Schattenblick →INFOPOOL →RELIGION → CHRISTENTUM

KIRCHE/1046: Wie sich Kirche verändert (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 09/2010

Wie sich Kirche verändert
Der Aufstieg der Mittelinstanzen in den europäischen Kirchen

Von Wilhelm Damberg / Staf Hellemans


Intensive Glaubenserfahrungen sind auf der Pfarrei-Ebene zunehmend schwieriger herzustellen. Europaweit haben die Kirchen beider Konfessionen in den vergangenen Jahrzehnten Zwischenebenen geschaffen, um dieser Entwicklung zu begegnen - mit durchaus unterschiedlichen Akzenten.


Die Großkirchen in Europa durchlaufen in den letzten Jahrzehnten eine grundlegende Transformation. Ein Bereich, dem bisher keine Aufmerksamkeit gewidmet wurde, aber doch hervorragende Bedeutung zukommt, sind die Prozesse auf einer mittleren kirchlichen Ebene. Während die Gemeinden und Pfarreien zunehmend in Schwierigkeiten geraten - und die vitalen unter ihnen zu gleicher Zeit mehr und mehr ihren angestammten Nahraum verlassen -, wächst die Bedeutung der anderen kirchlichen Instanzen. Katholische Diözesen und im protestantischen Fall vor allem regionale Ebenen, wie in Deutschland die Kirchenkreise, bekommen nicht nur mit Blick auf die Verwaltung mehr Gewicht. Sie treten darüber hinaus auch mehr und mehr als eigenständige religiöse Produzenten auf, die sich direkt den Gläubigen zuwenden.


Schon im Laufe des frühen Mittelalters haben sich Pfarreien und hierarchisch übergeordnete Bistümer zunehmend ausdifferenziert. Die Interaktion zwischen den beiden Ebenen blieb aber, wie in vormodernen Gesellschaften zu erwarten, beschränkt. Vor allem seit dem 16. Jahrhundert, der Epoche der Konfessionalisierung, wurde die Arbeitsteilung zwischen den beiden Ebenen immer feingliederiger und intensiver ausgebaut. Nach dem Konzil von Trient wurde die Aufsichtspflicht und -kompetenz der Bischöfe gestärkt und vor allem durch regelmäßige Visitationen durchgesetzt. Im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreichte diese langfristige Entwicklung dann ihren Höhepunkt, nachdem Hemmnisse wie mit der feudalen Gesellschaft verflochtene Instanzen (zum Beispiel Klöster und Archidiakonate) wegfielen und sich die föderal strukturierte Kirche in eine internationale, streng zentralistische Massenorganisation verwandelte. Genauso wie die Kirche international auf den Papst, wurde die Seelsorge auf der Diözesanebene konsequent auf den Bischof ausgerichtet.

Eine Arbeitsteilung freilich blieb erhalten: Ein dichtes Netz von Pfarreien überzog das ganze Territorium der Diözesen fast lückenlos. Die Grenzen der Pfarreien waren im Idealfall für jede Straße und sogar Hausnummer präzisiert und festgeschrieben. Jeder Gläubige sollte nur einer Pfarrei angehören und im Prinzip dort alles vorfinden, was er für sein religiöses Leben benötigte (Liturgie, Katechese, religiöse Vereine).

Die Zwischenebene der Bistümer sorgte nach Anweisung durch Rom für die Ausstattung und Führung der Pfarreien: die territoriale Gliederung, die Ausbildung von Priestern in den Seminaren, die Kontrolle der Amtsausübung durch die Priester und des religiösen Lebens der Gläubigen sowie die systematische Verbreitung von neuen Initiativen und Vereinen in den Pfarreien. Die Rolle der Diözesen in der katholischen Kirche ist nach 1800 am besten als "infrastrukturell" zu bezeichnen: Sie garantierten die Gewährleistung des uniform gültigen Pfarreimodells, das für das religiöse Angebot allein zuständig war.


