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KIRCHE/1289: Die Orthodoxe Kirche im heutigen Russland (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 1/2012

Faktisch Staatskirche
Die Orthodoxe Kirche im heutigen Russland

Von Gerd Stricker


Die Russische Orthodoxe Kirche profitiert vom "System Putin", das auch nach der Parlamentswahl vom Dezember 2011 für Russland bestimmend sein dürfte. Sie versteht sich selber als nationale Institution, die enge Beziehungen zum Staat pflegt. Dieser wiederum funktionalisiert die Orthodoxe Kirche als moralische Instanz zur Stabilisierung des Landes.


Russland (offiziell: "Russländische" beziehungsweise "Russische Föderation") hat am 4. Dezember 2011 ein neues Parlament (Duma) gewählt, das gemäß Dekret vom 30. Dezember 2008 nicht mehr vier, sondern fünf Jahre im Amt sein wird. Umfragen zufolge sollte die Partei von Präsident Dmitrij Medwedjew und Ministerpräsident Vladimir Putin, "Einiges Russland", rund 60 Prozent aller Stimmen gewinnen. Trotz übelster Wahlmanipulationen hat "Einiges Russland" gegenüber 2007 bekanntlich mit knapp 50 Prozent der Stimmen fast 15 Prozent verloren; die Kommunisten kamen auf beachtliche 19 Prozent (2007: 11,6 Prozent); "Gerechtes Russland" auf 13,2 Prozent (2007: 7,7 Prozent); die rechtslastigen "Liberaldemokraten" auf 11,7 Prozent (2007: 8,1 Prozent).

Die Enttäuschung war Medwedjew und Putin am Abend des Wahltages anzusehen. Zwar kann "Einiges Russland" unangefochten weiterregieren. Und vermutlich wird diese Partei auch 2012 bis 2018 wieder den Präsidenten der Russischen Föderation stellen (er wird erstmals nicht für vier, sondern für sechs Jahre gewählt). Allerdings sind nach den Dumawahlen und nach den anschließenden hartnäckigen Demonstrationen Überraschungen nicht ganz auszuschließen.

Der Westen hegt Putin gegenüber immer größere Vorbehalte, und auch in Russland stößt sein totalitäres Gebaren auf wachsende Ablehnung. Ob sein Nimbus in breiten Kreisen der Bevölkerung noch ungebrochen ist, werden die Präsidentenwahlen am 4. März 2012 zeigen. Auf jeden Fall gilt Putin vielen noch immer als Retter der Nation: Unvergessen ist, dass er dem gedemütigten Land, das Ende der neunziger Jahre infolge der mafiösen Privatisierung der Wirtschaft unter Boris Jelzin fast bankrott war, weltweit wieder Respekt verschafft und der weithin verarmten Bevölkerung Arbeit gegeben hat. Putin gab den Russen ihren Stolz zurück. Dafür sehen ihm viele totalitäre Tendenzen nach: Russland brauche eben eine harte Hand.

Nun ist eingetreten, was Realisten bereits vor vier Jahren befürchtet haben: Putin wird nach Ablauf der Amtszeit seines Nachfolgers dieses Amt nochmals anstreben. Zwei Amtsperioden (2000-2004, 2004-2008) war Putin Präsident, konnte aber, da die Verfassung nur zwei aufeinanderfolgende Amtsperioden der gleichen Person vorsieht, bei den Präsidentschaftswahlen 2008 nicht mehr antreten. Sein Parteifreund und Ziehsohn Medwedjew wurde zum Präsidenten gewählt, der wiederum Putin zum Premierminister ernannte. Medwedjew blieb Putins Marionette, trotz aller Versuche, Eigenständigkeit zu demonstrieren.

