfred Delps: " 'Geht hinaus', hat der Meister gesagt, und nicht: 'Setzt Euch hin und wartet, bis einer kommt'."

Eine Entgrenzung nach außen lässt eine Pfarrgemeinde ihren Sozialraum als ihren Pastoralraum entdecken und gestalten. Sie überwindet damit eine Kommstruktur, die eine Pfarrgemeinde auf die eher eng gefassten sozialen Grenzen einer versorgten Christenschar beschränkt, in Richtung einer Gehstruktur, die sie unweigerlich auch in solche Lebenswelten und entlegene Milieus führt, an die sie längst Anschluss verloren hat.

Von dieser Entgrenzung nach außen profitiert neben dem sozialen Nahraum auch die Gemeinde selbst. Denn sie geht unweigerlich Hand in Hand mit einer Entgrenzung nach innen. Denn die intensive Beziehungsarbeit, die für Community Organizing Prozesse charakteristisch ist, baut sozusagen im Außenverhältnis neue persönliche Beziehungen und Bündnisse zwischen Gemeindemitgliedern auf, die innerhalb der Gemeinde nicht zu Stande gekommen sind. Vor allem werden die bislang unentdeckten Schicksale in den eigenen Reihen (etwa einer territorialen Pfarrgemeinde) aufgedeckt. Prekäre Lebenslagen, die etwa durch zerstörte Erwerbsbiographien, durch Krankheit und Behinderung, durch fehlende Bildungschancen verursacht sind, finden sich auch bei Gemeindegliedern - nur dass sie als solche selten in Erscheinung treten oder gar in der Gemeindewirklichkeit zugelassen werden.

Die Entgrenzung nach innen kann solcher internen Segregation wirksam entgegensteuern. Die Beteiligung an Bürgerplattformen und ähnliches erschließt über ihre vielfältige Vernetzungen und Aktivitäten zudem soziale Kompetenzen, die andere Bereiche des Gemeindelebens nachhaltig befördern. Das gilt besonders für jene Sozialkompetenz, die im Community Organizing angesichts der Heterogenität der zusammenarbeitenden Gruppen besonders gefragt ist, nämlich die Kompetenz des Überbrückens: sie hilft, förderliche und tragfähige Beziehungen auch über Trennendes hinweg zu knüpfen.


Community Organizing versteht sich auch als Antwort auf negative Entwicklungen der deutschen Wohlfahrtstaatlichkeit, in die die Kirche in einem nicht unerheblichen Maße über ihre verbandlich organisierte Caritas selbst verstrickt ist. Wenn Einrichtungen der Caritas wie Kitas, Behindertenwerkstätten oder Obdachlosenarbeit bei Prozessen des Community Organizing mitwirken, dann erschließt sich diakonischer Pastoral auch die Chance, die (überwiegend) professionalisierte Caritas ihres Verbandes mit der (überwiegend) ehrenamtlichen Caritas ihrer Gemeinden neu zu verschränken.

Community Organizing orientiert sich an der Befähigung und Beteiligung von Bürgerinnen und Bürger durch selbst organisierte Plattformen und Aktionen. Von daher wird es vorrangig ehrenamtlich Engagierte des Sozialraumes und damit der Kirchengemeinden aktivieren, weniger die Professionellen von karitativen Einrichtungen. Gleichwohl sind die Einrichtungen der Caritas selbst Teile des Sozialraumes und somit an positiven Veränderungen ihres Sozialraumes interessiert.

Es kann einem Seniorenstift ob des eigenen geriatrischen Konzepts nicht gleichgültig sein, wie das Wohnumfeld seiner Bewohnerinnen und Bewohner gestaltet ist; wie die verkehrliche Anbindung erfolgt; welche formellen und informellen Netzwerke ein generationsübergreifendes Zusammenleben in einem Stadtteil über die Mauern des eigenen Gebäudes fördern oder wie die Kompetenzen von älteren Menschen für das kulturelle Leben wie die politische Gestaltung des Gemeinwesens eingebracht werden - nicht zuletzt als Bereicherung des Zusammenlebens wie der Wertschätzung oftmals abgewerteter und abgeschobener Seniorinnen und Senioren.

In diesem Sinne kann die Beteiligung an Prozessen des Community Organizing - insbesondere in enger Verbindung mit einer nach außen und innen entgrenzten gemeindlichen Caritas - ein Bestandteil jenes Konzeptes von community care und community living werden, die für ein menschenwürdiges Konzept altengerechten Wohnens und Lebens in kirchlichen Einrichtungen unverzichtbar ist.

Verbandliche Caritas kann zudem unmittelbar zur Qualifizierung von (ehrenamtlichen) Akteuren des Community Organizing beitragen. In ähnlicher Weise sind auch andere kirchliche Institutionen und Ausbildungsstätten gefordert. Darin liegt das eigentliche Motiv, wenn etwa die Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin das Konzept des Community Organizing als Querschnittskompetenz in ihr Ausbildungskonzept verankert und durch die Gründung des Deutschen Instituts für Community Organizing (DICO) aktiv am Aufbau von Bürgerplattformen beteiligt und sich damit ihrer kirchlichen wie gesellschaftspolitischen Verantwortung für ein demokratisches wie soziales Gemeinwesen stellt - zwecks Förderung eigenständiger wie eigenverantwortlicher Menschen im Medium eines handlungsfähigen, starken Wir.


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Andreas Lob-Hüdepohl (geb. 1961) ist Gründungsmitglied des Berliner Instituts für christliche Ethik und Politik sowie seit 1997 Rektor der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin; Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates des Deutschen Instituts für Community Organizing.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
63. Jahrgang, Heft 5, Mai 2009, S. 259-264
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juli 2009