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STANDPUNKT/277: Renaissance der Religion (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion 12/2006

Renaissance der Religion Klärendes zu einer umstrittenen These

Von Hans-Joachim Höhn


Was ist dran an der viel beschworenen Renaissance der Religion? Dieser Frage widmet sich ein Themenheft der Herder Korrespondenz, das wir anlässlich unseres 60-jährigen Jubiläums veröffentlicht haben. Das Thema diskutierten wir aber auch unter Kollegen und Kolleginnen, die wir Ende Oktober zu einer kleinen Jubiläumsfeier nach Freiburg geladen hatten. Der Kölner Theologe und Religionsphilosoph Hans-Joachim Höhn gab dieser Diskussionsrunde einen bemerkenswerten Impuls, den wir hier zum Abschluss unseres Jubiläums-Jahrgangs dokumentieren.


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In einer guten Überschrift sollte eine These enthalten sein - am besten: eine gute These. Was den folgenden Überlegungen zum Verhältnis von Religion und Gesellschaft als Titel voransteht, formuliert jedoch (nur) eine steile These. Nicht weniger als die Renaissance der Religion wird behauptet. Eine gute These zur Beschreibung der gesellschaftlichen Verfassung der Religion und zur religiösen Signatur der Zeit müsste gewiss vorsichtiger präsentiert werden. Denn zu den Zeichen unserer Zeit gehört, dass wir im Zeichen eines großen "Sowohl- als-auch" leben. Es kann kein Standpunkt mehr eingenommen werden, ohne der Berechtigung der Gegenposition nachzugehen. Es gibt keinen Trend, ohne dass zugleich gegenläufige Tendenzen zu beobachten sind - keine These ohne Gegenthese.

In der Tat werden auch in Religionsdingen auf der Bühne moderner Gesellschaften zur Zeit zwei Stücke gleichzeitig aufgeführt. Das eine handelt von der Säkularisierung der Gesellschaft, das andere von der Rückkehr des Religiösen im Säkularen, das heißt diesseits und jenseits der etablierten Kirchen und Konfessionen. Nicht ein Nacheinander von Prozessen der Verabschiedung und der Wiederkehr des Religiösen ist zu diagnostizieren, sondern deren Ineinander, ihre Gleichzeitigkeit.

Davon scheint die Überschrift "Renaissance der Religion" nichts wissen zu wollen. Sie scheint zu ignorieren, dass in vielen westlichen Gesellschaften längst "postreligiöse" Verhältnisse bestehen. Hier gilt Religion nicht mehr als metaphysisches Bindemittel des Sozialen; sie ist kein kollektives Sinndepot mehr; sie hat ausgedient als Auskunftei für Fragen nach der Entstehung der Welt. Aber auch das ist nur die eine Hälfte der Wahrheit.

Die Rede von der Renaissance der Religion enthält mehr als die andere Hälfte der Wahrheit. Sie ist nämlich keineswegs so undialektisch, wie sie beim ersten Zuhören klingt. Wer von "Wiederbelebung" spricht, setzt zumindest einen zeitweiligen Ausfall von Lebensfunktionen voraus. Wer das Bild von der "Wiedergeburt" oder der "Wiederauferstehung" verwendet, darf den vorausgehenden Tod nicht verschweigen. Das Aufhören kommt immer vor dem Anfangen - auch vor dem Wieder- oder Neuanfang.

Für die anstehende Diskussion um ein mögliches, wirkliches oder bloß vermeintliches Comeback der Religion bieten sich drei Impulsfragen an, welche das Postsäkulare nicht vom Postreligiösen trennen und einen Anfang nicht ohne ein Ende denken lassen:

An welche Orte kehrt das Religiöse nach seinem Ableben zurück; wo sind die "leeren Gräber" des Religiösen zu besichtigen? Als was kehrt das Religiöse zurück; was an ihm wird wiederbelebt; wie viel von ihm wird wiedergeboren?

Zählt die Renaissance des Religiösen zu jenen Totenerweckungen, bei denen man in ein Leben zurückkehrt, in dem man sich ein zweites Mal den Tod holen wird?

