Schattenblick →INFOPOOL →RELIGION → CHRISTENTUM

FORSCHUNG/028: Jesus und die Tradition Israels (Bibel heute)


Bibel heute
Zeitschrift des Katholischen Bibelwerks e.V. Stuttgart - Heft 4/2007

"Nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes...": Jesus und die Tradition Israels
Matthäus 5,17-48

Von Tobias Nicklas


"Ihr habt gehört ... ich aber sage euch ..." - diese wiederkehrende Formulierung leitet Forderungen Jesu ein, die von ungeheurem Anspruch zeugen. Wie sind sie zu verstehen? In welchem Verhältnis stehen sie zur Tora Israels? Darf man die Botschaft Jesu als Kontrast zu den alttestamentlichen Weisungen lesen, wie es die für diese Textstelle herkömmliche Bezeichnung "Antithesen" nahelegt?


*


Vorbemerkung

Untersuchungen der Bergpredigt bemühten sich lange Zeit vor allem darum, die Einzigartigkeit der Forderungen Jesu gegenüber einem angeblich in starrer Gesetzesfrömmigkeit verharrenden Judentum herauszuarbeiten. Dabei betonte man das immer wieder begegnende "Ich aber sage euch ..." und sprach von "Antithesen", in denen sich Jesus dem Gesetz gegenüber gestellt habe.

Die exegetische Forschung der vergangenen Jahre hat dieses Bild mit Recht in entscheidenden Punkten korrigiert: Man begreift das Judentum der Zeit Jesu nicht mehr als erstarrtes "Spätjudentum", das sich weit von seinen Wurzeln entfernt hat, sondern spricht vom "Frühjudentum", einer blühenden und in sich überaus differenzierten Religion, in der die verschiedensten Gruppen und Bewegungen Platz fanden. Vor diesem Hintergrund aber erkennt man mehr und mehr, dass der historische Jesus keineswegs vom Judentum zu trennen, sondern nur im Rahmen des lebendigen und vielfältigen Judentums seiner Zeit, seiner Frömmigkeit, seiner Debatten und Kontroversen zu verstehen ist. Mit Bezug auf die Bergpredigt heißt dies, dass ein Text wie Mt 5,17 wieder mehr in den Fokus rückt: Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen.


Der größere Zusammenhang

Um eine Teilpassage einer größeren Texteinheit angemessen verstehen zu können, ist es immer sinnvoll zu überlegen, welche Rolle sie im Ganzen spielt. Zunächst einmal darf natürlich nicht vergessen werden, dass die Bergpredigt ein Teil der gesamten Verkündigung Jesu von Nazaret ist. Diese wird in Mt 4,17 ganz knapp auf den Punkt gebracht: Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe. Ausgangspunkt aller Predigt Jesu bei Matthäus, aber auch bei den anderen Synoptikern Markus und Lukas, ist also die Vorstellung, dass Gott einen großen Schritt auf die Menschen zu macht und seine Herrschaft nahe gekommen ist. Dies bedeutet aber ganz automatisch auch, dass die Menschen sich darauf vorbereiten, ihm (im wahrsten Sinne des Wortes) "gerecht" werden müssen. Von dieser Logik ist auch die Bergpredigt bestimmt: Mt 5,17-48 markiert nicht den Beginn der Bergpredigt Jesu, sondern folgt nach den Seligpreisungen und den Worten vom Salz der Erde und vom Licht der Welt. Dies ist wichtig: Die Forderungen an die Hörerinnen und Hörer stehen nicht im luftleeren Raum. Der ethische Anspruch Jesu begründet sich im prophetischen Zuspruch der Seligpreisungen. Jesus sagt auch nicht: "Wenn ihr euch gemäß meiner Forderungen verhaltet, könnt ihr Salz der Erde sein" oder gar: "Wenn ihr euch nur gemäß meiner Forderungen verhalten würdet, könntet ihr Licht der Welt sein." Er sagt vielmehr: "Ihr seid das Salz der Erde" (5,13) - "Ihr seid das Licht der Welt" (5,14). Er traut den Angesprochenen also ungeheuer viel zu, sagt, was (in den Augen Gottes!) in ihnen steckt. Das aber darf nicht verderben oder versteckt, sondern muss hervorgelockt werden. Vor diesem Hintergrund erst ist der ungeheuere Anspruch der folgenden Forderungen zu verstehen.