Die Pfarreien werden schwächer

Genau dieses Modell läuft seit den sechziger Jahren aus. Bis 1960 haben sich die Großkirchen in der Moderne gut behaupten können. Sie begünstigte den Organisationsaufbau - siehe die Geschichte der Staaten, der Großunternehmen, bis hin zu den totalitären Gesellschaften - und förderte auch einen weiteren Ausbau der kirchlichen Strukturen wie zum Beispiel eine bessere Ausbildung der Pfarrer und die Koordination der unterschiedlichen kirchlichen Ebenen. Die Mehrebenen-Institution Kirche bildete sich nun voll heraus. Auf diese Weise konnten die Großkirchen zu höchst aktiven und wirksamen Akteuren in der Moderne werden. Die Anhängerschaft - nicht nur die höheren und mittleren Klassen, sondern auch die Unterschichten und die ländliche Bevölkerung, die nun besser erreichbar waren - wurde stärker in den Großkirchen sozialisiert. Eine vergleichbare Mobilisierung gab es nicht nur in der Kirche, sondern auch in der Gesellschaft wie in den Schulen, in der Freizeit, im sozialen und sogar im politischen Raum.

So bildeten sich die weit ausgreifenden kirchlichen Netzwerke aus, für die sich die Begriffe des Milieus, der Säulen, Subgesellschaften oder Lager eingebürgert haben. Die drohende Säkularisierung konnte dadurch weitgehend aufgefangen werden - allerdings nicht überall, wie zum Beispiel in Frankreich. Nie zuvor in der Geschichte war die Masse der Bevölkerung so eng in die Kirche eingebunden wie in dieser Zeit.

Das änderte sich jedoch in Europa um ungefähr 1960. Der neue gesellschaftliche Kontext veranlasste die Religion und die Großkirchen zu fundamentalen Veränderungen, konkret zur Entwicklung neuer Gestalten. Einerseits werden die Pfarreien schwächer. Als Folge von Säkularisierungsprozessen werden sie kleiner, manchmal zu klein. Der mangelnde Priesternachwuchs trifft sie ins Herz und schwächt das Angebot vor Ort entscheidend. Zu gleicher Zeit werden die Gläubigen anspruchsvoller und auch mobiler. Genau wie in anderen Bereichen (etwa beim Einkaufen, bei Vereinsmitgliedschaften) schaut man sich in der weiteren Umgebung nach Alternativen um. Einige Pfarreien oder Kirchengebäude ziehen für bestimmte Aktivitäten eine neue Klientel an. (Ein typisches Beispiel sind die feierlichen Sonntagsmessen in den alten Kathedralen.) Das Totalengagement in einer Pfarrei und die Kontrolle des ganzen Lebens durch den Klerus vor Ort ist für die meisten Christen Vergangenheit. Andererseits wird die Bistumsebene immer aktiver und beschränkt sich längst nicht mehr auf ihre infrastrukturelle Aufgabe.

Die religiöse Signatur dieses Prozesses der Ausweitung der diözesanen Aktivitäten zeigt sich darin, dass das alte Angebot, das in der ultramontanen Epoche so gut ausgebaut war, den Menschen nicht mehr genügt (die heilige Messe in der Pfarrkirche, Ortsvereine, tägliche Gebete, geistliche Führung durch den Priester des Ortes und so weiter). Viele lösen sich ganz von den Gemeinden. Aber auch denjenigen, die sich weiterhin der Kirche verbunden fühlen, reicht das lokale Angebot ebenfalls nicht mehr aus. Sie schauen sich in einer mobilen Gesellschaft nach alternativen Betätigungsmöglichkeiten um - manchmal außerhalb der eigenen Religion, aber auch innerhalb der eigenen Kirche, jedoch abseits des örtlich bekannten Angebots.

Daher rührt die fortdauernde Beliebtheit einiger Pilgerorte (etwa Lourdes), die neue Beliebtheit von Klöstern, die Anziehungskraft alter Großveranstaltungen wie der deutschen Katholikentage und neuer Veranstaltungen wie der Weltjugendtage. Eine Vertiefung des Glaubens lässt sich in den Augen der Gläubigen nicht mehr in erster Linie auf lokaler Ebene entwickeln.


Die Voraussetzungen für - in unserer "Erlebnisgesellschaft" so gesuchte - intensive Erfahrungen sind auf der Pfarrei-Ebene meistens nur noch schwierig herzustellen. Umgekehrt macht es unsere mobile Gesellschaft denjenigen, die regional und überregional Interessenten an ihren Aktivitäten suchen, immer leichter, dies zu tun. Wenn sich in der Pastoral eine Lücke auftut, scheint man sie deshalb in den Kirchen vorzugsweise auf einer intermediären Ebene angehen zu wollen. Das gilt für die Jugend-, Alten-, Presse- und Bildungsarbeit oder besonders spirituelle Angebote, schließlich für alle größeren Aktivitäten mit "Event"-Charakter.