Das Religiöse verlässt seit geraumer Zeit die Totengruft, die ihm bestimmte Religionstheorien errichtet haben, nachdem sie ein säkularisierungsbedingtes Komplettverschwinden der Religion prognostiziert hatten. Je moderner die Moderne wird, umso verzichtbarer, entbehrlicher und überflüssiger sollte die Religion werden. Inzwischen ist man dabei, diese säkularistische Grundannahme zu revidieren. Im Oktober 2001 hat Jürgen Habermas seine Rede bei der Entgegennahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels unter die Überschrift "Glauben und Wissen" gestellt, für seine Zeitdiagnose den Begriff der "postsäkularen Gesellschaft" eingeführt und diesen mit einer deskriptiven und zugleich prognostischen Note versehen.

Gegen alle Erwartungen einer religionslosen Zukunft stellt Habermas den Befund einer Gesellschaft, die sich auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung einstellen muss. Er schränkt diesen Fortbestand nicht auf folkloristische Bestände ein, sondern hält ihn auch für politisch und sozial-ethisch belangvoll, indem er darauf hinweist, dass ungeachtet zahlreicher Entmythologisierungs- und Säkularisierungswellen religiöse Sinnsysteme eine wichtige "vorpolitische" Ressource eines liberalen Gemeinwesens bilden können. In der Politischen Philosophie hat Habermas mit diesen Thesen eine Abkehr vom Säkularisierungstheorem der Moderne vollzogen, die in der Religionssoziologie schon seit etlichen Jahren beobachtbar ist.


Moderne Gesellschaften können ihrer Säkularität nicht mehr sicher sein

Die Unterstellung, den in Westeuropa eingetretenen Bedeutungsverlust der Religion für die modernisierungstheoretische Regel zu halten, hat sich im Weltmaßstab als unhaltbar erwiesen. Vielleicht ist Europa sogar die Ausnahme und nicht der Regelfall. Weltweit gibt es Gegenbewegungen zum okzidentalen Rationalismus, die sich dabei aller Errungenschaften der High-Tech-Moderne bedienen. Die Erwartung, wissenschaftlich-technischer Fortschritt führe über die Entmythologisierung von Weltbildern zur Irrelevanz des Religiösen für Formen und Inhalte kultureller Selbstverständigung, hat sich nicht erfüllt.

Religion kehrt daher zurück - in die Gesellschafts- und Kulturtheorie, die in ihrem Verschwinden nicht mehr den zwangsläufigen Endpunkt vom modernen Lauf der Dinge sehen kann. Wie aber und in welchen Formen, in welchen Umfang kehrt Religion in die Empirie zurück? Wo und als was kehrt sie zurück nach ihrem Ende als kollektiver Moralgarant und politischer Legitimationsbeschaffer?

Wo sich eine Rückkehr des Religiösen in Kultur und Gesellschaft ereignet, kehrt sie nicht an ihre angestammten Plätze zurück und nimmt sie auch nicht ihre alten Funktionen wieder wahr. Dass sich moderne Gesellschaften ihrer Säkularität nicht mehr sicher sein können, liegt daher nicht am Erstarken der etablierten religiösen Institutionen. Vielmehr ist es die Präsenz des Religiösen im Säkularen, welche die kulturelle Permanenz des Religiösen ausmacht. Allerdings ist es eine Präsenz, die sich der Dekonstruktion religiöser Traditionen verdankt. Es sind säkulare "Updates" religiöser Versatzstücke, freundliche und feindliche Übernahme religiöser Sinn- und Deutungsmuster, religiöse Zweitcodierungen des Säkularen, in denen Religiöses gesellschaftlich antreffbar wird:

Die Werbung benutzt unablässig religiöse Zitate und legiert im Rahmen des "Kultmarketing" Produkte mit Lebensstil und Lebenssinn. Die Organisatoren sportlicher Großereignisse leihen sich für ihre Eröffnungsfeiern liturgische Kompetenzen aus. Der Fußball kann selbst zum "Religiosum" werden. Dem Kino liegen die klassischen Mytheme von Verwünschung und Erlösung in immer neuen Drehbüchern vor.

