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BERICHT/312: Brüche im Blendwerk. Werkstattgespräch zwischen Kirche und Theater (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 11/2010

Brüche im Blendwerk
Ende der wechselseitigen Unterstellungen zwischen Kirche und Theater?

Von Stefan Orth


Das wieder erstarkte Interesse des Theaters am Thema Religion hat auch den Austausch mit Kirchenvertretern beflügelt. Bei einem Werkstattgespräch diskutierten jüngst Theatermacher und Bischöfe, Schauspieler, Theologen und andere Experten über Gemeinsamkeiten, aber auch Trennendes.


Auch in der katholischen Kirche gibt es sie in durchaus beachtlicher Zahl: kunstsinnige Bischöfe und ästhetisch interessierte Theologen. Aber nicht zuletzt die einschlägigen Fragebögen, in denen Vorlieben für das gegenwärtige Kulturschaffen angegeben werden sollen, belegen, dass kaum eine Sparte so wenig Beachtung findet wie das Theater.

Dramatiker und Regisseure mögen sich immer schon auf ihre Weise mit religiösen Fragen auseinandergesetzt haben, die Verflechtungen der jeweiligen Traditionen sind vielschichtig. Offenkundig jedoch wirken die schon früh artikulierten Vorbehalte immer noch nach, entspringt doch das Theater dem kultischen Geschehen der Antike. Schon seit Tertullian wurden Schauspieler aufgrund ihres unehrenhaften Berufs ausgegrenzt. Nicht nur dem Teufel sei bei der Taufe abzuschwören, sondern auch all seinem Prunk ("pompa diaboli"): also dem Schauspiel. Dass Christen in den ersten Jahrhunderten ihrer Geschichte nicht auf den Rängen saßen, sondern hier und da zur Belustigung des Volkes in der Arena drangsaliert wurden, konnte deren Begeisterung für das Theater ebenfalls nicht steigern.

Auch wenn es seit dem Mittelalter eine beachtliche Tradition kirchlich domestizierter Schauspielkunst zur Akzentuierung des Kirchenjahres gibt, blieb die Welt der Bühne aufs Ganze gesehen eher suspekt. Die Lust des Theaters an der kritischen Auseinandersetzung mit der Institution Kirche seit der Aufklärung, die Anfang der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in Rolf Hochhuths Stück "Der Stellvertreter" gipfelte, tat ein Übriges für die insgesamt ambivalente Haltung der Kirche.


In das Nicht-Verhältnis ist Bewegung gekommen

In den vergangenen Jahren ist Bewegung in das Nicht-Verhältnis gekommen, zu dem das zwischenzeitlich schroffe Gegenüber zuletzt geworden war. Auf den Bühnen geht man wieder unbefangener mit religiösen Stoffen um, auch Werke dezidiert christlicher Autoren wie etwa Paul Claudel oder Georges Bernanos gelangen zur Aufführung. Zudem setzt sich das Theater auch auf einer theoretischen Ebene wieder mehr mit dem Thema Religion auseinander (vgl. etwa HK Spezial, Renaissance der Religion. Mode oder Megathema?, Oktober 2006, 60 ff.; Theater im Marienbad [Hg.], Ekstase und Trost. Glaube und Ritual im zeitgenössischen Theater, Freiburg 2009). Im Raum der evangelischen Kirche ist das Interesse am Theater traditionell größer (vgl. jüngst: Inspiration. Theater im Gottesdienst, Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck [Hg.], Kassel 2010; aber auch den Arbeitskreis Kirche und Theater in der EKD, www.theaterundkirche.de).

Dieses wieder erstarkte Interesse des Theaters am Thema Religion hat jetzt aber auch den Austausch mit katholischen Kirchenvertretern beflügelt, wie jüngst bei einer Tagung im oberschwäbischen Weingarten deutlich zu spüren war, als vom 8. bis zum 10. September Theatermacher und Bischöfe, Schauspieler und Theologen in der Katholischen Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart über Gemeinsamkeiten und Trennendes diskutierten.

Die Veranstaltung mit dem Titel "Inszenieren - Inspirieren - Konfrontieren" gehört in die Reihe der von der Deutschen Bischofskonferenz und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) veranstalteten Werkstattgespräche mit Künstlern, nachdem in den neunziger Jahren bereits in Berlin bei einem Zusammentreffen auf das Missverhältnis der Kirche zu den Künsten insgesamt aufmerksam gemacht wurde (vgl. HK, März 1995, 121 ff.; Karl Lehmann und Hans Maier [Hg.], Autonomie und Verantwortung. Religion und Künste am Ende des 20. Jahrhunderts, Regensburg 1995).