Europaweite Entwicklung von regionalen Varianten

Diese Prozesse sind europaweit zu beobachten, müssen je nach Land differenziert werden und unterscheiden sich noch deutlicher je nach Konfession. Zumindest in der katholischen Kirche geht der Aufstieg intermediärer Instanzen zusammen mit einer deutlichen Erstarkung der Führungsspitze. Im Gegensatz zur hierarchisch-monarchischen Ausrichtung in der katholischen Kirche haben die deutschen protestantischen Landeskirchen wiederum ein sehr komplexes System von "checks und balances" in allen Bereichen entwickelt. Ohne ein ekklesiologisch abgesichertes hierarchisches Modell wie im Katholizismus machte man sich sozusagen pragmatisch auf die Suche nach wirksamen Instanzen. Dieser Pragmatismus verhinderte auch von vornherein, dass nur eine intermediäre Instanz die fast alleinige Vorherrschaft an sich ziehen könnte, wie die Bistumsebene in der katholischen Kirche.


So hat Jan Hermelink (Göttingen) darauf hingewiesen, dass in den letzten Jahrzehnten die Kirchenkreise, die auf der Ebene der Landkreise angesiedelt sind, zu entscheidenden Schaltstellen der protestantischen Landeskirchen geworden sind. Was in der katholischen Kirche die Bistumsebene ist, so Hermelink, ist in den Landeskirchen heute der Kirchenkreis auf Landkreisebene.

Ganz grundsätzlich gibt es eine Vielzahl von Ebenen und Instanzen, die den Bedeutungsverlust der vorher fast alle religiösen Aktivitäten umfassenden örtlichen Ebene aufzufangen, zu kompensieren und teilweise auch zu ersetzen versuchen.

In den Niederlanden und Frankreich scheint die Krise der Pfarreien, gekennzeichnet durch den Mangel an Gläubigen und an Priestern (und zugleich auch an Finanzen) den Delokalisierungsprozess und den Aufstieg von Zwischeninstanzen besonders massiv voranzutreiben. Henk Witte (Tilburg) hat gezeigt, dass die Bistümer in den Niederlanden nach 1960 erheblich an Gewicht gewonnen haben. Zeitweilig schienen die Bischofskonferenz und ein nationales Sekretariat zur zentralen Schaltstelle des niederländischen Katholizismus zu werden. Letzteres wurde im Rahmen innerkirchlicher Konflikte und Polarisierungen nach 1970 wieder abgebaut und die einzelnen Bischöfe behaupteten sich wieder als Herren ihrer Diözesen. Auch die zwischenzeitlich ausgebauten Dekanate haben mittlerweile wieder an Bedeutung verloren, während sich die gestärkte Rolle der Diözesen im letzten Jahrzehnt auch in den von ihnen durchgeführten und weit angelegten Zusammenlegungen und Reorganisationen der Pfarreien niederschlägt.

Von allen Großkirchen hat die französische katholische Kirche, so Nicolas de Brémond d'Ars, wohl den größten Bruch vollzogen. Vor allem am Beispiel der Jugend zeigt er, wie sich die alte territoriale "Pfarrzivilisation" (Yves Lambert) nach 1960 sukzessive in eine hochmobile Kirche verwandelte, die von den Diözesen her gesteuert wird. Schneller und umfassender als in anderen Ländern - vielleicht mit Ausnahme der Niederlande - wurden von der diözesanen Ebene her die alten kleinen, vielfach aber schon moribunden Pfarreien in wenige große Pfarreien zusammengelegt. Neben den nun in diesen Großpfarreien ablaufenden herkömmlichen Aktivitäten veranstalten die Diözesen, nach dem Muster der Großveranstaltungen mit dem Papst in Lyon im Jahr 1986 und in Paris 1997, mit Vorliebe neuartige, große Events, die vor allem den Jugendlichen vor den Augen einer breiten Öffentlichkeit einen "Religionskick" vermitteln sollen.