Die zersplitterte Opposition wirft Putin seinen autoritären Stil vor und spricht mit Blick auf den Ämtertausch von einem "Horrorszenario" (Boris Nemzow, Vize-Ministerpräsident 1993-1998); unter der Führung Putins werde es unvermeidlich zum Kollaps des Landes kommen (Michail Kasjanow, Ministerpräsident 2000-2004); der Ämtertausch erinnere an finsterste kommunistische Zeiten, als die politisch wichtigsten Staatsämter innerhalb der Führung der KPdSU ausgehandelt wurden.

Trotzdem begrüßte Erzpriester Vsevolod Tschaplin, Leiter der "Abteilung des Heiligen Synods für die Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft" und damit wichtiger Repräsentant der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK), den Ämtertausch und stellte sich den Kritikern entgegen: Dieser sei ein echtes Beispiel für Güte und Moral in der Politik; so erfolge die Amtsübergabe "friedlich, ehrlich und würdig". Politische Konkurrenz sei zwar wichtig - aber nicht, wenn es sich um einen bewährten Mann wie Putin handele. Die Kirche dürfe nicht in die Machtarchitektur eindringen; so sei es nicht Sache der Kirche, den Politikern Ratschläge zu erteilen, wer auf welchen Posten zu berufen sei - und auf welche Weise dies geschehen soll; die Kirche unterscheide sich grundsätzlich von einer politischen Opposition, weil ihr vordringlichstes Ziel Frieden und Würde des Landes seien.


Die Kirche begrüßt den Ämtertausch

Mit seiner Verteidigung dieses dubiosen Ämtertausches erntete Erzpriester Tschaplin in oppositionellen Kreisen Hohn und Spott: Medwedjew und Putin hätten die ROK wohl gar nicht konsultiert - benötige der Staat die Kirche nun nicht mehr?

Tschaplins scharfe Rechtfertigung der von den zwei mächtigen Männern sozusagen im stillen Kämmerlein verabredeten Rochade charakterisiert die Stellung der ROK im postsowjetischen Russland. Ihr Eintreten sogar für fragwürdigste Aktionen der politischen Führung wirft die Frage auf, welche Haltung die ROK in Russlands Geschichte und Gegenwart grundsätzlich dem Staat gegenüber einnimmt, welchen Status sie im Staatswesen eigentlich habe. Es geht letztlich um die Frage, ob die ROK eine Staatskirche ist.

Repräsentanten der ROK wehren sich vehement gegen die Annahme, diese sei eine Staatskirche - und zwar mit Hinweis auf die Geschichte: Die Kirche habe seit 1721 unter dem Staatskirchentum gelitten, nachdem Zar Peter der Große (1682-1725) das Patriarchenamt abgeschafft und das neue kollektive Leitungsgremium, den "Heilige Synod", einem Staatsministerium gleichgestellt hatte (diesem stand ein hoher Staatsbeamter im Laienstand vor, der "Oberprokuror"). Die ROK war im "Goldenen Käfig" des Staatskirchentums gefangen, habe zahlreiche Privilegien genossen, sei aber in jeder - nicht zuletzt finanzieller Hinsicht - von den frommen Zaren und der Regierung abhängig gewesen. Die ROK habe sich allmählich von ihrer geistlichen Basis und von der Gesellschaft entfernt; und umgekehrt sei die Staatskirche dem gläubigen Volk fremd geworden. Das habe der Kirche spirituell geschadet. Der geringe Widerstand der orthodoxen Massen gegen die bolschewistische Atheisierung zeige, dass die ROK keinen breiten Rückhalt mehr in der Bevölkerung gehabt habe.


Die Orthodoxe Kirche unter dem Kommunismus

Lenin und die Bolschewiki waren angetreten, dem russischen Volk die "Segnungen" des Kommunismus zu bringen und den Zarismus zu beseitigen. Dabei galt den Bolschewiki die Orthodoxe Kirche als die gefährlichste Gegnerin: Um das ungebildete fromme Volk vom "Opium der Religion" zu befreien, musste die Kirche vernichtet werden. Dieses Ziel hatten die Bolschewiki Ende der dreißiger Jahre fast erreicht - mit brutalster Gewalt. Zwar konnte die ROK noch vor der Oktoberrevolution von 1917 einen Patriarchen wählen, doch ließ die Sowjetmacht nach dessen Tod 1925 die Wahl eines Nachfolgers nicht zu. Während des großen Stalinterrors (1936-1938) wurden die meisten Bischöfe und Priester verhaftet, im GULag gequält oder ermordet; die Institution Kirche war praktisch vernichtet, während die Kirche der Gläubigen im Untergrund überlebte.