Was hierbei an der Religion wieder belebt wird und wieder aufersteht, ist das Religionsförmige, das heißt jene ästhetischen Layouts und Stilmittel, die eine gewisse Aura und Assoziationskraft in Richtung Religion behalten haben. Aber in diesen Verpackungen stecken keine Inhalte, mit denen sich eine konkrete religiöse Aussage verbindet, wie die Cover-Versionen gregorianischer Choräle auf den Musiksendern VIVA und MTV zeigen. Man setzt auf die ästhetischen oder therapeutischen Nebenwirkungen des Religiösen und lässt aus der Hauptsache eine Nebensache werden. Für Gesundheit trifft man über gesundes Essen Vorsorge und wartet mit Gerichten aus dem Rezeptbuch einer Hildegard von Bingen auf. Dabei wird ihr mystisches Heilwissen jedoch gänzlich abgelöst von seinem schöpfungstheologischen Hintergrund.

Dieser Trend steht in Korrelation zu den aktuellen Formaten der individuellen Nachfrage nach Religion. Die postsäkulare Spiritualität ist ebenso erlebnisorientiert wie subjektzentriert: Das Interesse an religiösen Erlebnisformaten bemisst sich weitgehend danach, ob und inwieweit sie Prozesse der Selbstthematisierung und Selbstbestätigung in Gang setzen. Riten und Rituale sind nur insoweit belangvoll, wie sie bestimmte Wirkungen im Subjekt hervorrufen: Gefühle, Stimmungen, Ekstase, Betroffenheit, Ergriffenheit, Trance, die vom Subjekt als heilsam, befreiend, tröstend oder erhebend empfunden werden. Hier manifestiert sich eine Spiritualität jenseits von Dogma und Moral. Man will fühlen und spüren, was man glaubt. Was in der Religion wiederbelebt und wiedergeboren wird, ist also das Ästhetische, ihre Sinnlichkeit, das Atmosphärische, das Emotionale.


Gefühle und Stimmungen offenbaren dem Subjekt auch,
was in seiner Welt vorgeht

Die besondere Attraktivität des Ästhetischen in Verbindung mit dem Atmosphärischen belegen auch die kirchlichen Megaevents der letzten beiden Jahre. Beim Weltjugendtag im August 2005 in Köln liefen die Fragestereotypen der Journalisten bald ins Leere. Sie hatten es auf papstkritische Äußerungen abgesehen und wollten von den Jugendlichen wissen, wie sie es mit Kondomen und päpstlicher Unfehlbarkeit hielten. Sie verkannten, dass die Motive fürs Dabeisein jenseits von Dogma und Moral angesiedelt waren. Nicht anders war es in den Tagen um den Tod des alten Papstes und während der Wahl und Einführung des neuen. Die Medien griffen eifrig und eilig, was ihnen die katholische Kirche an starken Bildern anbot: die Inszenierung einer Spiritualität jenseits von Dogma und Moral. An ihre Stelle trat als Ausdrucksmedium das Ästhetische, das Erleben einer besonderen Atmosphäre, die Teilhabe an großen Gefühlen.

Die Journalisten schalteten bei beiden Großereignissen schnell um: "Wie ist die Stimmung?" - keine Reporterfrage war häufiger zu hören als die Erkundigung nach Atmosphäre und Befindlichkeit der Menschen auf dem Petersplatz in den letzten Tagen von Johannes Paul II. Zunächst deutete ihre häufige Wiederholung auf eine journalistische Verlegenheitsreaktion angesichts fehlender neuer Fakten, Zahlen und Daten, die man hätte durchgeben können. Außer einem wachsendem Zustrom von Menschen auf dem Petersplatz passierte nämlich nichts, das wirklichen Nachrichtenwert hatte. Daher behalfen sich die Medien mit der Beschreibung von Emotionen: Ergriffenheit, Andacht, Trauer. Aber sie erfassten mit "Stimmung" noch etwas anderes, das am ehesten auf das religiöse Moment dieser Tage verweist. Wenn es einen besonderen "spirit" gab, der diese Tage eines öffentlichen Papststerbens und deren Botschaft bestimmte, dann hatte er mit der "Einstimmung" der Menschen vor der Peterskirche zu tun. Sie ließen auf dem Platz einen Resonanzraum entstehen für etwas, von dem sie ahnten, dass es sie anrühren könnte.