Italien bildet hingegen, wie Luca Diotallevi (Rom) nachgewiesen hat, einen Sonderfall. Anders als in den anderen Ländern mit seinen flächenmäßig ausgedehnten Diözesen zählt Italien 224 Bistümer, die vor allem in Zentral- und Süditalien klein und nicht viel größer als die zusammengelegten Großpfarreien in Frankreich und den Niederlanden sind. Dafür ist der italienische Katholizismus noch sehr lebendig und es ist offenbar problematisch, hier von Säkularisierung im herkömmlichen Sinne zu sprechen. Wegen ihrer Kleinräumigkeit geraten diese Bistümer allerdings oft ins Hintertreffen zwischen den höheren Ebenen, wie den 16 regionalen pastoralen Konferenzen, der erst 1984 entstandenen, aber einflussreichen nationalen Bischofskonferenz und natürlich Rom selbst. Zudem gibt es auf der unteren Ebene der noch lebendigen Pfarreien Vereinigungen wie die Katholische Aktion und die neuen kirchlichen Bewegungen.

Lisbet Christoffersen (Roskilde) hat mit Blick auf die Lutherische Kirche in Dänemark beschrieben, wie sich diese von einer Fürstenkirche zu einer Volkskirche entwickelte, die bis ins 20. Jahrhundert von zwei Ebenen gesteuert wurde: der nationalen Ebene mit König und Kirchenministerium und der Ebene vor Ort. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde die Kirche nicht nur langsam demokratisiert, sondern es gewannen auch die Zwischeninstanzen an Gewicht, und zwar in zweierlei Form: in Gestalt der Propsteien - vergleichbar mit den deutschen protestantischen Kirchenkreisen - und der Bistümer, vor allem in der Person der Bischöfe, die in unserem Medienzeitalter zum personalisierten Gesicht der Kirche aufgestiegen sind.

Trotz der traditionell verbreiteten Vorbehalte gegenüber jeglichen überlokalen religiösen Aktivitäten und Kompetenzen übernehmen jetzt die Institutionen der Propsteien, wie auch der Bistümer erstmals neuartige Funktionen: von der finanziellen Organisation des Begräbniswesens über die ökumenischen Kontakte bis hin zur medialen Präsenz der Volkskirche in der Öffentlichkeit. Gerade das Beispiel Dänemarks zeigt wegen der historisch völlig andersartigen Ausgangslage, dass wir es mit einem in Europa internationalen Trend zu tun haben.


Erweiterung der Aktivitäten der Zwischeninstanzen

Vor allem in Deutschland ist eine quantitative Steigerung der Zahl der Mitarbeiter und der Finanzen bei den Zwischeninstanzen zu beobachten. So hatte die Diözese Münster vom 16. Jahrhundert bis 1945 im Wesentlichen in ihrer Verwaltung kaum mehr als zwei Dutzend Mitarbeiter beschäftigt, die Zahl stieg insbesondere in den sechziger und siebziger Jahren auf knapp 400! Eine neuere Studie bestätigt diesen Trend nicht nur für die katholischen (Erz-)Diözesen Köln, München-Freising und Limburg, sondern ebenso für die evangelischen Landeskirchen. Dass die Zentralisierung der Kirchensteuer hierzu in Deutschland eine wichtige Voraussetzung bildete und den Ausbau begünstigte, liegt auf der Hand.

Aber selbst in den Niederlanden, wo es keine Kirchensteuer gibt, kam es mit anderen Finanzierungsmodi in den sechziger Jahren zu einer Ausweitung der Personalstäbe in den Diözesen, wenngleich im bescheidenem Umfang. Seit den neunziger Jahren setzten im Übrigen mit zunehmenden finanziellen Engpässen unter Hinzuziehung von Unternehmensberatern gegenläufige Prozesse der Stagnation oder gar des Abbaus dieser Dienstleistungs- und Verwaltungsapparate ein.


Sowohl in Deutschland als auch außerhalb Deutschlands kam es also aufs Ganze gesehen auch zu einer Erweiterung der Aktivitäten intermediärer Instanzen. Der Prozess begann nach 1950 mit erweiterten Planungsstäben für Pastoral und Finanzierung sowie Seelsorge für bestimmte soziale Gruppen; in den sechziger Jahren kamen rasch Abteilungen für interne Kommunikation hinzu (Zusammenarbeit mit den Gremien), auch für weitere spezifische Formen kategorialer Seelsorge, schließlich für Bildungsträger wie die Schulen. Völlig neuartige pastorale Dienstleistungszentren entstanden.

Insgesamt orientierte sich die Kirchenverwaltung nicht mehr vorrangig an dem (natur-)ständischen Prinzip, sondern an übergeordneten funktionalen Aspekten wie zum Beispiel Personalstatistik, Rechtsfragen und Planungsstrategien. Die Synoden der deutschen Diözesen können in diesem Kontext als ergänzende, hochkomplexe Zwischeninstanzen gedeutet werden, die den ins Stocken geratenen internen Kommunikationsfluss beheben und steuern sollten.

