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BERICHT/298: Jesus der Mann (Junge.Kirche)


Junge.Kirche 4/2009
Unterwegs für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung
Focus dieses Heftes: Männer

Jesus der Mann

Von Martin Leutzsch


Seit dem 18. Jahrhundert entwickeln sich, vor allem in protestantisch geprägten Kulturen, Jesusvorstellungen, die bis heute wirken. Jesus wird dabei nicht als zweite Person der Trinität begriffen, sondern strikt in irdische Zusammenhänge eingebettet. Es geht um Jesu Stellung zur Politik, um seine Beziehung zu religiösen Gruppierungen seiner Zeit, seine Einzigartigkeit oder Vergleichbarkeit, seine Volks- und Rassenzugehörigkeit, seine als problematisch empfundene seelische und geistige Verfassung und Emotionalität, die Frage seiner Existenz überhaupt. Eine Facette dieser Jesusvorstellungen ist die von Jesus als Mann. Wie wird Männlichkeit dabei verstanden? Welche Querverbindungen zu anderen Jesusvorstellungen, zu Politik, Gesellschaft und Kultur gibt es?


Sanft

Zwischen 1770 und 1870 entwickelt sich ein bürgerliches Schönheits- und Männlichkeitsideal, das Sanftmut und Milde, Ruhe und Stille in den Vordergrund stellt. In "edler Einfalt" und "stiller Größe" (Winckelmann) soll der Mann wirken, Hinterlist und Aggressivität benötigt er nicht. Entsprechende Adjektive werden mit Jesus verbunden: Der "stille Genius", der "stille Geist" ist Jesus für Hölderlin und Jean Paul, Jesu "schönes Antlitz leuchtet milde" (so Conrad Ferdinand Meyer), und "mild" ist Jesus auch bei Goethe. Jesus wird in den männlichen Rollen des Hausvaters, Lehrers, Seelsorgers, des Weisen, Weltbürgers, Genies imaginiert. Das sind zugleich bürgerliche Männlichkeitsideale.

In der Kunst sind es im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Nazarener als Maler und Bertel Thorvaldsen als Bildhauer, die diesem schlichten, milden, sanften Jesus künstlerisch Ausdruck verleihen. In unzähligen Reproduktionen wirkt der sanfte, einladende, segnende Christus generationenlang in die Haushalte hinein.


Aggressiv

Das Männlichkeitsideal wandelt sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Männlichkeit wird zunehmend national verstanden. Männer sollen Helden sein, das heißt militant, auch aggressiv, gelegentlich brutal. Das ist die Männlichkeit, die im Zeitalter des Imperialismus außenpolitisch gegenüber den Konkurrenten und in den Kolonien gebraucht wird und im Zug der Verschärfung der Klassengegensätze in der Industrialisierung auch innenpolitisch. Darwins Lehre vom Kampf ums Dasein wird sozialdarwinistisch nahtlos aufs menschliche Leben übertragen.

Diese neue, aggressive Männlichkeit kann mit den Jesusbildern Thorvaldsens und der Nazarener nichts mehr anfangen. "Weichlich" und "süßlich" werden sie nun genannt. Der Ruf nach einem neuen, deutschen Christusbild in der Kunst erhebt sich seit den 1880er Jahren. Der Jesus, den man sucht, sitzt nicht mehr bei Maria und Martha oder bei der Samaritanerin am Brunnen, sondern treibt die Händler aus dem Tempel und agitiert die Massen.