Es ist kein Zufall, dass auch beim Weltjugendtag in Köln die "Stimmung" vor Ort den Ausschlag für sein Gelingen gab. Diese ästhetische Kategorie macht eine häufig verkannte Bedingung auch religiöser Erfahrungen deutlich. Gefühle und Stimmungen machen nicht nur offenbar, wie es um jemanden steht; sie "offenbaren" dem Subjekt auch, was in seiner Welt vorgeht. Wie jemand "aufgelegt " ist, entscheidet darüber mit, was bei ihm und wie er bei anderen ankommt. In einer bestimmten Stimmung erst geht dem Erkennenden etwas erlebnismäßig und gefühlsmäßig auf. Wo Dissonanzen bestehen, wird spürbar, dass etwas Entscheidendes fehlt.

Unstimmigkeiten zeigen ex negativo auf, was fehlt und passt. Am Beispiel der Musik wird deutlich, welche Bedeutung dieser Umstand hat: Sich aufeinander abzustimmen und auf ein Geschehen einzustimmen, lässt dieses Geschehen erst zustande kommen, wahr und wirklich werden. Jeder Musiker muss sein Instrument erst stimmen, bevor er darauf spielen kann und das Instrument zu seiner "Stimme" und der des Komponisten wird. Es reicht nicht, eine Partitur virtuos herunterzuspielen. Mit einem verstimmten Instrument wird dabei lediglich Lärm erzeugt. Ebenso braucht es einen Resonanzraum und ein Publikum, das nicht weniger eingestimmt werden muss als Instrumente und Orchester, damit "alles stimmt". In ähnlicher Weise sind auch religiöse Erfahrungen darauf angewiesen, dass eine besondere Disposition, eine besondere Atmosphäre besteht, damit sich das einstellen kann, was dem Menschen fehlt und sich in die Leerstellen seiner Existenz einpasst. Auch hier kommt es darauf an, "in Stimmung" gebracht zu werden.

Stimmungen sind keineswegs unbeeinflussbare Befindlichkeiten, vielmehr lassen sie sich wecken und verändern. Zweifellos liegt darin auch die Gefahr der Manipulation und der Projektion. Aber wegen dieser Gefahr die Kategorien "Stimmung" und "Atmosphäre" nur zum Gegenstand religionskritischer Reflexionen zu machen, hieße eine Konstellation auszublenden, die religiöse Phänomene ebenso erstellen wie diese entstellen kann. Stimmungen sind das (inter-)subjektive Pendant dessen, was nur erspürt werden kann und nur im Spüren wirklich und wahr wird.

Stimmungen öffnen einen Zugang zur Anwesenheit dessen, das eine Spur durch das Fühlen des Menschen zieht. Es ist dasjenige, das uns nicht in den Kopf will, sondern ins Herz trifft. Dazu aber bedarf es einer Gegebenheitsweise, für die der Mensch resonanzfähig ist - eben dies sind die Atmosphären ästhetischer und religiöser Erfahrung. Atmosphären aber gibt es nur trans- und intersubjektiv. Darum suchen die religiös Aufgeschlossenen dieser Tage auch Gemeinschaftserlebnisse. Als Individualisten sind sie zugleich anlehnungsbedürftige Individuen. Sie lehnen sich bereitwillig auch an Überkommenes an und lassen sich von ihm anrühren. Aber sie behalten sich vor, selbst Nähe und Distanz zur Tradition zu bestimmen.


Jede Religion ist selbst ein ästhetisches Phänomen

Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, warum sich die "neue" Nachfrage nach Religion vielfach jenseits moralischer und dogmatischer Auslegungen religiöser Überlieferungen bewegt und stattdessen an einer ästhetischen "performance" interessiert ist, wie sie etwa in Riten und Ritualen praktiziert wird. Hier scheint am ehesten atmosphärisch erlebbar zu sein, was Religion leisten kann: Medium zu sein für den Grenzverkehr zwischen Immanenz und Transzendenz, für die Vergegenwärtigung des "Jenseitigen", für die sinnliche Repräsentanz des den Sinnen Entzogenen, für das Gewahrwerden vermittelter Unmittelbarkeit.