In vielen anderen, außerkirchlichen Bereichen hat die Delokalisierung in der Moderne zu einer weitgehenden Deterritorialisierung geführt: zu Aktivitäten, die nur noch begrenzt an ein Territorium gebunden sind. Diese Tendenz ist zwar bei den Kirchen auch zu beachten (siehe zum Beispiel die Mobilität der Gläubigen), aber nur innerhalb bestimmter Grenzen, weil Religion an der ganzen Person haftet. Das gilt sowohl für die Gläubigen als für die Pfarrer und die Bischöfe. Die Kirchen wollen die Gläubigen noch immer zu einer engen Identifikation mit ihnen und zu einem praktischen Dauereinsatz unter ihrer Regie motivieren. Diese Ausrichtung auf die Werbung und den möglichst lebenslangen Dauereinsatz von Mitgliedern - und dies wo möglich in allen Lebensbereichen - macht bei zahlreicher Anhängerschaft eine Territorialgliederung erforderlich.

Ein solch lebenslanges und das ganze Leben betreffendes Engagement wird von Wirtschaftsbetrieben beispielsweise nicht mehr abgefragt, ebenso wenig gilt dieser Imperativ für die Unterhaltungsindustrie, er ist sogar bei politischen Parteien oder Fußballvereinen abgeschwächt worden - bei Letzteren sind Sponsoren- und TV-Gelder mittlerweile wichtiger als regelmäßig einkommende Zuschauerbeiträge.

Damit verbunden ist die ebenfalls hohe Gebundenheit von Religion an die konkrete Person des Geistlichen. Mit Ausnahme von religiös besonders Musikalischen kann Religion nur gelebt werden, wenn sie vorgelebt wird. Sie braucht deshalb, ungeachtet möglicher massenmedialer Aufmerksamkeit, immer Personen, die die Religion leibhaftig am Ort verwirklichen und weiter geben können. Deshalb auch die Bedeutung, die noch immer an Begriffen wie der "Nachfolge" oder der "apostolischen Sukzession" und dergleichen haftet.


Die Großkirchen müssen sich umstellen auf ein nomadisierendes Publikum

Die Großkirchen sind institutionell flexibler und aktiver geworden. Wie große Unternehmen können sie, viel rascher als vorher, Strukturen aufbauen und wieder abbauen. So kann man gezielt Zwischeninstanzen aufbauen, wo es noch keine gab, oder man kann hin und wieder die innere Organisation neu strukturieren (wie in den Bistümern und Landeskirchen). Je konzentrierter die Macht ist, desto autonomer kann diese gesteigerte Entscheidungsgewalt eingesetzt werden. Dies ist beispielhaft an der katholischen Kirche zu erkennen, wie sie mit Pfarreien, Dekanaten, Synoden oder Bischofskonferenzen umzugehen vermag. Das kann aber auch Zickzackkurse, Unsicherheit und Distanz zur Folge haben.

Die Steigerung der gesellschaftlichen Komplexität fördert Organisationen mit überlokalem Aktionsradius. Schon in den fünfziger Jahren wuchs die Zahl der Angestellten in den großkirchlichen Behörden vor allem wegen des steigenden Bedarfs an juristischer Kompetenz. In den sechziger und siebziger Jahren bedingten sowohl die interne Demokratisierung als auch die Folgen des Ausbaus des Wohlfahrtsstaates, mit dem die Kirchen vielfach verflochten sind, weitere Steigerungen des Personalbedarfs. Viele Aktivitäten, die früher mit minimalen überlokalen Mitteln veranstaltet wurden, bedürfen heute eines viel größeren Organisationsaufwandes von Seiten der höheren Ebenen - zu denken ist zum Beispiel an die Entwicklung der Katholikentage oder der evangelischen Kirchentage. Die hochmoderne Gesellschaft fordert und fördert überörtliche Tätigkeit.

Die Großkirchen müssen sich also umstellen auf ein nomadisierendes, schwer zu haltendes Publikum. Der Ausbau eines Angebots und einer Öffentlichkeitsarbeit scheint eine Chance zu sein, um Interesse zu wecken. Die Frage bleibt jedoch immer, wie man mit diesem Angebot Leute vor Ort erreichen kann und - noch weitergehend - wie man sie aufs Neue dauerhaft binden kann. Einsame Höhepunkte brauchen ja Anknüpfungspunkte im täglichen kirchlichen Bereich. Das ist, wie die Weltjugendtage, wie festliche Weihnachtsveranstaltungen in einer alten Kirche oder "rites de passage" wie Taufe, Firmung oder Beerdigung zeigen, sehr schwierig geworden.