Noch wichtiger für unsere Fragestellung ist aber auch, dass Mt 5,17-20 VOR den sogenannten "Antithesen" steht. Die in Mt 5,17-20 ausgedrückte Stellung zur Tradition ist nicht einfach ein Nachtrag, eine Fußnote oder ein Appendix zu dem ab 5,21 Ausgedrückten, sie ist Grundlage und Verständnisschlüssel des Folgenden. Bereits 5,17 macht unmissverständlich klar, dass Jesu Forderungen auf keinen Fall dahingehend missverstanden werden wollen, dass sie die Tora, die ja als Weisung Gottes den Willen Gottes zum Ausdruck bringen möchte, und die Propheten, die in Israels Tradition ja als Ausleger der Tora verstanden werden, aufheben oder abändern wollen. Jesus geht es vielmehr um die Frage, wie die Tora in einer Weise erfüllt werden kann, dass dem Willen Gottes, der sich selbst in den kleinsten Geboten ausdrückt, entsprochen werden kann. Und auch ein zweiter Punkt wird deutlich: Die Tatsache, dass die Herrschaft Gottes nahe ist, er auf den Menschen zugeht, verlangt vom Menschen, dass er alles daransetzt, mit größter Ernsthaftigkeit dem in der Tora ausgedrückten und in den Propheten ausgelegten Willen Gottes gerecht zu werden.


Die einzelnen Forderungen

Die nun folgenden Abschnitte wollen nun nicht ein neuer Gesetzeskodex sein, sondern Beispiele, in denen zum Ausdruck kommt, was die geforderte Umkehr, die Ausrichtung am Willen Gottes bedeuten kann. Ausgangspunkt jeder Forderung Jesu ist eine Aussage der Tora, meist in Zusammenhang mit einer Interpretation derselben. Jesu Forderungen bedeuten in keinem Falle, dass die Aussagen der Tora nun ungültig würden, sie suchen vielmehr zu verstehen, inwiefern Tora hier zutiefst den Willen Gottes zum Ausdruck bringt. Dies geschieht im Einzelfall auf unterschiedliche Weise: In Mt 5,21-26 geht Jesus weniger auf die Forderung "Du sollst nicht töten" (Ex 20,13; Dtn 5,17) als auf den Nachsatz ein: "Wer aber jemanden tötet, soll dem Gericht verfallen sein." Schlüssel ist sicherlich V. 25: Der Satz will hier nicht als eine allgemeine Weisheit darüber, wie man sich in juristischen Angelegenheiten klug verhalten soll, verstanden werden. Es geht vielmehr darum, dass jeder Mensch sich Zeit seines Lebens "auf dem Weg zum Gericht" Gottes (Mt 5,25) befindet - und jetzt noch die Chance hat, die zu verhandelnden Dinge ins Reine zu bringen. Mt 5,27-30 will natürlich nicht das Verbot des Ehebruchs (Ex 20,14; Dtn 5,18) außer Kraft setzen, dem Text liegt auch keine prinzipielle Lust- oder gar Leibfeindlichkeit zugrunde. Ihm geht es stattdessen darum, die Ehe anderer zu achten - ein Verstoß dagegen aber zeigt sich nicht erst im Ehebruch, sondern bereits zuvor. Natürlich ist hier aus patriarchalischer Perspektive formuliert - aber auch Frauen können sich angesprochen fühlen. Mt 5,31-32 ist vor dem Hintergrund von Dtn 24,1-4 formuliert, wo der Fall der Scheidung geregelt wird - Jesus aber will es gar nicht so weit kommen lassen. Das Ziel muss sein, die bereits bestehende Ehe zu erhalten. Damit aber steht Jesus in guter jüdischer Tradition (vgl. z. B. Mal 2,13-16). Auch die Forderung, keinen Meineid zu schwören (Mt 5,33; Lev 19,12), bleibt natürlich unangetastet. Wer aber wirklich ganz nach Gottes Willen lebt, soll den Eid, in dem man dazu neigt, Himmlisches zum Zeugen für seine irdischen Angelegenheiten anzurufen (Mt 5,34-35), möglichst vermeiden - ja, noch mehr: Er hat ihn im Grunde nicht nötig, weil Gott ja immer Wahrhaftigkeit erwartet (Mt 5,37). Häufig missverstanden wird Mt 5,38-42: Mit den Worten Auge für Auge, Zahn für Zahn (Ex 21,24; vgl. auch Lev 24,20; Dtn 19,21) wird nicht Vergeltung verlangt (oder gar Rache gefordert). Ausgedrückt wird vielmehr der bis heute gültige Grundsatz, Vergehen nicht übermäßig, sondern angemessen zu bestrafen. Jesus kritisiert nun nicht diesen Grundsatz: Im Angesicht der Herrschaft Gottes aber hält er es für nicht mehr tragbar, dass Menschen sich ihr Recht vor Gericht erstreiten, sondern fordert, auch einmal auf das Recht, das einem eigentlich zusteht, zu verzichten. Im Zusammenhang mit den Aussagen zur Feindesliebe muss natürlich klipp und klar gesagt werden, dass das Alte Testament keineswegs fordert, den "Feind zu hassen" (Mt 5,43b). Mt 5,43a zitiert Lev 19,18b, einen Satz, in dessen unmittelbarem Kontext (Lev 19,17-18a) der Hass auf den Bruder/die Schwester wie auch jede Form von Rache verboten wird. Wichtig ist auch, dass die Forderung nach Feindesliebe vom Angesprochenen nicht "liebende Gefühle" Feinden gegenüber verlangt. Es geht viel eher um eine Haltung, die Feindschaft überwinden kann. Dies wird etwa auch in Ex 23,4-5 zum Ausdruck gebracht: Wenn du dem verirrten Rind oder dem Esel deines Feindes begegnest, sollst du ihm das Tier zurückbringen. Wenn du siehst, wie der Esel deines Gegners unter der Last zusammenbricht, dann lass ihn nicht im Stich, sondern leiste ihm Hilfe!