Als die deutschen Armeen am 22. Juni 1941 in die Sowjetunion einmarschierten, unterstützten die noch amtierenden Metropoliten den "Generalissimus Stalin" nach Kräften: Sie riefen die Gläubigen zur Verteidigung des sowjetischen Vaterlandes auf, verherrlichten Stalin als "hehren Führer des russischen Volkes", veranlassten gewaltige kirchliche Geldsammlungen für die Rote Armee. In der Stunde höchster Gefahr nutzte Stalin das Potenzial der ROK und erkannte sie im September 1943 als Institution an. Der nunmehr staatlich "konzessionierten Kirche" wurde nur ein entlegener Winkel in der Sowjetgesellschaft zugestanden. Die Sowjetmacht bestimmte ihren Aktionsradius: Patriarchen und Bischöfe wurden faktisch vom "Sowjet für Religionsfragen" ernannt, der das gesamte - auch innere - Leben der ROK mit Hilfe eines ausgefeilten Spitzelsystems kontrollierte und lenkte. Es bildete sich hier der spezieller Typus eines kommunistischen Staatskirchentums heraus, mit dessen Hilfe ein religionsfeindliches Regime durch systematische Unterdrückung der Kirchen und ihrer Diener sowie durch physische Verfolgung der Gläubigen die Religion abzuwürgen sucht.

Mit der "Perestroika" wollte Michail Gorbatschow einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" schaffen. Er lockerte die staatliche Kontrolle der Kirche und gestattete die Rückgabe zweckentfremdeter Gotteshäuser und Klöster sowie die Zulassung von Priesterseminaren. Die unter "Gorbi" durchgesetzten Religionsgesetze von 1990 atmeten den Geist von Religionsfreiheit. Echte Trennung von Staat und Kirche wurde verheißen.

Nach dem Ende der Sowjetunion (25. Dezember 1991) wurde die ROK zu einem gesuchten Partner für Politiker aller Couleur. Boris Jelzin und Vladimir Putin mussten sich den Bürgern der Russischen Föderation zu Wahl und Wiederwahl stellen und wollten zu diesem Zweck das orthodoxe Wählerpotenzial nutzen: Sie suchten die Unterstützung der ROK. Patriarch Alexij (1990-2008) wusste diese politisch heikle Situation für seine Kirche zu nutzen. 1997 wurde das Selbstbewusstsein der ROK durch die Neufassung der Gorbatschow'schen Religionsgesetze (1990) erheblich gestärkt, welche die ROK, die einstige Volkskirche, allen anderen Religionsgemeinschaften (christlichen und nichtchristlichen) rechtlich gleichgestellt hatte: Nach jahrelangem Druck der ROK und patriotischer Kreise unterzeichnete Präsident Jelzin 1997 ein neues Religionsgesetz, das in seiner Präambel die ROK aufgrund ihrer zentralen Bedeutung für Geschichte und Kultur Russlands als "erste Religion" im Lande bezeichnet. Den anderen Religionsgemeinschaften billigt das Gesetz von 1997 zum Teil nur einen minderen rechtlichen Status zu.


