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KIRCHE/1360: Telefonseelsorge als ein besonderer Ort von Kirche (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 5/2012

Gelebte Christlichkeit
Telefonseelsorge als ein besonderer Ort von Kirche

Von Hubertus Lutterbach



Seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts gibt es in der Bundesrepublik die "Telefonseelsorge", zumeist in kirchlicher Trägerschaft. Ihre in der Regel ehrenamtlichen Mitarbeiter bilden ein wertvolles Netzwerk zugunsten von Menschen in Krisensituationen. Dabei leistet Telefonseelsorge der Kirche einen wichtigen Dienst, indem sie ihre Verkündigung erdet.


Als die Installation von "Telefonseelsorge"-Niederlassungen in Deutschland vor über fünf Jahrzehnten begann (Berlin 1956, Kassel 1957, Frankfurt 1957), unterstellten ihre Gründer diese Initiativen zumeist der Trägerschaft der evangelischen und/oder der katholischen Kirche. Vor Ort dienten ein oder zwei Hauptamtliche der Organisation und der Koordination, oft galten ein evangelischer und/oder ein katholischer Geistlicher als leitende beziehungsweise als leitender Seelsorger. Sie alle standen im Dienst der ehrenamtlich tätigen Menschen, die den Telefondienst alsbald an 24 Stunden des Tages und an sieben Tagen der Woche übernahmen. Zusätzlich trafen sich die Ehrenamtlichen zur gemeinsamen Reflexion ihrer Telefonarbeit in regelmäßig tagenden Gruppen.

Ursprünglich galt für viele "Telefonseelsorge"-Niederlassungen, dass die "Telefonseelsorgerinnen" und "Telefonseelsorger" in ihrem Hauptberuf oftmals als Priester beziehungsweise Pfarrer oder kirchliche Laienmitarbeiterinnen und Laienmitarbeiter wirkten. Diejenigen, die nicht in kirchlichen Diensten tätig waren, verstanden sich häufig als engagierte Christen, die aus einer tief im Glauben verwurzelten Motivation diesen Dienst in der "Telefonseelsorge" übernommen hatten. Das vordringliche Ziel aller Ehrenamtlichen bestand darin, dass sie "Selbstmorde verhüten" wollten - so die damals übliche Ausdrucksweise. Schließlich sind die Anruferinnen und Anrufer zu nennen, die das Angebot der "Telefonseelsorge" in ihren seelischen Nöten, besonders angesichts suizidaler Gefährdungen, von Anfang an zahlreich in Anspruch nahmen.


Jahrzehnte nach der pionierartigen Initiierung von Niederlassungen der "Telefonseelsorge" zuerst in den großen, später in den mittelgroßen Städten Deutschlands, findet sie weiterhin besten Zuspruch - mittlerweile freilich in einer Welt, die sich politisch, sozial und religiös vielfältig gewandelt hat. Manches in der "Telefonseelsorge" erinnert noch an die Anfänge, anderes veränderte sich. Durchgehalten hat sich sowohl die konfessionelle beziehungsweise ökumenische Trägerschaft als auch die vielfach kirchliche Finanzierung der Einrichtung. So arbeiten aktuell bundesweit 105 "Telefonseelsorge"-Niederlassungen (davon 29 in evangelischer, neun in katholischer und 67 in evangelisch-katholischer Trägerschaft).

Die insgesamt etwa 200 Hauptamtlichen sowie die Geistlichen tun weiterhin ihre Dienste zugunsten der Ehrenamtlichen. Von entscheidender Bedeutung ist die ununterbrochene telefonische Bereitschaft zur Entgegennahme von Anrufen an sieben Tagen in der Woche durch eine supervisorisch begleitete Gruppe von deutschlandweit 8500 Ehrenamtlichen. Als Ausdruck der Kontinuität lässt sich nicht zuletzt die intensive Nutzung der telefonischen "Hotline" werten. Mehr als zwei Millionen Anrufende zählt die "Telefonseelsorge" im ganzen Land jährlich. Besonders die seit der Jahrtausendwende zugenommenen Handy-Anrufe trieben die Zahl der "Telefonseelsorge"-Anrufe deutlich in die Höhe.


