Schattenblick →INFOPOOL →RELIGION → CHRISTENTUM

BERICHT/306: Von den Mystikern lernen? (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 04/2010

Von den Mystikern lernen?
Michel de Certeau und die Rolle der Religion heute

Von Daniel Bogner


Zur Zeit erscheinen weitere Schriften des französischen Kulturtheoretikers und Theologen Michel de Certeau in deutscher Übersetzung. Angesichts der Fragen nach der Bedeutung von Religion für die Gegenwart erweist sich sein Denken als hochaktuell.


Über Religion wird wieder diskutiert - daran besteht kein Zweifel. Fraglich ist allerdings, unter welchen Vorzeichen die Religion dabei ins Gespräch kommt. Zwei Trends lassen sich feststellen: Auf der einen Seite stehen die Kontroversen im Zusammenhang mit der vermeintlichen Renaissance des Religiösen. Atheismusdebatte, Säkularisierungstheorien oder die Frage nach der wechselseitigen Verwiesenheit von Religion und Moderne stützen sich grosso modo auf eine Perspektive, welche die Religion von außen wahrnimmt. Die theologisch bestimmte Selbstaussage der Religion wird dabei - auch wenn man dem Phänomen der Religion gegenüber positiv voreingenommen ist - unter Ideologieverdacht gestellt.

Auf der anderen Seite sorgen kirchliche Großereignisse, aber auch Skandale wie die Missbrauchsfälle dafür, dass Religion im öffentlichen Gespräch bleibt. Gerade bei letzterem steht aber das Verhalten von Amtsträgern der kirchlichen Institution zur Diskussion und nicht der Sinn des Religiösen selbst.


So wichtig viele dieser Fragen sind, so wenig berühren sie den Kern dessen, worum es in der Religion eigentlich geht. Je mehr öffentlich von Religion die Rede ist, umso dringlicher erscheint es, über die Sache selbst nachzudenken und sich neu zu vergewissern, ob und wie heute dafür Plausibilität gewonnen werden kann. Da Religion stets in bestimmten historischen und sozialen Kontexten gelebt wird, kommt es nicht so sehr darauf an, eine rein dogmatisch hergeleitete Bestimmung des Religiösen zu liefern, sondern zu ermitteln, wie Religion in ihren Wechselwirkungen mit dem gesellschaftlichen Kontext verstanden werden kann.


In der Tradition des französischen Laizismus

Mit dem Denken des französischen Kulturanthropologen und Religionshistorikers Michel de Certeau (1925-1986) ist es möglich, einige der Fragen besser zu beleuchten (vgl. auch HK, Juni 2002, 303ff.). Zahlreiche der theologischen und religionsphänomenologischen Schriften des französischen Jesuiten, der bereits in den siebziger Jahren den Höhepunkt seines Schaffens erlebte, werden seit kurzem ins Deutsche übersetzt und eröffnen damit eine Rezeption, die in der englisch- und spanischsprachigen Geisteswelt bereits seit längerem stattfindet (vgl. GlaubensSchwachheit, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2009, und jetzt angekündigt: Mystische Fabel, Verlag Suhrkamp, Frankfurt 2010).

Certeaus Denken ist auf den ersten Blick historisch orientiert und befasst sich nicht nur mit religiösen Themen. Fragen zur Hermeneutik der Geschichtsschreibung und zur Handlungstheorie gehören ebenso dazu wie solche zum Verständnis politisch-gesellschaftlicher Umbrüche. Aber eine wesentliche Wurzel seiner Studien ist die Religionsgeschichte der frühen Neuzeit und darin insbesondere die Auseinandersetzung mit der Mystik. Aus diesem Feld scheint Certeau die zentralen Impulse seines Denkens zu beziehen.


Certeaus Beitrag zu den Auseinandersetzungen um das Thema Religion ist von mehreren konstitutiven Brechungen durchzogen: Zum einen spricht hier jemand, der ganz in der Tradition des französischen Laizismus steht. Als Intellektueller, der sich zur Religion äußern möchte, ist der Franzose Certeau gezwungen, die rigiden Rahmenbedingungen für religiöse Präsenz in der Öffentlichkeit zur Kenntnis zu nehmen. Er tut dies, indem er die Genese dieser Abseitsstellung des Religiösen reflektiert und den Bruch zwischen religiöser Rede und öffentlichem Sinnanspruch akzeptiert, ja zum unhintergehbaren Ausgangspunkt einer neuen Suche nach religiöser Plausibilität macht. Zum anderen versteht Certeau sich innerhalb der Religion selbst als randständig. Er macht sich nicht zum Sachwalter institutioneller Interessen, sondern hinterfragt die unterschiedlichen Paradigmen, mit denen Religion unter den Bedingungen des oben beschriebenen Bruches wieder Gehör zu finden sucht.