Es bildet sich anscheinend eine Neudifferenzierung der Anhängerschaft aus. Traditionell waren die meisten Kirchenangehörigen "Normalmitglieder", umgeben von einem kleineren Teil von eher distanzierten Mitgliedern, die sich nur ab und zu blicken ließen. Heutzutage und noch stärker in der Zukunft dürften die Distanzierten die übergroße Mehrheit der Mitglieder bilden (um die 90 Prozent), während zur gleichen Zeit die Amtsträger weitgehend fehlen. Kann und will die kleine Minderheit "fester" Gläubigen dann noch eine Dienstleistung für die eigensinnigen und unwilligen "Lauen" und Abwesenden anstreben? Auch dies fördert den Ausbau von intermediären Instanzen, die sich dieser Aufgabe, zumindest dem Anschein nach, besser annehmen können. Es ist wohl kein Zufall, dass Jugendarbeit fast überall zu den ersten Themenbereichen gehört, denen man sich überlokal zuwendet.


Weil die Gemeinden und Pfarreien sich auf einen engeren Kreis beschränken (müssen) und also ihre Reichweite schrumpft, sind sie auch bei den Außenstehenden weitgehend unbekannt geworden. Das gilt sogar in der engeren Umgebung vor Ort. Das Bild der Kirchen wird also nicht mehr wie früher praktisch exklusiv durch den Ortspfarrer bestimmt. Viel wichtiger werden vor allem die Spitzenpersonen einer Kirche - ihr Auftreten und ihr Charisma, ihre Aussagen. Das gilt für die dänischen Bischöfe ebenso wie für den Papst, einige Kardinäle oder auch den Dalai Lama. Massenveranstaltungen sind ebenfalls, aber erst in zweiter Linie publikumswirksam - zumeist im Zusammenhang mit dem Auftreten einiger Kirchenführer. Die Medialisierung der Kirchen hat also zum Schub nach oben beigetragen, der aber auch seine Schattenseiten hat: Das Versagen einzelner Amtsträger führt zu öffentlichen Skandalisierungen, die sogleich auf die ganze Kirche bezogen werden.


Der Aufstieg der Mittel- und der Spitzeninstanzen ist keine vorübergehende und isoliert zu betrachtende Tendenz, sondern ist Teil der Neugestaltung der Großkirchen, die sich damit im delokalisierten, stärker liquiden und insgesamt schwierigeren Kontext der späten Moderne zu behaupten suchen. Ob und inwiefern das aber gelingen wird, bleibt eine offene Frage.

Die Neulokalisierung auf höherer Ebene hat auch nicht nur Vorteile. Sie fördert Bürokratie und Distanz, denn von einem hohen Posten aus ist es nicht immer einfach, die Menschen zu erreichen und zu binden. Örtliche Gemeinden und Pfarreien bleiben notwendig, um sowohl die kirchentreuen als auch die anderen Christen vor Ort zu bedienen. Es wird vor allem nötig sein, ein neues, dynamisierendes Verhältnis zwischen Ortsgemeinden und Pfarreien einerseits und den intermediären Instanzen andererseits zu entwickeln. Das ist alles andere als ein selbstverständlicher Vorgang.


Wilhelm Damberg (geb. 1954) ist Professor für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der katholisch-theologischen Fakultät in Bochum.

Staf Hellemans (geb. 1953) ist Professor für Religionssoziologie an der katholisch-theologischen Fakultät in Tilburg (Niederlande). Der Beitrag geht zurück auf ein DFG-Forschungsprojekt der Bochumer Forschergruppe "Transformation der Religion in der Moderne. Religion und Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts". Der Ergebnisband wird Ende 2010 im Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart erscheinen.


*


Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 9, September 2010, S. 481-485
Anschrift der Redaktion:
Hermann-Herder-Straße 4, 79104 Freiburg i.Br.
Telefon: 0761/27 17-388
Telefax: 0761/27 17-488
E-Mail: herderkorrespondenz@herder.de
www.herder-korrespondenz.de

Die "Herder Korrespondenz" erscheint monatlich.
Heftpreis im Abonnement 10,29 Euro.
Das Einzelheft kostet 12,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. November 2010