In der Folge gab es bereits eine Reihe Begegnungen von Bischöfen, Theologen und anderen Wissenschaftlern mit Kunstschaffenden: So traf man sich 1997 mit bildenden Künstlerinnen und Künstlern in Kopenhagen, 1998 mit Literaturschaffenden in Telgte. 1999 folgte ein Kolloquium mit Kunstgeschichtlern in Bad Honnef (vgl. HK, Mai 1999, 226 ff.; Eckhard Nordhofen [Hg.], Bilderverbot. Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren, Paderborn u. a. 2001). Das vorerst letzte Treffen der Reihe fand 2002 auf Schloss Hirschberg im Altmühltal mit Komponisten Neuer Musik statt (vgl. HK, Juni 2002, 312 ff.).


Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, der Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch, bekräftigte zu Beginn der Veranstaltung, dass von den "früheren wechselseitigen Unterstellungen zwischen Theater und Kirche" im 21. Jahrhundert so gut wie nichts mehr zu spüren sei. Auf der einen Seite brauche man nur auf die Spielpläne der Schauspielhäuser zu schauen, die gespickt seien mit "religiös aufgeladenen Neuinszenierungen und sakralen Umdeutungen bekannter Repertoire-Stücke, Revitalisierungen vergessener Klassiker religiösen Theaters sowie Uraufführungen neuer Stücke, die christliche Sujets aufgreifen". Auf der anderen Seite erlebe das Genre des Geistlichen Spiels in Gotteshäusern eine Renaissance.

Von Anfang an wurde aber auch auf die vielen Zwischentöne in den Disharmonien zwischen beiden Gesprächspartnern in den vergangenen zwei Jahrtausenden aufmerksam gemacht. Faktisch habe die kirchliche Tradition der mittelalterlichen Krippen-, Passions- und Osterspiele dem Theater eine noch längere Durststrecke zwischen der Antike und der Neuzeit erspart, so Thomas Sternberg, Direktor des Franz Hitze Hauses in Münster und kulturpolitischer Sprecher des ZdK. Danach seien im Verhältnis von Kirche und Theater während der Reformation durch das Jesuitentheater der Gegenreformation und dann in der Aufklärung mehrfach gegenläufige Akzente gesetzt worden.

Am Ende des 19. Jahrhunderts wiederum habe es gerade innerhalb des Katholizismus eine bedeutende Theaterbewegung gegeben, sei das Laienspiel in vielen der Bildungsbewegung verpflichteten katholischen Vereinen und Verbänden gepflegt worden. Und nicht zuletzt nach dem Zweiten Weltkrieg habe man sich in den fünfziger Jahren in katholischen Theatergemeinden engagiert, weil man sich vom Theater nach der Zeit des Nationalsozialismus eine entscheidende geistige Orientierung erhoffte. Zu den Gründern einer solchen Vereinigung in Münster habe etwa der damalige Theologieprofessor und spätere Bischof von Mainz, Kardinal Hermann Volk gehört.


Zentral für die Werkstattgespräche ist jeweils die konkrete Auseinandersetzung mit Kunst. So nahm dieses Mal etwa das Autorenpaar Tankred Dorst und Ursula Ehler-Dorst, die beide 2008 den Kunst- und Kulturpreis der Katholiken verliehen bekommen hatten (vgl. HK, Dezember 2008, 599 f.), an dem Treffen teil. Tagungsdramaturgisch geschickt wurde am Ende die Inszenierung des Bayerischen Staatsschauspiels von Dorsts Stück "Ich, Feuerbach" (1986; Regie: Veit Güssow) aufgeführt, nachdem die Vorträge und Diskussionen bereits mehrfach durch Proben im Tagungsraum unterbrochen wurden. In dem Stück mit religiösen Tiefenschichten geht es um einen Theaterschauspieler, der sich nach einer jahrelangen Pause wieder um ein Engagement bemüht. Der Intendant lässt ihn jedoch beim verabredeten Termin bis zuletzt warten, so dass jener dem Regieassistenten, unterbrochen von nervenden Bühnenarbeitern, seine Lebens- und schließlich auch seine Leidensgeschichte auf und hinter der Bühne erzählt. Fast wie ein Gott sei der Intendant, heißt es in Verstärkung der Anspielungen auf "Warten auf Godot" von Samuel Beckett.