Als eine französische Stimme, die sich zu Fragen der Religion äußert, nimmt er deswegen eine Ausnahmeposition ein: Er stigmatisiert jene, die den Bruch leugnen, als rückständig, schließt sich aber dennoch nicht der anderen Seite an, welche - von religiöser Warte her - die Kluft auf dem Wege der Spiritualisierung und eines freiwilligen Rückzugs in die gesellschaftliche Nischenexistenz überdecken will, oder - aus laizistischem Interesse - die Religion generell für überkommen hält.

Seine Option besteht darin, die Gründe für das Auseinanderfallen von Religion und Welt verständlich zu machen und auf intellektuell redliche Weise darzulegen, welche Optionen nach dem Bruch noch bleiben. Ein binäres Schema von "Säkularisierung" oder "Rückkehr der Religionen" übersteigt solche Überlegungen, weil es aus der Hermeneutik der Geschichte heraus ein anderes Bild auf die gesellschaftlichen Formationen der Gegenwart erlaubt.


Das zu verstummen drohende Gotteswort

Die Diskurse der Mystik sind in Certeaus Lesart angesiedelt auf der Schwelle zwischen einer untergehenden alten und einer beginnenden neuen Zeit, die in Gestalt der Moderne all jene Produktiv- und Umwandlungskräfte freisetzt, die einem kosmologischen Weltbild das Wasser abgraben. Etwas, das bis vor kurzem noch denkbar war, verliert seine Plausibilität.

Die Mystiker sind jene, die diese Veränderungen spüren, ihnen auf den Grund gehen, sie wahrnehmen, aber nicht wahrhaben wollen und sich in ihrem Wirken verzweifelt dagegen auflehnen. Die Welt spricht nicht mehr, sie verliert die unmittelbare Transparenz auf ihren Schöpfer hin. Anders als die Reaktion der kirchlichen Institution, welche die Errungenschaften der modernen Zeit aufnimmt und sich im Rahmen einer flächendeckenden Pastoral professionalisiert, geben die Mystiker ihrer Trauer über das Verlorene Raum.

Sensibel für die Umbrüche sind besonders jene, die am eigenen Leib, sozial und wirtschaftlich, davon betroffen sind: Viele der mystischen Autoren kommen aus der verarmten, untergehenden Aristokratie, so Johannes vom Kreuz; ebenso Theresa von Avila, deren Familie aus "neuen Christen" besteht - konvertierte Juden, deren sozialer Status mehr als prekär ist. Sie bewegen sich an den Rändern der Institution, von ihr mehr geduldet als respektiert. Aber sie sind vielleicht deswegen mehr als andere empfänglich für die Herausforderung, das zu verstummen drohende Gotteswort auf eine andere Weise wieder hörbar werden zu lassen.

Certeau schildert, wie die mystischen Autoren die überlieferte theologische Sprache zum Terrain ihres Erfindungsreichtums machen. Ihr Ziel ist es nicht, den überkommenen Korpus religiöser Rede zu übergehen. Sie begeben sich freiwillig auf die Ruinenfelder der Tradition, weil sie darin Anschlussstellen erkennen - die Enden eines gerissenen Fadens, der wieder aufzunehmen, aber nun ganz anders und neu zu knüpfen sein wird, als dies bisher der Fall war. Mystik ist deshalb ein Versuchsfeld für den kreativen Umgang mit einer Erbmasse, die sich längst in eine andere Richtung bewegt.


Mit einer provisorisch anmutenden Definition riskiert Certeau eine Bestimmung seines Untersuchungsgegenstandes: "Mystiker ist, wer nicht aufhören kann zu wandern und wer in der Gewissheit dessen, was ihm fehlt, von jedem Ort und von jedem Objekt weiß: Das ist es nicht. Er kann nicht hier stehenbleiben und sich nicht mit diesem da zufriedengeben. Das Verlangen (...) drängt voran, weiter, anderswohin. Es wohnt nirgendwo" (La fable mystique. XVIe-XVIIe Siecle, Bd. 1, Paris 1982, 411, Übersetzung Michael Lauble).