Worin besteht das "Christliche" an der Telefonseelsorge?

Als Veränderung im Vergleich zu den Anfängen der "Telefonseelsorge" ist erstens hervorzuheben, dass sich das ursprüngliche Ziel der "Selbstmordverhütung" hin zu einem fachlichen Beratungsangebot in vielfältigen Lebenskrisen verlagert hat. Zweitens hat sich in vielen "Telefonseelsorge"-Niederlassungen die Zusammensetzung innerhalb der Gruppe der Ehrenamtlichen verändert: An die Stelle von Priestern, kirchlich-hauptamtlichen Laienmitarbeiterinnen und Laienmitarbeitern sowie anderen kirchlich-konfessionell gebundenen Menschen sind mittlerweile Menschen mit einem unterschiedlich stark ausgeprägten Zugehörigkeitsgefühl zu den kirchlichen Trägerinstitutionen getreten. Umso mehr stellt sich die Frage nach der weiteren kirchlichen Finanzierung der "Telefonseelsorge"-Niederlassungen - erst recht angesichts sinkender Kirchensteuereinnahmen und unvermeidbarer Schwerpunktbildungen in der Seelsorge der deutschen Bistümer.


Angesichts der aufgezeigten Übereinstimmungen und Veränderungen innerhalb der jahrzehntelangen Traditionen der "Telefonseelsorge" in Deutschland drängt sich aktuell die Überlegung auf, worin das "genuin Christliche" dieser Einrichtung zukünftig zu sehen ist, wenn die Kirchendistanz der Ehrenamtlichen im Verlaufe der vergangenen Jahrzehnte eher zu- als abgenommen hat. Reicht es hier aus, auf die kirchliche Trägerschaft hinzuweisen? Kann man sich mit dem knappen Hinweis begnügen, dass die Kirchen mit der "Telefonseelsorge" ein Angebot für bedürftige Menschen bereithalten und Caritas doch ohnehin zu ihrem "Kerngeschäft" gehört? Wie lässt sich konkretisieren, was der Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode Ende vergangenen Jahres zum Ehrenamt in der "Telefonseelsorge" würdigend sagte, nämlich dass "hinter der Telefonseelsorgearbeit das christliche Bild vom Menschen" stehe?

Historisch einordnen lassen sich die für die "Telefonseelsorge" aufgeworfenen Fragen, wenn man sich rückblickend daran erinnert, dass die telefonische Seelsorge als eine am Ende des 19. Jahrhunderts in New York gestartete christliche Erfindung charakterisiert werden darf. Sie war ursprünglich keineswegs ein rund um die Uhr besetzter Telefondienst. Vielmehr beruhte sie auf Zeitungs-Inseraten von privaten Telefonnummern einzelner protestantischer Geistlicher, an die sich Menschen in Fällen schwerer seelischer Not - erstrangig bei Suizidgefahr - wenden konnten.

Erst durch den Zusammenschluss vieler Christenmenschen, die sich an der telefonisch betriebenen Seelsorge beteiligten, entwickelten sich in verschiedenen Städten christliche "Telefonseelsorge-Netzwerke", die schließlich auch eine Rufbereitschaft rund um die Uhr gewährleisteten. Ihr biblisches Selbstverständnis gaben diese Kreise auch dadurch zu erkennen, dass sich viele von ihnen - so in London seit den fünfziger Jahren - als "Samaritans" bezeichneten. Bis heute folgen diese "Hotlines" dem von Anfang an aus der Bibel hergeleiteten Grundauftrag zum mitmenschlichen Engagement, selbst wenn sich die Zusammensetzung der Ehrenamtlichen auch in anderen Ländern mittlerweile eher weltanschaulich plural als christlich uniform erweist.