An einem Abend trug die Film- und Theaterschauspielerin Hanna Schygulla im Kreuzgang der Abtei weite Teile von "Marieluise" vor, einem autobiographischen Monolog der Bertolt-Brecht-Schülerin Marieluise Fleißer, der von Kerstin Specht für die Bühne geschrieben wurde.


Umgekehrt profitierten nicht nur die Theaterleute vom genius loci. So konnte man während der Tagung den aus dem Jahr 2004 stammende Kinofilm von Douglas Wolfsperger über die Weingartener Tradition des Blutritts, an dem jeweils rund 3000 Reiter teilnehmen, sehen. Vor allem aber wurden die Teilnehmer in der barocken Basilika mit dem dramatischen Potenzial der katholischen Liturgie vertraut gemacht. Jeweils gegen Abend wurden eine Vigil, eine Vesper und ein Pontifikalamt gefeiert, in der neben der kirchenmusikalischen Gestaltung eine Reihe weiterer künstlerischer Akzente gesetzt wurden. So gab es Rezitationen und liturgischen Tanz, aber auch die Aufführung des "Weingartner Osterspiels" aus dem Jahre 1200, das den Besuch der drei Frauen am Grabe historisch korrekt mit männlichen Chorsängern in stilisierten weiblichen Gewändern in Szene setzt - begleitet von den Gesängen des "Weingartner Heilig-Blut-Officiums", die die Choralschola des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Tübingen vorgetragen hat. Und im Gottesdienst am Kirchweihtag mit dem Rottenburger Bischof Gebhard Fürst flutete die Abendsonne, wie vom Architekten geplant, den Chorraum.

Nicht zuletzt war in der großen Kirche auch Platz für Ortswechsel und Prozessionen. Gerade diese dramatischen Elemente der Liturgie kämen trotz gegenläufiger Tendenzen heute in den Gottesdiensten immer noch zu kurz, kritisierte der Bonner Liturgiewissenschaftler Albert Gerhards, der für diesen Teil der Tagung verantwortlich zeichnete.


Schwieriger war gelegentlich das direkte Gespräch

Beide Seiten konnten auf diese Weise auf dem eigenen Feld brillieren. Etwas schwieriger war gelegentlich das direkte Gespräch. Wie bei anderen Dialogunternehmen auch musste es erst einmal darum gehen, eine gemeinsame Grundlage für die Diskussion herzustellen - was durchaus den Reiz einer solchen Veranstaltung ausmacht. Sowohl Manfred Beilharz, Intendant des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, als auch Thomas Bockelmann, Intendant des Staatstheaters Kassel, bekannten jeweils in den ersten Sätzen ihrer Statements ihre Kirchenferne. Beilharz etwa bezeichnete sich als "hartgesottener Ungläubiger", der immerhin prinzipiell bekehrt werden könne. Die diesjährigen Passionsspiele in Oberammergau, auf die in Weingarten mehrfach mit viel Zustimmung Bezug genommen wurde, seien in jedem Fall eine ästhetisch überzeugende und mitreißende Inszenierung gewesen (vgl. HK, Juli 2010, 357 ff.).

So wie die anwesenden Theologen, Bischöfe und anderen Kirchenvertreter das Theater zuallermeist nur aus der Zuschauerrolle kennen, brauchten grobschlächtige Äußerungen über den christlichen Glauben auf der anderen Seite deshalb nicht verwundern. Dass die katholische Kirche etwa unter einem "Besetzungsproblem" zu leiden habe, weil sie für alle wichtigen Rollen Männer vorsehe, hatten auch die Bischöfe in anderer Diktion schon einmal gehört.

Die beiden Intendanten sahen aber auch durchaus weitreichende Gemeinsamkeiten in der Zielsetzung beider Institutionen. Die Kirche wie das Theater arbeiteten an der Verbesserung der Gesellschaft, in der das Lebensglück nicht vom Geld abhängen dürfe (Beilharz). Es gehe jeweils um die Frage nach dem guten Leben jenseits des Utilitarismus (Bockelmann). Ähnlich hat ZdK-Präsident Alois Glück in seiner Begrüßungsansprache den gemeinsamen Nenner im kritischen Bezug zur Gesellschaft hervorgehoben, der beim Theater im Vergleich mit anderen Künsten besonders stark sei.