Die Mystik konfrontiert die religiösen Institutionen mit dem umwälzenden Wahrheitsanspruch einer biografisch und psychologisch verankerten subjektiven Erfahrung. Die Ortlosigkeit der Mystiker ist nicht der Grund für Resignation, sondern Auslöser einer kontinuierlichen Dynamik. Wo die ontologischen Hypotheken von Sprache und Welt zerbrochen sind, ist in den Orten dieser Welt für den Religiösen keine wirkliche Heimat mehr zu finden. Mystik zeichnet sich dadurch aus, dass sie verzweifelt nach neuen Möglichkeiten sucht, wieder von dem handeln zu können, was verstummt. Sie findet sich gerade nicht damit ab, mit dieser subjektiven Erfahrung allein zu bleiben, sondern skandalisiert den Kommunikationsverlust religiöser Rede. Diese dürfe es nicht hinnehmen, zur partikularen Option einiger weniger zu werden. Ergebnis dieser mystischen Suche nach einer neuen Universalsprache ist die Form eines Weges immer wieder neu ansetzender "Aufbrüche".


Mystik - vor allem ein Phänomen der Sprache

Sich als Forscher mit der Mystik auseinanderzusetzen, macht keineswegs ein religiöses Bekenntnis erforderlich. Da sich die Untersuchungen auf die Grenzverletzungen, Überschreitungen und Variationen beziehen, die von bestimmten Autoren am existierenden Korpus religiöser Texte und Praktiken vorgenommen werden, sind diese dann "mystisch" genannten Operationen auch unter veränderten weltanschaulichen Vorzeichen nachvollziehbar. Certeau setzt sich damit von anderen in Frankreich prägend gewordenen Linien der Mystikforschung ab, etwa von einer lange Zeit einflussreichen binnenreligiösen Interpretation oder von einer Deutung des Phänomens mit Hilfe der Jungschen Psychoanalyse.

Die "Mystische Fabel" folgt hingegen einem neueren Traditionsstrang, der sich den mystischen Texten auf historisch-literarische Weise nähert. Nicht ein verborgener Sinn hinter den Äußerungen der Mystiker soll gesucht oder eine Stufenleiter religiöser "Zustände" definiert werden, sondern es gilt, die textliche Gestalt mystischer Rede mit den Methoden des sprachlichen Verstehens penibel zu erschließen. Auch Certeau versteht die Mystik vor allem als ein Phänomen der Sprache, ohne jedoch die Funktionalität der sprachlichen Ebene in institutionellen und politischen Bedeutungszusammenhängen zu leugnen oder für die Schnittstellen zwischen Sprach- und Erkenntnislogik blind zu werden.

Seine langjährigen Erfahrungen als Mitglied der "Ecole Freudienne" erlauben es ihm zudem, das Phänomen der Mystik in Parallele zu dem der Psychoanalyse zu interpretieren und daraus einen neuen Verständnishorizont für die religiöse Praxis zu gewinnen, die ebenso wie die Psychoanalyse ihre sie tragenden Fundamente - das eine Mal die bürgerliche Gesellschaft, das andere Mal die institutionalisierte Religion - sukzessive unterspült. Am Horizont zeichnet sich ein Verständnis von Mystik ab, dem man eine theologische Imprägnierung kaum absprechen kann.

Es steht die Frage im Raum, ob es unter den geänderten Rahmenbedingungen der Moderne noch Gottesrede geben kann. Wie sollte überhaupt noch auf intellektuell redliche Weise von Gottespräsenz in einer Zeit gesprochen werden, die von aufklärerischer Ethik, methodischem Agnostizismus der Wissenschaften und einer bürgerlichen Gesellschaft markiert ist, die den Paradigmen von Produktion und Leistungssteigerung folgt? Auf welchen Wegen, mit welcher Sprache könnte eine solche Präsenz noch vermittelt werden, ohne in Folklore abzudriften oder durch die Raster ernst zu nehmender Wahrnehmung zu fallen? Certeau selbst bringt die Dialektik des erkenntnistheoretischen Status der Mystik auf den Punkt:

"Die Mystik ist weniger eine Häresie oder eine Befreiung der Religion als vielmehr das Arbeitsinstrument, das darauf zielt, innerhalb der Religion eine Wahrheit zu enthüllen, von der zu vermuten ist, dass sie zuerst in der Art einer nichtsagbaren Randbemerkung zu orthodoxen Texten und Institutionen ausgesagt worden ist und nunmehr aus den Glaubensvollzügen wieder ans Licht gehoben werden kann. Die Untersuchung der Mystik erlaubt demnach eine nichtreligiöse Exegese der Religion. Sie schafft im historischen Selbstverhältnis des Westens Raum für eine Wiedereingliederung, welche die Vergangenheit erledigt, ohne deren Sinn preiszugeben" (Artikel "Mystique", in: Encyclopaedia Universalis Bd. II, Paris, 1971, 521-526, hier: 526).

Mystik kann so auch von außen und mit nicht-religiösem Interesse gelesen werden und gibt gerade dadurch einen legitimen und authentischen Bericht über den Zustand des Religiösen selbst. Diese Fähigkeit zu einer nicht-religiösen Selbstauskunft der Religion macht die Studie der Mystik in der Lesart Certeaus auch für einen Gegenwartskontext relevant, in dem sich die Erscheinungsformen und Verwendungen von Religion inflationär vermehren.


Certeaus Überlegungen zur Religion stehen in einer Reihe mit anderen Versuchen, das landläufig "Säkularisierung" genannte Geschehen aus dem Anspruch eines genuin religiösen Eigensinnes heraus zu beschreiben. Aber anders als etwa jene Theologien der Säkularität, wie sie Friedrich Gogarten oder Johann Baptist Metz formuliert haben, geschieht dies bei Certeau unter systematischem Rückgriff auf das Methodenraster und die hermeneutischen Prämissen der Geschichtswissenschaft. Religionsgeschichte wird bei ihm von ihrem Stigma der "theologischen Hilfsdisziplin" befreit und selbst zum universal auskunftsfähigen Leitwissen.


Wie die Gottespräsenz in den zeitgenössischen Verstehenshorizonten plausibel machen?

Solche Neuakzentuierungen innerhalb des geisteswissenschaftlichen Rollenspiels erscheinen im deutschsprachigen Raum ungewohnter als sie es im französischen sind, wo seit der von Henri Brémond mit seiner "Histoire littéraire du sentiment religieux en France" (1916-1936) vorgelegten Neuausrichtung der Spiritualitätsgeschichte eine Integration und Vermittlung von theologischen Gehalten und historischer Vernunft zur Diskussion steht.


Die leitende Frage lautet, aufgrund welcher Faktoren es der Religion nicht mehr zu gelingen vermag, die beanspruchte Gottespräsenz innerhalb der zeitgenössischen Verstehenshorizonte plausibel zu machen. Obwohl es zu den Prämissen seiner Untersuchungen zur frühneuzeitlichen Religionsgeschichte und zur Mystik gehört, von einem Bruch zwischen weltlicher und religiöser Sphäre auszugehen, verwendet Certeau den Begriff der Säkularisierung nur sehr sparsam. Dabei läge es doch nahe, für den Rollenwechsel, der zwischen Religion und öffentlicher Politik beschrieben wird, sowie für die in der Folge sich manifestierende epistemologische Abseitsstellung der Religion von einer Säkularisierung zu sprechen: Vormals religiöse Gehalte verlieren ihre Funktion und werden durch nicht-religiöse Zuschreibungen ersetzt.

Das Hauptaugenmerk bei Certeau ist jedoch stets darauf gerichtet, eine Sensibilität für die vielfältigen Wandlungen der Glaubenspraxis zu wecken. Denn der Rollenwechsel, dem die Religion im Zuge der Herausbildung eines modernen Wissensparadigmas unterliegt, bedeutet noch nicht, dass es nicht weiterhin gläubige Praktiken und Handlungsweisen geben könne. Diese Praktiken sind allerdings nicht mehr länger auf den Bereich der Religion oder eine religiöse Nomenklatur angewiesen; sie haben sich von einer religiösen Sinngebung emanzipiert und können in der gesamten Breite der sozialen Wirklichkeit wiedergefunden werden.