In der Spur des barmherzigen Samariters

Nachdem sich telefonseelsorgerisch tätige Menschen in London schon vor mehr als 50 Jahren "Samaritans" nannten, sei hier gefragt, ob sich aus dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) auch aktuell neue Impulse für das Selbstverständnis der "Telefonseelsorge" herauslesen lassen.

Bekanntermaßen handelt die Erzählung davon, dass ein Mann auf seinem Weg von Jerusalem nach Jericho von Unbekannten überfallen, ausgeplündert und halb tot am Wegrand zurückgelassen wird. Während ein passierender Priester und ein Levit achtlos an dem Hilfsbedürftigen vorbeigehen, nimmt sich ein Mann aus Samarien der Not des Geschundenen an: Mit Wein und Öl behandelt er die Wunden und verbindet sie. Dann legt er den Verletzten auf sein Reittier und bringt ihn zu einer Herberge. Dort kümmert er sich über Nacht um den Armen, bevor er dem Wirt am Morgen zwei Denare gibt und ihm die weitere Obsorge anvertraut. Für den Fall, dass die zurückgelegte Geldsumme nicht ausreichen sollte, verspricht er dem Wirt, dass er auf seiner Rückkehr den noch ausstehenden Betrag begleichen werde.


Das Gleichnis ruft in Erinnerung, dass zum unaufgebbaren Grundbestand christlicher Bedürftigensorge die "erste Hilfe" gegenüber einem Notleidenden und gegebenenfalls seine Zuführung in das vorhandene "soziale Netz" gehören. In diesem Bereich der "ersten Hilfe" sehen sich auch die "Samaritans" sowie die "Telefonseelsorgerinnen" und "Telefonseelsorger" angesiedelt. Ihr Angebot für die Menschen am Weg ist so niederschwellig, dass diese weder ihren Namen nennen noch einen bestimmten Ort aufsuchen, um ein Telefongespräch mit einem dafür geschulten ehrenamtlichen Menschen zu führen. So handeln Ehrenamtliche in Diensten der "Telefonseelsorge" in der Spur Jesu, einerlei, wie ausdrücklich sie sich auf das angesprochene Gleichnis auch immer beziehen. Gleichermaßen aktualisieren sie damit die innere Haltung des Samariters: seine Herzlichkeit, seine Gastfreundschaft und sein Mitleiden.

Bereits der Apostel Paulus hatte festgehalten, dass das jedem Menschen geltende Entgegenkommen Christi nicht ohne die zuvor erfahrene zwischenmenschliche Liebe und das so zugleich grundgelegte religiöse Vertrauen erlebt werden könne (Eph 3,17). Diese Kultur der Herzlichkeit, die das Christentum in der Spur des Alten Testaments prägt, ist - ausdrücklich oder hintergründig - auch für die Ehrenamtlichen in der "Telefonseelsorge" grundlegend. Notwendig für die Mitarbeit ist eine Verwurzelung in der Erfahrung, dass die erlebte Bejahung durch andere Menschen die beste Basis ist, um anrufenden Menschen in Grenzsituationen eine Stütze sein zu können. Der Samariter aus dem Evangelium steht für diese innere Haltung: Berührbar für die Not der anderen ist, wer selber bereits von anderen Menschen berührt worden ist; als hörbereit für die Anliegen seiner Mitmenschen erweist sich, wer persönlich erfahren hat, was ein offenes Ohr im richtigen Moment bewirken kann.