Die Unterschiede, so Beilharz, lägen vor allem im unterschiedlichen Verhältnis, das beide Institutionen zu Autorität und Macht haben. Es gehöre zum Sendungsbewusstsein des Theaters, Herrschaftskritik zu üben und spielerisch Lebensmodelle auf der Bühne auszuprobieren, bis diese selbst zum Mainstream gehören und der kritischen Relecture unterzogen werden. Bockelmann hob hervor, dass die religiöse Unruhe des Theaters von der Frage herrühre, woran man denn glauben könne, wenn man nicht mehr glaube.


Die Bedeutung des Schmerzes

Viele dieser und anderer Thesen der verschiedenen Diskussionsrunden wurden im Schlussvortrag von Erich Garhammer aufgegriffen, als der Würzburger Pastoraltheologe die Konsequenzen für eine ästhetische Theologie aus christlicher Perspektive formulierte, die sich wie das Theater als ein "Nicht-Wissen auf hohem Niveau" verstehe - Bockelmann hatte dies als den entscheidenden Unterschied des Theaters verstanden wissen wollen.

Die Gemeinsamkeiten zwischen dem Theatermann und dem Prediger bestünden gerade darin, dass es beiden um die Wirkungsgeschichte ihrer Texte gehe. Die Wirkungsgeschichte breche ab, wenn jene nicht mehr zu Herzen gingen. Diese Spannung zwischen Traditionsverbundenheit und einer Verpflichtung zur Zeitgenossenschaft sprach auch die Theaterwissenschaftlerin Ingrid Hentschel in ihrem Beitrag an (vgl. die von ihr herausgegebene Reihe "Scena - Theater und Religion", Münster 2004 ff.).

Ein solcher Anspruch bleibt jedoch nicht ohne Konsequenzen für das Selbstbild der jeweils Engagierten, wie Garhammer aufzeigte. In Dorsts Stück "Ich, Feuerbach" gebe es etwa eine geradezu martyrologische Interpretation der Schauspielkunst. Nachdem der Held sich an seine ersten Theaterbesuche als Kind erinnert, als er ob seiner Begeisterung für das Theaterspielen überrascht war, dass Schauspieler für ihr Tun gar finanziell entlohnt werden, stellt er fest: "Ja. Ich bin Schauspieler geworden und habe mit meinem gesamten Leben dafür bezahlt." Dorst gehe es in diesem Sinne "um die Möglichkeit der Darstellung des Wunders auf dem Theater, um die Darstellung der Verwandlung, aber auch um Rolle und Sendung des Schauspielers".

Wunderglaube und die Faszination des Fiktiven gebe es sowohl in der Religion wie auch im Theater. Aber so wie Jesus seine Jünger vom Berg Tabor herunterführe, habe das Theater die Aufgabe, alle behaglichen Selbstimmunisierungen - "mit Dauerabonnement" - zu stören. Noch am Vorabend hatte Hanna Schygulla im Anschluss an ihre Lesung auf die Bedeutung des Schmerzes für das künstlerische Empfinden und Arbeiten aufmerksam gemacht. Kunst beginne oft genug dort, "wo es weh tue", sie dürfe sich deshalb nicht allein auf das Schöne beschränken.

Gegen die Versuchungen zur Verhübschung der Lebenswelt müsse es, so Garhammer schließlich, Theater wie Kirche um eine "schmerzende Ästhetik" gehen, die die Übertünchung der Widersprüche und Brüche durch Blendwerk aufdecke. Nicht umsonst erinnere das Theater in seiner Expressivität oft genug an die Sprache der Psalmen oder das Buch Hiob. Dieser ethische Impuls sei der Kern einer christlichen Ästhetik, mit der das Christentum schon gegen den spätantiken Kulturkanon verstoßen habe und angeeckt sei. Garhammer erinnerte in diesem Zusammenhang auch an den vor kurzem verstorbenen, ebenfalls für die Tagung angefragten Theatermacher Christoph Schlingensief und sein letztes Buch "So schön wie hier kann's im Himmel gar nicht sein!", in dem dieser seine Krebskrankheit reflektierte (Köln 2008).