Certeau interessiert sich also weniger dafür, eine Verlustgeschichte religiöser Kultur oder kirchlicher Repräsentation zu beklagen. Er versteht unter Säkularisierung: Die Deutung und Sinnerschließung der sozialen Welt, die das Selbstverständnis von Mensch und Gemeinschaft, aber auch Dimensionen des kollektiven Sinns und der öffentlichen Sinnzuschreibung umschließt, wird unter modernen Vorzeichen nicht mehr länger nach einem religiösen "Quellcode" vorgenommen. Modelle wie das der Arbeit, der Produktion, des Konsums oder des Vergnügens haben eine vormals religiöse Sinnwelt abgelöst. Für die religiösen Praktiken muss sich dadurch zunächst nicht sehr viel ändern. Sie werden aber sukzessive von einer neuen Sinngebung unterwandert und möglicherweise auch funktionalisiert. Wo Religion sich dieses Zusammenhanges nicht gewahr ist, droht sie zur reinen Folklore zu degenerieren.


Säkularisierung ist für Certeau demnach kein Begriff, mit dem das "Ende der Religion" beschrieben werden müsste. Wer nur auf so genannte religiöse Praktiken fixiert ist, greift zu kurz. Denn damit wird nicht erfasst, dass es einen Unterschied gibt zwischen der Benennung eines Handelns und den inneren Strukturen desselben Handelns, das sich auch mit wechselnden Benennungen treu zu bleiben vermag. Während die theologische Unterscheidung zwischen fides quae und fides qua auf diese Differenz zwischen Glaubensinhalt und Glaubensakt hinweist, entgeht einer religionssoziologischen Lesart der Aspekt, solange sie auf die quantitativ orientierte Messung sozialer Verhaltenweisen fixiert bleibt.

So kann es sein, dass sich eine explizit als religiös zu erkennen gebende Praxis im Rückgang befindet, die Tiefenstruktur einer Praxis des Glaubens aber bestehen bleibt und fortan auf anderen Feldern wirksam ist. Ebenso müssen kontinuierlich identifizierbare religiöse Praktiken nicht unbedingt auf ein lebendiges Reservoir von Gläubigkeit schließen lassen, sondern können die "folkloristische" Fortexistenz einer nicht mehr durch ein genuin religiöses Sinnschema gedeckten Praxis bedeuten, die längst von anderen - sozialdienlichen, nutzenorientierten - Werten gesteuert wird.

Die Mystik bildet das zentrale Modell, wie zuerst auf die Kluft zwischen religiöser Praxis und religiösem Sinn reagiert wird. Das Gegen-den-Strich-Lesen der herkömmlichen Tradition findet hier noch innerhalb der religiösen Welt statt. Aber die Mystik steht damit bereits Pate für jene "Wanderungen des Glaubens", die mit fortschreitender Modernisierung die religiösen Eingrenzungen oder gar kirchlichen Orte verlassen haben und ihre Sinnsuche auf vollkommen anderen Feldern, etwa in der Pop- und Alltagskultur, fortsetzen.

Das ursprünglich religiöse und von den Mystikern zuerst geprägte Schema bleibt weiterhin wirksam: Es ist die Geste des ständigen Aufbrechens, der nimmersatten Suche nach einem abwesenden, nicht greifbaren ersten Grund, der noch als Auslöser eines Begehrens wahrgenommen, aber an keinem der eingenommenen weltlichen Orte je mit Sicherheit identifiziert werden könnte. Hier macht sich das Echo der theologischen Grundierung vernehmbar, die Certeaus Werk durchzieht - die "abwesenden Ursprünge" einer christlich-religiösen Beanspruchung von Präsenz, der sich in einer Kenosis entziehende Gott, symbolhaft verdichtet im christlichen Auferweckungsglauben, der sich in Certeauscher Lesart mehr als negative Theologie eines abwesenden, erhofften, kommenden Gottes denn als besitzhaftes Erlösungsversprechen darstellt.


Glaube ist auf Glaubwürdigkeit verwiesen

Es liegt auf der Hand, dass in einer solchen Perspektive nicht wie gewohnt von Säkularisierung die Rede sein kann. Certeau beschreibt die Geschichte der Moderne zwar als einen Prozess der Verflüchtigung einer religiösen Nomenklatur sui generis. Entscheidend ist aber, die Funktionsweisen der einstmals von der Religion, heute auf andere Weise ausgelösten Gläubigkeitsstrukturen sichtbar zu machen. Hatte die Kirche über lange Epochen der europäischen Geschichte hinweg ein Monopol, hat sich mit dem neuzeitlichen Bruch, der durch die Mystik markiert wird, das Feld geöffnet. Religion ist nurmehr eine soziale Variante hinsichtlich der Wechselwirkungen zwischen Glaubensinhalt und -akt; sie teilt sich diese Wirkweise mit anderen, weltlichen Anwärtern auf die Sinnzuschreibung innerhalb der sozialen Welt.

