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GESCHICHTE/026: Pluralismus in der frühen Kirche (Bibel heute)


Bibel heute
Zeitschrift des Katholischen Bibelwerks e.V. Stuttgart - Heft 3/2007

Pluralismus in der frühen Kirche
Verborgene Evangelien

Von Dieter Bauer


Wer sich mit den apokryphen Evangelien näher beschäftigt, ist überrascht über deren große Zahl. Um die dreißig von ihnen sind bekannt und zumindest teilweise erhalten. Wie kam es zu dieser großen Zahl?


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Der Kirchenvater Eusebius (gest. 339) berichtet uns von einem interessanten Vorfall, der sich um das Jahr 200 n. Chr. in Syrien zugetragen haben soll: Bischof Serapion von Antiochien wird von der kleinen Gemeinde Rhossos gefragt, was er von dem in ihrer Gemeinde gelesenen Petrusevangelium halte. Nachdem er dessen Verlesung zunächst - ohne das Evangelium auch nur angeschaut zu haben - gestattet hatte, kommt er später in einem Brief darauf zurück und widerruft seinen Entscheid, weil er inzwischen ein Exemplar gelesen hat. Er argumentiert, dass dieses Evangelium nicht vom Apostel Petrus sein könne: "Meine Brüder, wir halten an Petrus und den übrigen Aposteln ebenso fest wie an Christus. Wenn aber Schriften fälschlich unter ihrem Namen gehen, so sind wir erfahren genug, sie zurückzuweisen; denn wir wissen, dass uns solche Schriften nicht überliefert worden sind." Immerhin räumt er ein, "dass zwar das meiste mit der wahren Lehre unseres Erlösers übereinstimmt, manches aber davon abweicht." Der Hauptgrund für seine Ablehnung ist aber, dass dieses Evangelium von Häretikern benützt würde, also aus seiner Sicht missbraucht werden könne.

Dieser Blick in die Frühzeit der Kirche zeigt, dass es einige Zeit gedauert hat, bis sich die heutige Vierzahl der Evangelien durchgesetzt hatte, und dass diese noch einige Zeit umstritten war.


Streit um "das Evangelium"

Wir haben uns heute so sehr an diese Vierzahl der Evangelien gewöhnt, dass uns meist gar nicht mehr bewusst ist, dass diese alles andere als eine Selbstverständlichkeit der Kirchengeschichte darstellt. Der Weg, wie sich die Inhalte christlichen Glaubens in der angemessensten literarischen Form darstellen sollten, musste nämlich erst gefunden werden.

Bis ein uns unbekannter Autor um das Jahr 70 n. Chr. das sogenannte Evangelium nach Markus vorlegte, hatte es eine lange Zeit der mündlichen Weitergabe von Jesusüberlieferungen gegeben. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass wir die Jesusüberlieferungen heute in einer großen Vielgestaltigkeit vorfinden. Und darüber, was gilt, hatte es lange Zeit konkurrierende Vorstellungen gegeben. So erfahren wir im Galaterbrief des Apostels Paulus, wie er "sein" Evangelium verteidigt:

"Ich bin erstaunt, dass ihr euch so schnell von dem abwendet, der euch durch die Gnade Christi berufen hat, und dass ihr euch einem anderen Evangelium zuwendet. Doch es gibt kein anderes Evangelium, es gibt nur einige Leute, die euch verwirren und die das Evangelium Christi verfälschen wollen. Wer euch aber ein anderes Evangelium verkündigt, als wir euch verkündigt haben, der sei verflucht, auch wenn wir selbst es wären oder ein Engel vom Himmel."(Gal 1, 6-8)

Natürlich hatte Paulus in den 50er-Jahren des 1. Jahrhunderts noch keine Evangelienschrift vorliegen. Aber erste kleinere Sammlungen von Jesusworten oder Wundergeschichten dürfte es durchaus schon gegeben haben. Beim Markusevangelium lässt sich dann ja auch zeigen, dass der Evangelist bereits vorliegende Sammlungen verarbeitet. Und die Verfasser des Matthäus- und des Lukasevangeliums haben ja bekanntlich neben dem Markusevangelium nicht nur die unter dem Namen "Logienquelle" (Q) bekannt gewordene Sammlung von jesuanischem Spruchgut benützt, sondern schöpfen daneben noch aus einem großen Pool von "Sondergut".


Immer neue Evangelien

Dass nach dem Markusevangelium noch weitere Evangelien entstehen, hat mehrere Gründe. Zum einen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie die früher entstandenen verbessern, wenn nicht gar ersetzen wollen. Darauf deutet zumindest das Vorwort des Lukasevangeliums hin: "Schon viele haben es unternommen, einen Bericht über all das abzufassen, was sich unter uns ereignet und erfüllt hat. Dabei hielten sie sich an die Überlieferung derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren. Nun habe auch ich mich entschlossen, allem von Grund auf sorgfältig nachzugehen, um es für dich, hochverehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben. So kannst du dich von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen, in der du unterwiesen wurdest." (Lk 1,1-4) Das heißt doch, dass Lukas der Meinung ist, dass er mit seinem Evangelium die vielen anderen überflüssig macht.