Praktizierte Gastfreundschaft

In vielen Kulturen der Vergangenheit und der Gegenwart bezieht sich die Gewährung der Gastfreundschaft nicht auf die Bedürftigen. Vielmehr wurde beziehungsweise wird die Praxis der Gastfreundschaft oft als Ausdruck gegenseitig geübter Unterstützung unter Reichen verstanden: Wer nicht zur materiellen Gegenleistung in der Lage ist, kann Gastfreundschaft nicht in Anspruch nehmen, so die hintergründige Logik. Im Unterschied dazu richtet sich die Gastfreundschaft gemäß dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter auf die Bedürftigen, die das empfangene Entgegenkommen nicht ausgleichen können. Die Gastfreundschaft, die von Anfang an als Grundbild für den christlichen Glauben dient, findet sich in der "Telefonseelsorge" täglich praktiziert: Ehrenamtliche halten sich bereit, um Menschen ihre Aufmerksamkeit zu schenken, die dafür weder etwas bezahlen noch sonstige Anforderungen erfüllen müssen.


Gemeinschaft und Thematisierung des Selbst als religiöse Qualitäten

Das Neue Testament spricht nicht nur mit Blick auf den Samariter vom Mitleiden als einer christlichen Grundhaltung. Ebenso wie Jesus mit den Geringgeschätzten leidet und er den Apostel Petrus kritisiert, als dieser am Ölberg anstelle des Mitleidens in tiefen Schlaf versinkt (Mk 14,37), prägt es das Selbstverständnis der Ehrenamtlichen in der "Telefonseelsorge", sich für die Nöte der anrufenden Menschen zu öffnen und ihnen mit ihren Anliegen sympathisch-hörend zu begegnen.

Gemäß Stefan Schohe artikuliere sich das Mitleiden der Ehrenamtlichen gegenüber den Anrufenden im Zuhören und im Klären, im Ermutigen und im Mittragen, im Begleiten und im Hinführen zur eigenen Entscheidung sowie schließlich im Hinweis auf geeignete Fachleute. "Die goldene Regel, soweit es sie gibt, ist: mitfühlend sein, aber innerlich frei bleiben, verständnisvoll zuhören, sich aber jeden Urteils enthalten", wie der evangelische Geistliche Chad Varah aus London als Gründungsvater der weltweiten "Telefonseelsorge" bereits in den fünfziger Jahren seine Deutung einer Kultur des Mitleidens zum Ausdruck brachte.


Das biblische Gleichnis vom barmherzigen Samariter stellt heraus, dass es für den herzlich, gastfreundlich und mitleidend gesonnenen Samariter darauf ankommt, eine persönliche und authentische Antwort auf die Notsituation am Wegrand zu geben. Zugleich darf sich der Notleidende in seiner ganzen Bedürftigkeit zeigen, ohne sich dafür schämen zu müssen oder bewertet zu werden. Damit nehmen beide eine Haltung ein, die die Entscheidungsreligion Christentum von allem Anfang an nahelegt: Es geht um die Ich-Entscheidung zur Ehrlichkeit, für den "Telefonseelsorger" zugleich um eine Haltung der Hörsamkeit gegenüber dem anrufenden Menschen. Diese zugewandte Haltung und das so ermöglichte Miteinander können sogar als Gottesdienst und -begegnung verstanden werden ("Was ihr einem von diesen getan habt, das habt ihr mir getan", wie Jesus in Mt 25,40 in den Mund gelegt wird).

Die "Telefonseelsorge" unterstützt die Ehrenamtlichen, indem sie ihnen in Aus- und Weiterbildungsgruppen regelmäßig Anregungen für die Persönlichkeitsentwicklung und für die Beratungskompetenz an die Hand gibt. Überdies umfassen die Angebote pädagogische, psychologische und religiöse Schwerpunkteinheiten - all das, damit die Ehrenamtlichen ihren Dienst am Telefon im vertieften Wissen um ihre eigene Lebensgeschichte leisten können und so aufrichtige Begegnungen ermöglichen. Nicht zuletzt geht es im Rahmen dieser Fortbildungen auch um eine orientierende Anleitung der Ehrenamtlichen zur persönlichen Auseinandersetzung mit menschlichen Grundfragen und den dazu jeweils vertretenen Auffassungen in Kirchen und Gesellschaft: Wie positioniere ich mich beispielsweise gegenüber Krankheit und Tod, Suizid und Scheitern, Schuld und Vergebung?