Seit der Französischen Revolution wurde Jesus als Vorläufer oder Protagonist einer politischen Bewegung verstanden. Dieses Jesusimage rückt im Zuge der politischen Kämpfe und Revolutionen des 19. Jahrhunderts immer mehr in den Vordergrund. Hatte der sanfte Jesus - wie das ihm entsprechende bürgerliche Männlichkeitsideal - einen aristokratischen Touch, so ist Jesus der Sansculotte (seit 1789), der Sozialist und Kommunist (seit 1830), später auch der Bolschewist und Anarchist ein Bürger oder Proletarier, bereit, für politische Ziele auch Gewalt einzusetzen und Gegengewalt zu riskieren. Der antiklerikale Jesus des 18. Jahrhunderts, der mit den Hohenpriestern der Evangelien zugleich die Pfaffen der Gegenwart trifft, wird im 19. Jahrhundert vom ruhigen Kritiker zum aggressiven Agitator.


Männlichkeit und Rasse

Ein solcher Christus kann den Vorwurf entkräften, der mit zunehmender Militarisierung dem Christentum immer öfter gemacht wird: dass das Christentum unmännlich sei und zum Militärdienst untauglich mache. Das neue Männlichkeitsideal hat rassistische Folgen: In politischen, medizinischen, psychologischen Argumentationen wird den Juden ab 1890 das Mannsein abgesprochen; sie seien dekadent und verweiblicht. Die Studentenverbindungen beschließen, keine Juden mehr aufzunehmen, weil sie nicht satisfaktionsfähig seien - das heißt: keine Ehre als Mann haben und deshalb auch nicht verteidigen können. Wer diese Überzeugung hatte, konnte mit einem jüdischen Jesus nur wenig anfangen. Der im 19. Jahrhundert erfundene arische Jesus verliert seit den Eruptionen des politischen Antisemitismus ab 1880 zunehmend die Züge eines milden, weltentsagenden Buddha und wird zu einem kämpferischen Helden, zum ersten Antisemiten. (Vereinzelt gibt es Gegenreaktionen: M. de Jonge veröffentlicht 1904 "Jeschuah, der klassische jüdische Mann".)


Dekadenz

Neben solchen breiten Anklang findenden Anpassungen der Jesusfigur an das neue Männlichkeitsideal kann Jesus auch konträr zur neuen männlich-aggressiven Normalität angesiedelt werden. In der Sprache des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist dies der dekadente Mann. Dekadenz ist das Gegenteil dessen, was mit dem neuen Männlichkeitsideal positiv verbunden wird. Dekadenz ist kosmopolitisch, unheroisch, sanft und mild, minderrassig, orientalisch, ungesund und krank, sexuell unnormal oder asexuell - alles Schlagworte in einer Debatte um Dekadenz und Degeneration, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts geführt wird. Das Dekadente gilt als weiblich, weibisch, verweichlicht und verweiblicht. Dekadent, alles andere als ein Held ist der Jesus Nietzsches:

Daß die eigentlichen Manns-Instinkte - nicht nur die geschlechtlichen, sondern auch die des Kampfes, des Stolzes, des Heroismus - nie bei ihm aufgewacht sind, daß er zurückgeblieben ist und kindhaft im Alter der Pubertät geblieben ist: das gehört zum Typus gewisser epilepsoider Neurosen."
(KSA 13, 237)

Gerade als Dekadenter kann Jesus für einen bestimmten Kreis von Männern zur Identifikationsfigur werden: für die Künstler, die sich ab 1850 zunehmend als exzentrische, marginalisierte Figuren verstehen und, wenn sie Maler sind, als Figurationen Christi im Selbstporträt darstellen. Ähnliches gilt für die Dichter.


Sex

Nietzsche hatte Jesus neben anderen psychischen und emotionalen Defiziten sexuelle Aktivität abgesprochen. Bis um 1900 herrschte die Überzeugung, dass Jesus sexuell nicht aktiv war. Sexuelle Askese war vereinbar mit den gängigen Vorstellungen vom Menschsein, vom Mannsein. Im Lauf des 19. Jahrhunderts ändert sich das. Medizin und Psychologie um 1900 sind sich einig, dass nicht gelebte Sexualität schädlich und krankhaft sei. Gelebte Heterosexualität wird zur Norm erhoben. Damit wird ein asketischer Jesus zum Problem.