Die Orthodoxie lässt sich gerne in die Pflicht nehmen

In den neunziger Jahren erhielt die ROK Zehntausende Kirchen und Hunderte Klöster zurück, die von den Sowjets geschlossen worden waren; der Staat beteiligte sich finanziell am Wiederaufbau der oft zweckentfremdeten oder verfallenen Gebäude. Dutzende theologische Ausbildungsstätten wurden zugelassen; die ROK weiht Bischöfe und Priester nun wieder unabhängig vom Staat. Seit 1994 dürfen orthodoxe Geistliche in der Armee wieder, wie zu Zarenzeiten, als Feldgeistliche wirken. Symptomatisch ist auch, dass die ROK trotz angeblicher Trennung von Staat und Kirche vom Staat oft "Amtshilfe" erhält: So wurden katholische Geistliche und Nonnen aus Polen (sicher auf Drängen der ROK) mit Hilfe staatlicher Behörden des Landes verwiesen. Zuweilen werden auch nicht-orthodoxe Gotteshäuser vom Staat der ROK übergeben, beispielsweise einst lutherische und katholische Kirchen in Russisch-Ostpreußen.

Boris Jelzin hat nach dem Zusammenbruch des Kommunismus die Beziehungen zwischen Staat und Orthodoxie atmosphärisch bereinigt. Die systematische Verankerung der Kirche im öffentlichen Leben geht aber auf Vladimir Putin zurück. Als dieser im August 1999 von Präsident Jelzin zum Ministerpräsidenten ernannt wurde, "outete" er sich sogleich als orthodoxer Christ. Um seinem Kronprinzen Putin einen Amtsbonus zu verschaffen, ernannte ihn Jelzin zum "Geschäftsführenden Präsidenten". Doch sieht die russische Verfassung ein solches Amt gar nicht vor. Eine Vorstellung von Jelzins und Putins Verständnis vom Verhältnis von Staat und Orthodoxie" gab die Vereidigung Putins (31. Dezember 1999): Jelzin benutzte das Oberhaupt der ROK, um sein verfassungswidriges Vorgehen zu vertuschen. Auf Geheiß Jelzins spendete Patriarch Alexij dem "Geschäftsführenden Präsidenten" im Kreml seinen patriarchalen Segen. Das habe ihn mit Stolz erfüllt, erklärte Alexij später.


Unter Boris Jelzin fand die Religionsverfolgung ein Ende. Vladimir Putin aber hat der ROK wieder eine (nach außen hin jedenfalls) herausgehobene Stellung verschafft, die sie heute genießt. Dafür ist die ROK ihm unendlich dankbar - für sie ist Putin der Garant dafür, dass der Kommunismus mit seinen Religionsverfolgungen nicht wiederkehrt. Und nicht nur den Orthodoxen, sondern auch der Mehrheit der Bevölkerung bietet Putin die Gewähr für Stabilität, Wohlstand und Ansehen der "Russischen Föderation". Deshalb hält die Kirchenleitung die beinahe bedingungslose Unterstützung der russischen Präsidenten, namentlich Putins, für ihre sicherste Überlebensstrategie. Patriarchen und Bischöfe fühlen sich geschmeichelt, wenn Putin, Medwedjew (nunmehr ebenfalls orthodox getauft) und andere Staatsfunktionäre sich in der Öffentlichkeit gern mit ihnen zeigen, medienwirksam an orthodoxen Gottesdiensten teilnehmen und den Patriarchen aufsuchen.

Orthodoxe Hierarchen segnen Staatsgebäude, Bataillone, Staatskarossen, Kriegsschiffe, Kampfbomber, sogar Atomwaffen und lieben es, von Eliteeinheiten der Armee eskortiert zu werden. Die russische Führung setzt seit Jahren auf die einstige Volkskirche. Sie soll einen wichtigen Beitrag zur moralischen Gesundung Russlands leisten und helfen, als moralische Institution die sozialen Probleme zu lösen, kurz: das post-sowjetische Russland zu stabilisieren. Die ROK lässt sich gern in die Pflicht nehmen.


Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus hatte sich die Ideologie, von der das Leben der Sowjetbürger über Jahrzehnte bestimmt worden war, als Illusion erwiesen. Die daraus resultierende Verunsicherung der Menschen beschleunigte den moralischen Niedergang im zerfallenden Sowjetstaat. Eine griffige Staatsideologie sollte den Bürgern nun eine neue Vision, neue Perspektiven bieten. Zu diesem Zweck reaktivierte Putin den im russischen Volk tief verwurzelten Patriotismus, der schon die ideologische Basis des Zarenreiches und seit 1936 auch der Sowjetunion gewesen war.