"In die Kirche ging ich morgens, um Komödien zu schauen; abends ins Theater, um mich an der Predigt zu erbauen." Dieses Zitat von Heinrich Heine hatte die Evangelische Akademie Tutzing einer Tagung zum Thema "Theater und Glaube" Ende Oktober in Berlin vorangestellt. Alle Gesprächsteilnehmer haben in Weingarten davor gewarnt, bei der Suche nach Gemeinsamkeiten über das Ziel hinauszuschießen, sich der jeweils anderen Welt anzubiedern, dabei aber den eigenen Auftrag zu verraten. Der Lobpreis Gottes in der Liturgie ist im Kern selbstredend etwas anderes als eine Theateraufführung. Allerdings war man sich mit Blick auf die Praxis durchaus einig, dass auch der Liturge vom Schauspieler lernen kann, wenn es darum geht, im Gottesdienst als Akteur präsent zu sein, mit Körpergefühl und Ausdrucksvermögen seinem Tun, seiner Stimme und damit der Botschaft mehr Überzeugungskraft zu verleihen. Ausdrücklich forderte etwa der Würzburger Bischof Friedhelm Hofmann am Rande der Tagung eine stärkere Besinnung auf die ars celebrandi: "Natürlich ist der Priester kein Schauspieler. Aber er muss die Gestik beherrschen, die Mimik, die Artikulation. Und da kann man eine Menge vom Theater lernen."


Aber auch wenn Priester und andere, die für Gottesdienste verantwortlich sind, im Zuge einer Wiederentdeckung der dramatischen Qualitäten der Liturgie in die Schule des Theaters gehen, dürften sie nicht am Ende "theatern", fasste der Regisseur Veit Güssow seine Eindrücke zusammen. Es müsse dem Vorsteher in erster Linie darum gehen, seine Persönlichkeit einzubringen, ohne sich selbst zur Schau zu stellen. Zwar ist man heute angesichts ästhetischer Unzulänglichkeiten in der Liturgie sensibler geworden: Insbesondere rückwärtsgewandte Tendenzen einer neuen Klerikalisierung, bei der Sinn durch Form ersetzt werde, wurden in Weingarten aber mehrfach kritisch diskutiert.

Umgekehrt war Konsens, dass der Priester in weitaus stärkerem Maße als der Schauspieler mit seiner Person für sein Tun einstehen müsse und es deshalb einen höheren Anspruch auf Authentizität gebe - wobei Güssow wiederum darauf aufmerksam machte, dass das Faszinierende an herausragenden Schauspielern sei, wenn ihre Persönlichkeit durch die Rolle hindurchscheine.

Christiane Bongartz, Liturgiereferentin des Bistums Aachen, sprach in ihrem Impulsreferat im Anschluss an den Theaterregisseur Peter Brook ausführlicher darüber, wie es gelingen könne, ganz seinen Körper zu beherrschen und doch dahinter zurücktreten, um dem Gestalt zu geben, was ausgedrückt werden soll. Innere und äußere Bewegung gelte es um dieser Stimmigkeit willen in Einklang zu bringen. "Eine Liturgie und ein Theater, die Hunger stillen wollen, die mehr sein wollen als bloße Abbildung des Lebens, brauchen Personen, die lebendig sind, das heißt, die um sich selbst wissen, die Brüche im Leben kennen, die dem Leben nicht ausweichen", so Bongartz.


Dem Theater wie der Kirche geht es jeweils darum, auf eine Wirklichkeit jenseits des Bühnengeschehens aufmerksam zu machen. Inszenieren als wirkungsvolles Herüberbringen des anvertrauten Urtextes und ureigenen Credos, Inspirieren als aktiver Schaffensprozess für mehr Geistesgegenwart und Lebensfülle und Konfrontieren als Widerstand gegen Unmenschlichkeit und Lebensfeindlichkeit: Diese Umschreibungen des Tagungstitels wurden mit Blick auf beide Pole des Spannungsfeldes auf beeindruckende Weise eingeholt, ohne die bestehenden Unterschiede kleinzureden.


Stefan Orth, Dr. theol., geboren 1968 in Duisburg. Studium der Katholischen Theologie in Freiburg, Paris und Münster. 1998 Promotion. Seit 1998 Redakteur der Herder Korrespondenz.


JÜNGERE BEITRÄGE DER HERDER KORRESPONDENZ ZUM THEMA:

Die Oberammergauer Passion 2010: HK, Juli 2010, 357 ff.

Interview mit Passionsspielleiter Christian Stückl: HK, Februar 2010, 70 ff.

Kunst- und Kulturpreis der deutschen Katholiken 2008 an Tankred Dorst und Ursula Ehler-Dorst: HK, Dezember 2008, 599 f.

Interview mit dem Theaterintendanten Ulrich Khuon: HK April 2008, 178 ff.

Das Thema Religion auf der Bühne: HK Spezial, Renaissance der Religion. Mode oder Megatrend, Oktober 2006, 60 ff.

(Alle Beiträge lassen sich im Online-Bereich der Herder Korrespondenz unter www.hk-on.de lesen.)


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 11, November 2010, S. 579-583
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Januar 2011