In Zeiten zunehmender Individualisierung bietet die "Telefonseelsorge" neue Formen von Gemeinsinn, Solidarität und "Netzwerken" an - sowohl innerhalb der Ehrenamtlichenschaft als auch zwischen den Ehrenamtlichen und den Anrufenden. Was Ehrenamtliche beispielsweise in ihren Aus- und Weiterbildungsgruppen an persönlich bereichernden Lebenserfahrungen machen, wiegt für die meisten von ihnen schwerer als die aufgewendete Zeit und Kraft des Schicht-Dienstes am Telefon, wie sie fast durchgängig rückmelden.

"Für viele Zeitgenossen stellt diese Form der Begegnung mit der eigenen Person und ihrer eigenen Geschichte, das methodisch geleitete 'Hineinhorchen in die Transzendenz des eigenen Selbst' einen Weg zu den 'Tiefen verschütteter authentischer religiöser Erfahrung' dar; die Thematisierung des Selbst gewinnt also (quasi-)religiöse Qualität", wie der Theologe Hermann Steinkamp unterstreicht. Und noch etwas fügt dieser mit der "Telefonseelsorge" jahrzehntelang vertraute Pastoralsoziologe an: "Bekanntlich vergewissern sich Mitarbeiter(innen) immer wieder einmal augenzwinkernd, dass sie Telefonseelsorge in einem doppelten Sinn verstehen, d. h. auch als Seelsorge aneinander (einschließlich der religiösen Dimension)."


Die Arbeit im Telefonzimmer, die die Ehrenamtlichen in der "Telefonseelsorge" miteinander verbindet, lässt sich als eine Gemeinschaft im diakonischen, biblisch: im samariterartigen Handeln beschreiben. Vereint in diesem anspruchsvollen sozialen Einsatz, treffen sich die Ehrenamtlichen über die Aus- und Fortbildungen hinaus auch zu Festen und Feiern: zu Sommerfesten oder Adventsfeiern, zu Aufnahme- oder Abschiedsfeierlichkeiten. Oftmals sind diese festlichen Zusammenkünfte mit einem Gottesdienst verbunden, der thematisch jeweils einen Bezug zur telefonseelsorgerischen Tätigkeit aufweist. Der ökumenisch gestalteten Liturgie stehen der evangelische und der katholische Geistliche vor, die dabei von Ehrenamtlichen unterstützt werden.

Nicht selten machen Menschen in der "Telefonseelsorge" die Erfahrung, dass die ihnen hier entgegengebrachte Aufmerksamkeit weitaus intensiver ist als im anonym erlebten Alltag ihrer Kirchengemeinde, zu welcher sie ehedem Bezug hatten oder der sie sich immer noch zugehörig fühlen. Gleichfalls schildern manche Ehrenamtliche ihre Arbeit in der "Telefonseelsorge" als ihre eigentliche christliche Praxis. Vor diesem Hintergrund lässt sich im Rückgriff auf Hermann Steinkamp auch für die "Telefonseelsorge" von einer "Gemeindebildung am Ort der Diakonie" mit dem Zentrum eines "Gottesdienstes der Nächstenliebe" sprechen. In Fortsetzung des Beispiels vom barmherzigen Samariter ist damit zugleich ausgesagt, dass die Ehrenamtlichen am Telefon Zeit und Energie in ihr Engagement investieren und sich am Ende doch als die eigentlich Beschenkten empfinden. Warum sollten Christen einen solchen Ort gelingenden Lebens, der geprägt ist von einer Kultur der Herzlichkeit, der Gastfreundschaft und des Mitleidens, nicht "Gemeinde" oder "göttlich-menschlichen Begegnungsort" nennen?