Ganz gezielt entfachte er 1999 wieder den bereits "eingeschlafenen" Tschetschenienkrieg; die gelenkten Medien bauten systematisch ein tschetschenisches Feindbild auf und bejubelten den Heldenkampf der russischen "Krieger" und deren Siege. Darum ging es: Patriotismus und russischer Heldenmut. Patriarch Alexij ließ sich in Putins Propagandafeldzug einspannen und diskriminierte die Tschetschenen als "Banditen und Terroristen" (Hirtenbrief vom 12. November 1999); er verlieh Soldaten, die sich im Tschetschenienkrieg ausgezeichnet hatten, kirchliche Orden - ganz im Sinne Putins.


In seiner alt-neuen Staatsideologie des "Großrussischem Patriotismus mit orthodoxem Kern" erhielt die ROK wieder ihren angestammten zentralen Platz, wie schon in der Staatsideologie des Zarenreiches ("Autokratie, Orthodoxie, Volkstum"). Putin sieht "sein" Russland in der Nachfolge des Zarenreiches: Zwar habe das Sowjetregime die staatliche Kontinuität des Russischen Reiches für 75 Jahre unterbrochen - jedoch bilde die Orthodoxie die Brücke zwischen Zarenreich und "Russischer Föderation". Und die Orthodoxie, die ja er, Putin, wieder in ihre Rechte eingesetzt hat, dient ihm als Legitimierung seiner großrussischen Ambitionen.


In diesem Kontext wird es verständlich, dass Putin die Kanonisierung des "Märtyrerzaren", Zar Nikolajs II. Romanow, der am 18. Juli 1918 mit seiner Familie von den Bolschewiki ermordet worden war, besonders am Herzen lag. Doch zunächst musste er die Widerstände in dem noch in sowjetischen Denkmustern befangenen Episkopat überwinden, denn der maßgebliche Teil des Episkopats lehnte anfangs eine Kanonisierung des Zaren ab. Um diese hatte es in den neunziger Jahren höchst kontroverse Diskussionen gegeben. So hatte Patriarch Alexij, sozusagen programmatisch, nicht an der Beisetzung der 1991 aufgefundenen Gebeine der ermordeten Romanows mitgewirkt (18. Juli 1998) und dies auch seinen Bischöfen untersagt.


Anfang 2000 vollzog der Episkopat dann eine Wendung, zweifelsohne auf Druck Putins. Im Laufe des Jahres wurden zwar die meisten Bischöfe auf Kanonisierungskurs gebracht. Jedoch standen große Teile der Priesterschaft und der Laien einer Heiligsprechung der Romanows weiterhin ablehnend gegenüber. Deshalb wurde ein für August 2000 angesetztes Landeskonzil, das die Kanonisierung Hunderter von "Neumärtyrern" (darunter der ermordeten Romanows) beschließen sollte, kurzerhand abgesetzt: Ein Konzil mit mindestens 600 Teilnehmern (die Mehrheit Laien!) war nicht zuverlässig zu lenken - mit Blick auf die nunmehr von der Kirchenleitung angestrebte Kanonisierung der Romanows. Statt des Landeskonzils wurde ein leichter zu steuerndes Bischofskonzil einberufen, das am 14. August 2000 die Heiligsprechung von 860 "Neu-Märtyrern" aus der Sowjetära beschloss, unter ihnen als "Glaubenszeugen" der "Märtyrerzar" und seine Angehörigen.