Hundert Jahre zuvor, im ersten Jesusroman (Karl Heinrich Venturini, Natürliche Geschichte des großen Propheten von Nazareth, 1800-1802), hatte noch ein zartes erotisches Gefühl genügt, das Jesus und Maria von Magdala zueinander empfanden. Bei Mondschein im Garten entsagen sie einander. Seit 1900 wird nicht mehr entsagt, mit zwei unterschiedlichen Schwerpunkten. Die eine Variante legt den Ton auf die sexuellen Aktivitäten: Jesus schläft mit einer attraktiven Frau, meist Maria von Magdala, die (in einer bis heute wirkenden spätantiken Fehlidentifikation und Fehlinterpretation von Lukas 7,36-50) oft als Callgirl beschrieben wird. Die Bordellerfahrungen, die zur sexuellen Sozialisation bürgerlicher Jünglinge gehörten, stehen dabei im Hintergrund. Für die andere Variante ist der Kontext wichtig, in dem Jesus seine Sexualität lebt: Er heiratet, und oft gründet er eine Familie. Damit genügt Jesus dem bürgerlichen Ehe- und Familienideal, das in einem Single-Dasein eine gefährdende Infragestellung sieht. ob ohne oder in der Ehe, ohne oder mit Nachwuchs: dass der Jesus heutiger Romane und Filme Sexualität lebt, ist eine Antwort auf den seit zweihundert Jahren erhobenen Vorwurf, dass das Christentum der Sinnlichkeit und der Sexualität gegenüber feindlich eingestellt sei.

Wird Jesus mit diesen Zuschreibungen heterosexuell normalisiert, so gibt es (in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sporadisch vorweggenommen) seit etwa 1900 auch einen homosexuellen Jesus. Die Homosexualität, die ihm zugeschrieben wird, kann ihn sowohl stigmatisieren als auch einer positiv bewerteten Subkultur zuordnen.


Krisenhelfer

Mit zunehmender Dauer des Ersten Weltkriegs wird der Gekreuzigte zum Identifikationssymbol, Vorbild derer, die sich auf dem Altar des Vaterlands opfern sollen. Der zugunsten einer Gemeinschaft Leidende und Sterbende stiftet bis in die Ikonographie der Kriegerdenkmäler hinein Sinn angesichts der Trauer über die als Helden bezeichneten Gefallenen, angesichts eines verlorenen Krieges.

Unmittelbar nach den Niederlagen in den Weltkriegen publizieren deutschsprachige Theologen Bücher mit Titeln wie "Die männliche Art Jesu" (Johannes Leipoldt, 1918, ²1920) oder "Der Mann Jesus" (Georg Bichlmair, 1945, 41948). Der protestantische Neutestamentler Leipoldt stellt Jesus als Kämpfer dar, der Krieg nicht ablehnt, der ein Frauenfreund ist (anders als die jüdischen Männer, ein verbreitetes antisemitisches Klischee), der mit persönlichem Mut sein Leben und seinen Tod bewusst gestaltet. Ein solcher Jesus kann in der Weimarer Republik samt Frauenwahlrecht, politischen Konflikten, Bürgerkriegen, pazifistischen Gefahren bestehen.

Der ebenfalls antisemitische Wiener Jesuit Bichlmair findet großen Anklang mit einem Jesus, der - wie ein idealer Jesuit - "der Lehrer, der Führer, der Wegbahner, der Befreier und der Erlöser, mit einem Wort, der Mann" ist, in dessen männlicher Geistesart und Lebensweise Abglanz und Ebenbild Gottes erfahrbar wird. Das für die Nachkriegszeit angesagte Mannsein hat bei Bichlmair eine gehorsam anzunehmende Lebensaufgabe, heilige Ritterlichkeit gegenüber der Frau, Frömmigkeit gegen Gott und Ringen mit der Zeit im Programm.