Das einzige flächendeckende Gesprächsangebot für Menschen in Krisensituationen

Das Netz der aktuell bundesweit 105 konfessionell getragenen "Telefonseelsorge"-Niederlassungen ist das deutschlandweit einzige flächendeckende Gesprächsangebot für Menschen in Krisensituationen. Es lebt von der Sehnsucht vieler Menschen nach aufrichtiger Begegnung. Die Ehrenamtlichen ermöglichen dieses In-Kontakt-Kommen durch ihr niederschwelliges Angebot gegenüber den Anrufenden - ganz in der Spur des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter. Zugleich erfahren sie sich als Ehrenamtliche wertgeschätzt durch die Gemeinschaft untereinander und die regelmäßige supervisorische Begleitung ihrer Arbeit.

Einerlei, mit welcher Kirchenbindung Ehrenamtliche bei der "Telefonseelsorge" aufgenommen wurden, kommen sie im Rahmen ihrer Mitarbeit in dieser ökumenisch getragenen Einrichtung oftmals zu einer Neubewertung von Kirche: "Wenn Kirche für Angebote wie die Telefonseelsorge die Steuergelder ausgibt, dann ist das total in meinem Sinne!" Oder: "Eigentlich ist die Telefonseelsorge meine (Kirchen-)Gemeinde. Hier erlebe ich das, worum es im Christentum geht, viel intensiver als in meiner Ortspfarre." Oder: "Wenn wir hier andere Menschen unterstützen, uns untereinander um einen Geist der Aufmerksamkeit bemühen und die gottesdienstliche Feier einbeziehen - kann es mehr Christentum geben?" Angesichts derartiger Neubewertungen der Kirche - sie ließen sich leicht vermehren - erledigt sich zugleich die von den kirchlichen Trägern bisweilen (still) erwogene Wunschvorstellung, von vornherein nur kirchlich-institutionell ohnehin schon eng eingebundene Menschen als Ehrenamtliche bei der "Telefonseelsorge" zu rekrutieren.


Könnte die in der "Telefonseelsorge" gelebte Christlichkeit womöglich auch dadurch eine weitere Aufwertung erfahren, dass sie kirchlicherseits im Sinne eines Seismographen für die gesellschaftlichen Realitäten und Veränderungen (Beziehungsprobleme in Partnerschaft und Familie, psychische Erkrankung, Einsamkeit etc.) wahrgenommen würde? In diese Richtung weist der Pastoraltheologe Klaus-Peter Jörns: "Der Dienst, den die 'Telefonseelsorge' der Kirche und Theologie tut, könnte noch viel größer sein, wenn diese mehr als bisher danach fragten, wie die Unterseite der Oberfläche, auf der wir so geordnet miteinander umgehen, eigentlich aussieht."

Tatsächlich würde die Berücksichtigung von Erfahrungen aus der "Telefonseelsorge" helfen, die kirchliche Verkündigung zu "erden", theologische Schlüsselworte (Heil und Unheil, Freude und Leiden, Gesundheit und Krankheit, Einsamkeit und Gemeinschaft) zu elementarisieren und die gottesdienstliche Feier näher mit dem Leben zu verbinden. Auch unter diesen Vorzeichen könnte sich die "Telefonseelsorge" wie nebenbei als wirklicher Begegnungsort mit sinnvollem Ausstrahlungspotenzial für die als Träger fungierenden Kirchen auszeichnen - womöglich mit Impulsen bis hinein in die Ausbildungskonzeptionen für Gemeindeseelsorgerinnen und Gemeindeseelsorger.


Hubertus Lutterbach (geb. 1961), Dr. theol., Habil. Theol., Dr. phil., lehrt seit 2000 Christentums- und Kulturgeschichte (Historische Theologie) an der Universität Duisburg-Essen im Fach Katholische Theologie.

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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
66. Jahrgang, Heft 5, Mai 2012, S. 256-260
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. August 2012