Vielleicht hätte er dies sogar erreicht, wenn es nicht doch so etwas wie einen gewissen "Lokalpatriotismus" der eigenen Evangelienüberlieferung gegeben hätte. So etwas wie eine Zentralinstanz für die christliche Kirche gab es ja in der Frühzeit des Christentums noch nicht, sondern es gab verschiedene Zentren der Evangelienüberlieferung: Jerusalem, Caesarea am Meer, Antiochien in Syrien, Ephesus, Philippi, Korinth, Alexandria, Rom ... Und wie das oben angeführte Beispiel mit der kleinen Gemeinde Rhossos in Syrien zeigt, konnten sich in eher abgelegenen Gebieten Sondertraditionen herausbilden und erhalten.

Die Evangelienüberlieferung der frühen Kirche war also absolut pluralistisch. Wir kennen heute neben den vier neutestamentlichen ca. 30 weitere Evangelien. Und wir können davon ausgehen, dass viele im Lauf der Geschichte verschollen sind oder ähnlich wie die Logienquelle in andere Schriften eingearbeitet und danach nicht mehr eigenständig überliefert wurden:

Dass eine solche Fülle von verschiedenen Evangelien entstehen konnte, hatte sicher auch mit einer gewissen "frommen Neugier" zu tun. Schon allein, wenn man sich vor Augen führt, wie knapp noch das Markusevangelium erzählte, merkt man, dass es einen großen Bedarf danach gab, "die Lücken zu füllen":

- Was war mit Jesus, bevor er sich im Jordan taufen ließ?

Antwort geben verschiedenste Kindheitsgeschichten, die sich bereits bei Matthäus und Lukas finden, und die dann immer phantasievoller ausgeschmückt wurden.

- Was wissen wir über die Eltern Jesu, v. a. über seine Mutter?

Es entwickelt sich eine breite Marientradition, z.T. bereits in den Kindheitsevangelien, dann aber auch in eigenen Kindheitsgeschichten der Maria.

- Wie muss man sich die Auferstehung Jesu vorstellen?

Antwort gibt beispielsweise das Petrusevangelium, das die Ereignisse am Grab Jesu fast wie eine "Live-Reportage" darstellt.

Die Kindheit Jesu und die Art und Weise seiner Auferstehung - beides Themen, die das Markusevangelium nicht entfaltet - werden nun nach und nach ausgeschmückt.


Die Herausbildung des Kanons

Es wird klar: Schon bald mussten Kriterien gefunden werden, wie sich fromme Legende und authentische Jesusüberlieferung wieder auseinanderhalten ließen.

Überraschend schnell, d. h. bereits Mitte des 2. Jahrhunderts, haben sich die vier Evangelien des sich gerade erst bildenden Neuen Testaments durchgesetzt. Selbst Versuche, aus diesen vieren eins zu machen wie die "Evangelienharmonie" des Syrers Tatian (um 170 n. Chr.) sprechen zumindest indirekt dafür. Sein sogenanntes 'Diatessaron' (so nannte man auch den vierstimmigen Satz in der Musik) verwendet nämlich genau diese vier. Und bereits 144 n. Chr., als Markion mit der römischen Kirche brach und eine "gereinigte Fassung" des Lukasevangeliums als einziges Evangelium durchsetzen wollte, erfuhr dies mehrheitliche Ablehnung.

Alles, was es jetzt noch an Diskussionen um den "Kanon" - d. h. eine einheitliche "Richtschnur", welche Evangelien als christlich zu gelten hatten - noch gab, waren "Nachhutgefechte". Und alle anderen Evangelien, außer denen nach Markus, Matthäus, Lukas und Johannes, wurden "apokryph".


APOKRYPHE EVANGELIEN

Ägypterevangelium
Ebionäerevangelium
Evangelium der Eva
Evangelium der Maria
Evangelium des Judas
Evangelium des Matthias
Evangelium nach Bartholomäus
Evangelium nach Petrus
Evangelium nach Philippus
Evangelium nach Thomas
Evangelium der Wahrheit
Geheimes Markusevangelium
Hebräerevangelium
Nazaräerevangelium
Nikodemusevangelium
Protoevangelium des Jakobus
Arabisches Kindheitsevangelium
Lateinisches Kindheitsevangelium
Kindheitsevangelium des Thomas
Pseudo-Matthäusevangelium
Evangelium des Kerinth
Evangelium des Basilides
Evangelium des Apelles
Evangelium des Bardesanes
Evangelium des Mani
Evangelium der vier Himmelsgegenden
Evangelium der Vollendung
Evangelium der Siebzig
Evangelium der Zwölf


Dieter Bauer ist Mitglied der Redaktion "Bibel heute" und leitet die Bibelpastorale Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks in Zürich.


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Quelle:
Bibel heute - 3. Quartal 2007, Nr. 171, Seite 6-8
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Erscheinungsweise: viermal jährlich.
Der Bezugspreis für 2007 beträgt 22 Euro
(Schüler, Studenten und Rentner 12 Euro)


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Januar 2008