Das Interesse liegt also in der Ergründung einer Anthropologie des Glaubens, und nicht in einer Beschreibung des Wirkungsgrades religiöser Institutionen. Selbstverständlich spielen die Religionen in dieser Sichtweise eine Rolle, aber Certeau ermöglicht durch seinen Zugang ein umfassenderes Verständnis der Funktionalität der Religion. So werden Instrumente verfügbar, die dabei helfen, die unverzichtbaren sowie die überflüssigen, da sekundären Merkmale religiöser Praxis zu identifizieren.

Die Frage nach der Relevanz religiöser Institutionen und einer sich auch explizit zu erkennen gebenden Religiosität gerät in einem zweiten Schritt wieder in den Blick: Unter der Perspektive einer Anthropologie des Glaubens kommen auch jene Glaubensangebote auf den Prüfstand, die sich dem Gläubigen als Wettbewerber um sein Vertrauen darbieten. Einer Praxis des Glaubens korrespondiert deshalb der Bedarf nach Glaubwürdigkeit auf Seiten der geglaubten Sache und in Form der sie vertretenden Instanzen. Glaube ist auf Glaubwürdigkeit verwiesen; wo es dem Einzelnen oder Gruppen nicht mehr möglich ist, die Glaubwürdigkeit eines Glaubensangebotes wahrzunehmen, läuft das Glauben ins Leere und droht sich im Rauschen des gesellschaftlichen Überangebotes an Sinnversprechen zu verlieren.


Gegenüber einem binär wirkenden Schema, das sich entweder in einer an Max Weber angelehnten Entzauberungsmetaphorik um die Vermessung offenbar säkularisierter Räume sorgt, oder aber an der Feststellung einer zurückgekehrten Religiosität Gefallen findet, erlaubt die mit Certeau eröffnete Perspektive eine größere Tiefenschärfe. Diese wird gewonnen, indem man nicht darauf verzichtet, eine letztlich in theologischer Rationalität wurzelnde inhaltliche Bestimmung von Gläubigkeit zugrunde zu legen, anstatt auf eine rein deskriptive Ebene zurückzuweichen und sich damit dem auszuliefern, was man im sozial- und kulturwissenschaftlichen Vorverständnis für "religiös" halten mag.

Eine gründliche Erschließung der von Certeau gesetzten Impulse steht noch aus. Sie kann dazu beitragen, den Denker aus dem toten Winkel zu holen, in den er sich zum Teil selbst begeben hatte. Durch seine Weigerung, innerhalb der Geschichtswissenschaft die Moden seiner Zeit mitzumachen, durch sein Beharren, mit der Religionsgeschichte ein ausgelagertes Verdrängtes in den Fokus der Historiografie zurückzuholen, aber auch mit seinem am historischen Stoff untermauerten Vorwurf gegenüber den Kirchen, deren Gottesrede werde an der sozialen Basis vorbei und allein mithilfe gelehrten Wissens geführt, hat sich Certeau innerhalb der Institutionen, denen er angehörte, randständig positioniert. Für die Fragestellungen der Gegenwart erweist sich sein Denken als hochaktuell.


Daniel Bogner (geb. 1972), Dr. theol., Wiss. Mitarbeiter am Institut für Christliche Sozialwissenschaften der Katholisch-Theologischen Fakultät und im Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Universität Münster. Zuvor Referent für Menschenrechtspolitik bei der Deutschen Kommission Justitia et Pax, Bonn.


*


Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 4, April 2010, S. 202-207
Anschrift der Redaktion:
Hermann-Herder-Straße 4, 79104 Freiburg i.Br.
Telefon: 0761/27 17-388
Telefax: 0761/27 17-488
E-Mail: herderkorrespondenz@herder.de
www.herder-korrespondenz.de

Die "Herder Korrespondenz" erscheint monatlich.
Heftpreis im Abonnement 10,29 Euro.
Das Einzelheft kostet 12,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juli 2010