Ähnlich entschieden setzte Putin die Vereinigung der ROK mit ihrer "feindlichen Schwester" in der Emigration, der "Russischen Orthodoxen Auslandskirche", durch. Beide Kirchen hatten sich 80 Jahrzehnte lang beschimpft ("Imperialistenknechte" beziehungsweise "Sowjetkirche"). 2001 verkündete Putin aber: "Jede orthodoxe Kirchengemeinde im Ausland, die russische Wurzeln hat, muss zu einer Repräsentanz der Russischen Föderation in der Welt werden." Im Konzept seiner Großmachtambitionen hatte die "Auslandskirche" einen wichtigen Platz: Ihre rund 350 Gemeinden sollten als Vorposten von Putins Russland fungieren.

Da die ROK jedoch hinhaltenden Widerstand leistete, erklärte Putin die Kirchenvereinigung zur "Chefsache". Nach geheimen Verhandlungen empfing er gänzlich unerwartet Bischöfe der Auslandskirche in New York (24. September 2003), tauschte mit ihnen Ikonen und Bruderküsse und dankte ihnen dafür, dass die Auslandskirche 85 Jahre lang das Russentum in der Diaspora hochgehalten und die kirchlichen Stätten erhalten habe. Nun musste die ROK auf Putins Kurs einschwenken. Die feierliche Vereinigung der "feindlichen Schwestern" fand, mit Putin als Hauptgestalt, am 17. Mai 2007 in der Moskauer Christus-Erlöser-Kathedrale statt.

Diese Politik einerseits großzügiger Gesten gegenüber der ROK, andererseits ihrer Instrumentalisierung setzte Medwedjew fort. An kirchlichen Anlässen nimmt er teil und pflegt vertrauten Umgang mit den Hierarchen. In welcher Weise die Doppelspitze Medwedjew und Putin kirchliche Fragen nach staatlichen Vorstellungen entscheidet, zeigt sich derzeit besonders deutlich mit Blick auf die russisch-orthodoxe Diaspora, die ja nach Putins Konzept in den Dienst sowohl der Russischen Föderation als auch der ROK zu stellen sei. Putins 2007 gegründete Stiftung "Russische Welt" hat genau dieses Ziel. Sie soll dazu beitragen, einerseits den politischen Einfluss Russlands zu vergrößern, andererseits den konservativen Moralkodex der ROK weltweit als Gegenentwurf zum Wertesystem des "liberalen dekadenten Westens" zu propagieren.


Nach der Eingliederung der Auslandskirche in die ROK verfolgen die Moskauer Führung und die ROK nun offenbar das Ziel, der ROK das "Erzbistum russisch-orthodoxer Gemeinden in Westeuropa" (Sitz: Paris) einzuverleiben, das dem Ökumenischen Patriarchat Konstantinopel untersteht. Das Erzbistum mit seinen 70 Gemeinden, mit der berühmten orthodoxen Hochschule in Paris (Institut St. Serge, gegründet 1925) und alten russischen Kirchen (in Paris, Nizza, Cannes, Biarritz ...) vertritt offene, universale und ökumenische Positionen und versucht das orthodoxe Ideal der "sobornost" (Gemeinschaftlichkeit) und, daraus folgernd, demokratische Grundsätze im praktischen Leben umzusetzen.

Das Pariser Erzbistum wehrt sich entschieden gegen seine Unterwerfung unter die hochkonservative, nationalistische, straff hierarchisch geführte ROK, die den Prinzipien einer politisch-patriotischen Orthodoxie folgt. Mit politischem Druck und gewaltigen Summen sowie auf dem Prozesswege versucht die Russische Föderation gegenwärtig, die Nikolaj-Kirche in Nizza aus dem Erzbistum Paris herauszulösen und der ROK zu unterstellen. Die Kirche war aus Mitteln der Privatschatulle des Zaren errichtet worden (1903-1912), woraus Moskau nun Eigentumsansprüche der Russischen Föderation ableitet. Bei diesen Versuchen ignoriert Moskau, dass die russische Gemeinde in Nizza und andere russische Diaspora-Gemeinden ihre Kirche unter größten Opfern fast 95 Jahre lang erhalten haben.