Vollkommen wie der himmlische Vater

Der gesamte Abschnitt aber kulminiert in Mt 5,48, das als Achtergewicht eine Art von Fazit sein will: Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist. Diese Aussage - damit aber auch die im gesamten Abschnitt zum Ausdruck kommende Forderung an den Menschen - ist ungeheuerlich. Der Mensch kann natürlich nicht so vollkommen wie Gott sein. Interessant aber ist die genauere Formulierung: Jesus spricht vom "himmlischen Vater". Wenn Gott der "himmlische Vater" der Menschen ist, der sich aufmacht, sein Reich wirklich werden zu lassen, dann sagt dies ungeheuer viel auch über den Menschen als von Gott geliebtes Gegenüber aus. Ziel des Abschnitts also ist, sich dem "himmlischen Vater" anzunähern, der selbst den entscheidenden Schritt auf den Menschen hin bereits getan hat. Wenn Gott seine Herrschaft auf Erden errichtet, ist der Mensch angesprochen, in der ihm geschenkten Freiheit mitzubauen. Damit Herrschaft Gottes aber wirklich Herrschaft Gottes ist, an der der Mensch wirklich vollkommen teilhaben kann, muss dieser im Grunde zumindest das Ziel anstreben, "vollkommen zu sein, wie es auch sein himmlischer Vater ist" (Mt 5,48).


Prof. Dr. Tobias Nicklas lehrt Neues Testament an der Universität Nijmegen.



Aufbau der sog. "Antithesen" (Matthäus 5, 17-48)
                       5,17-20 Verständnisschlüssel:                
                "Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz       
                     und die Propheten aufzuheben ..."              
5,21-26  


   Thema: "Verantwortung vor Gericht"
   Ziel: Mensch soll zu verhandelnde Dinge Zeit
   seines Lebens ins Reine bringen.
5,27-32  

   Thema: "Ehe"
   Ziel: Bereits bestehende Ehen erhalten.
5,33-37  

   Thema: "Schwören"
   Ziel: Mensch soll wahrhaftig vor Gott sein.
5,38-42  


   Thema: "Angemessene Strafe"
   Ziel: Auf das Recht, das einem zusteht, auch
   einmal verzichten.
5,43-47  

   Thema: "Feindschaft"
   Ziel: Haltung, die Feindschaft überwindet.
                           5,48 Fazit:                              
                "Ihr sollt also vollkommen sein, wie es
                    auch euer himmlischer Vater ist."


*


"Bibel heute" vermittelt 4x im Jahr Informationen und Auslegungen zu biblischen Themen, - auch für Bibel-Einsteiger.
Die Zeitschrift ist für Blinde und Sehbehinderte auch als pdf-Datei erhältlich.
Bestellung: bibelinfo@bibelwerk.de, Tel. 0711/ 6 19 20 - 50


*


Quelle:
Bibel heute - 4. Quartal 2007, Nr. 172, Seite 8-11
Zeitschrift des Katholischen Bibelwerks e.V. Stuttgart
Silberburgstraße 121, 70176 Stuttgart
Tel.: 0711/619 20 50, Telefax: 0711/619 20 77
Internet: www. bibelwerk.de

Erscheinungsweise: viermal jährlich.
Der Bezugspreis für 2007 beträgt 22 Euro
(Schüler, Studenten und Rentner 12 Euro)


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. April 2008