Nicht nur in Leipoldts und Bichlmairs Entwürfen eines gegenwartstauglichen Mannes Jesus sind die Juden die Verlierer. Ging es ihnen um eine zukunftsorientierte Bewältigung der militärischen Niederlage, so sind "Jesus der Mann" (Hanna Wolff, 1975, 112002) oder "Jesus - der erste neue Mann" (1989, 101992) Antworten auf die Infragestellung männlicher Identitätskonzepte durch die Frauenbewegung der 1960er und 70er Jahre. Die hier favorisierte Lösungsperspektive ist die einer androgynen Persönlichkeit, der ein androgyner Jesus und ein androgyner Gott entspricht. Dieser Jesus kann Sanftheit und Aggression, Stärken und Schwächen integrieren, Frauen akzeptieren und zugleich Antifeminist sein. Er ist ein Psychotherapeut C. G. Jungscher Art und wie Jung judenfeindlich.


Kaum erforscht

Die sich wandelnden, miteinander in Konflikt liegenden Konstruktionen der Männlichkeit Jesu sind für die Neuzeit ebenso wie für Mittelalter und Antike noch wenig erforscht. Auch vorliegende Skizze lässt viele Ergänzungen zu, etwa die in den letzten zweihundert Jahren mehrfach wechselnden Akzentuierungen eines Jünglings Jesus und eines Mannes Jesus. Zwei Thesen mögen zur Diskussion anregen:

1. Konstruktionen der Männlichkeit Jesu in der Neuzeit haben Entsprechungen in Männlichkeitsidealen der jeweiligen Gesellschaft.
2. Moderne Männlichkeitsideale und ihnen entsprechende Jesusentwürfe stehen in der Gefahr der Erfindung von Männlichkeit gegen die Juden.


Martin Leutzsch ist Professor für biblische Theologie in Paderborn


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INHALTSVERZEICHNIS - JUNGE.KIRCHE 4/2009

Focus: Männer
Biblische Väter / Jürgen Ebach
Vaterbilder und Männerrolle - biografische Skizze / Stefan Weiß
Wo harte Machos weinen lernen / Ingvild Mathe-Anglas

Zwischenruf
Faites vos jeux! / Matthias Lehnert
Neue Wege für Jungs / Miguel Diaz
Von welchem Gott erzählen wir den Jungen? / Jochem Westhof
Jesus der Mann / Martin Leutzsch
Geschlecht - Kultur - Natur / Ruth Poser und Martin Rosowski
Von der Vermittlung des Heiligen / Martin Rosowski
Zum Mann geworden / Christian Reiser
Männerinitiation - wieso, warum? / Interview mit Richard Rohr
Glaube und Kunst: Unfair gefischt - Armut aufgetischt

Forum
Wie ein Riss ... / Peter Scherle
Reiche und Arme am Runden Tisch: Ein Aufruf an christliche Gemeinden
Versöhnung - Ein Weg / Roswitha Jarman
Ein Aufruf an christliche und jüdische Gemeinden in der ganzen Welt
Die Junge Kirche im Dritten Reich / Ralf Retter
Aufbruchstimmung im Weltkirchenrat / Christina Biere
Mensch, wo bist du? / Klara Butting

Sozialgeschichtliche Bibelauslegung
- Das Hohelied der Liebe / Luise Schottroff

Predigt
- Beerdigungsansprache für Christiane Dannemann / Gabriele Scherle

Geh hin und lerne!
- Wo der Heilige wohnt / Gernot Jonas und Paul Petzel

Buchseiten, Veranstaltungen, Impressum und Vorschau


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Quelle:
Junge Kirche, 70. Jahrgang, Nr. 4/2009, Seite 15-17
Herausgeber: Erev-Rav, Verein für biblische und politische Bildung
Redaktion: Junge Kirche, Luisenstraße 54, 29525 Uelzen
Telefon & Fax: 05 81/77 666
E-Mail: verlag@jungekirche.de
Internet: www.jungekirche.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2010