Die russische Regierung hat nun ihr Ziel erreicht: Am 19. Mai 2011 bestätigte das Berufungsgericht in Aix-en-Provence das Urteil des Landgerichtes Nizza, wonach die Russische Föderation rechtmäßige Besitzerin der Nikolaj-Kirche in Nizza sei. Ein Priester aus Moskau weilt bereits in Nizza. Doch der bisherige Geistliche an der Nikolaj-Kirche lehnt es ab, einem Vertreter Moskaus die Kirchenschlüssel zu übergeben. Er beuge sich keinem politischen Druck, weder aus Moskau noch aus Paris.


Die Verquickung staatlicher und kirchlicher Interessen ist offenkundig

Zur Strategie der Schwächung des Pariser Erzbistums durch Moskau gehört auch die Errichtung eines Priesterseminars der ROK bei Paris (eröffnet 2009). Die politischen und finanziellen Voraussetzungen schuf die Russische Föderation; die laufenden Kosten und die Gehälter der Dozenten übernimmt Putins Stiftung "Russische Welt". Dieses russische Seminar soll dem Institut St. Serge das Wasser abgraben, das russisch-orthodoxen Nationalisten zu offen, zu demokratisch, zu liberal ist.

Diesem Zweck dient auch ein anderes russisches Großprojekt in Paris: der Bau eines "Zentrum der russischen Kultur und Spiritualität". Dafür erwarb die Russische Föderation im Jahre 2010 Bauland für etwa 75 Millionen Euro nahe Eiffelturm und Invalidendom. Herzstück des Zentrums soll eine russisch-orthodoxe Kathedrale mit angeschlossenem Priesterseminar sein (Baukosten: etwa 35 Millionen Euro). Der Komplex werde der ROK von der Russischen Föderation unentgeltlich zur Verfügung gestellt. Das bombastische Projekt soll das unter bescheidensten Verhältnissen existierende Erzbistum Paris - und damit natürlich auch das Ökumenische Patriarchat Konstantinopel - überstrahlen.


Russische Staatsfunktionäre ignorieren gern den Verfassungsgrundsatz der Trennung von Staat und Kirche, wenn es um die ROK geht. Die Verquickung staatlicher und orthodoxer Interessen ist offenkundig. Die ROK ist heute wieder wie im Zarenreich ein unübersehbarer Teil des öffentlichen Lebens - und wie zu Zarenzeiten ohne politischen Einfluss. Um die katastrophalen Langzeitfolgen des Kommunismus zu beseitigen, ist der Staat auch auf die ROK angewiesen. Es ergeben sich gerade auf dem karitativ-sozialen Feld Formen der Zusammenarbeit; gleichzeitig wird die ROK aber häufig für staatliche Zwecke instrumentalisiert. Echte Opposition oder grundsätzliche Kritik an der Staatsführung geht von kirchlicher Seite nicht aus; stattdessen konstatiert man das intensive Bemühen der Russischen Kirche um das Wohlwollen der Staatsführung. Die Kirche will das von Putin und Medwedjew Gewährte nicht in Frage stellen.

Das Staatskirchentum bildet ein "System enger Verbindungen von Staat und Kirche, die unter staatlicher Hoheit eine Gesamtkörperschaft bilden. (...) Die als einzige oder jedenfalls vorrangig zugelassene Kirche ist Staatsanstalt" (vgl. LThK 2009, Band 9, Spalte 899). Legt man diese Definition zugrunde, wird man der Russischen Orthodoxen Kirche (Moskauer Patriarchat) heute den Charakter einer Staatskirche zusprechen müssen.


Dr. phil. Gerd Stricker, Zürich; Osteuropa- und Ostkirchen-Historiker, Slawist. Bis 2009 Chefredakteur der Zeitschrift "G2W. Ökumenisches Forum für Glauben, Religion und Gesellschaft in Osteuropa" (früher: "G2W - Glaube in der 2. Welt"), Zürich.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
66. Jahrgang, Heft 1, Januar 2012, S. 43-47
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. März 2012