Jede Religion ist selbst ein ästhetisches Phänomen. Was ein Beobachter stets zuerst von ihr wahrnimmt, ist ihr Erscheinen in Riten und Ritualen; erst viel später ist dahinter eine religiöse Lehre oder Moral zu entdecken. Auch Riten und Rituale sind "jenseits" von Dogma und Moral angesiedelt und folgen einer anderen Logik: Moral verlangt, dass Taten folgen, damit sich eine Überzeugung praktisch auswirken kann. Ein Ritual ist bereits selbst eine "Tathandlung", das heißt es realisiert bereits die Sphäre, in der es wirkt. Dogmatik ist der begriffliche Reflex einer Einsicht und Erfahrung, die den Menschen "gepackt" hat; ein Ritual vollzieht Ergriffenheit. Man kann sich im Ritual sinnlich von dem ergreifen lassen, wovon sonst in begrifflicher Distanz die Rede ist. Ein Ritual spricht nicht (nur) über etwas, sondern spricht etwas zu. Nicht das Nacheinander von Information und Rezeption, sondern die Gleichzeitigkeit dieser Aspekte, ihr Ineinander in einer "performance" ist für die religiösen Rituale charakteristisch und macht sie attraktiv.


Die Wiederkehr von Bedürfnissen nach Religion

In Zeiten, in denen stets ein Anfang auf ein Ende folgt, wartet auf einen Neuanfang immer auch ein erneutes Ende. Kein Wiederbelebungsversuch ist auf lange Sicht erfolgreich. Man kehrt zurück in ein Leben, in dem man bald wieder den Tod vor Augen hat. Zählt auch die Renaissance des Religiösen zu jenen Totenerweckungen, die nicht von Dauer sind? Anders gefragt: Sind die skizzierten Formen und Formate einer Wiederkehr der Religion nur andere und neue Formen ihrer Säkularisierung?

Skeptiker und Kritiker bezweifeln, ob die kirchlichen Megaevents der letzten Jahre mehr als religiöse Strohfeuer gewesen sind. Viele Jugendliche (und Erwachsene) am Rande des Weltjugendtages verspürten zweifellos eine Sehnsucht nach Religion - und beließen es aber auch bald dabei. Der Katholikentag 2006 vermochte keine besondere Attraktivität mehr für sie zu entwickeln. Nicht die Religion scheint also ein Comeback zu erleben, vielmehr handelt sich allein um die vorübergehende Wiederkehr von Bedürfnissen nach Religion. Allenfalls kehrt die Religion als Sehnsucht nach Religion zurück. Nicht die Religion ergreift offenbar die Menschen, sondern die Menschen greifen nach etwas, was sie für das Religiöse halten; sie spüren ein Vakuum und möchten es aufgefüllt sehen. Erschöpft sich darin bereits ein "postsäkulares" Interesse an Religion? Wie anhaltend und nachhaltig ist die Rückkehr des Religiösen in die Gesellschaft?

Diese Frage ist auch an die etablierten Kirchen und Konfessionen zu richten. Vielfach führt der Trend zur Religion an ihnen vorbei. Das muss nicht allein daran liegen, dass sich andere Anbieter auf dem Markt der Weltanschauungen besser positionieren. Die entscheidende Frage ist, inwieweit das kirchlich verfasste Christentum selbst überhaupt resonanzfähig ist für ein Interesse an Religion "jenseits" von Dogma und Moral. Oder überkommt die Kirchen angesichts der Sehnsucht nach Religion lediglich die Sehnsucht nach sich selbst? Diese lässt sich durchaus im Trend der Zeit ästhetisch wirkungsvoll inszenieren - mittels einer Liturgie, die aber im Dienst von Dogma und Moral steht. Dogma und Moral sind aber nicht das Erste, was religiös Suchenden fehlt und ihre Leerstellen füllen kann. Wo die Renaissance des Religiösen bei Vertretern des religiösen Establishments nur die Sehnsucht nach sich selbst erzeugt, ist sie dort schon am Ende. Zumindest vermittelt sie keine Aufbruchstimmung - wenn sie nicht sogar verdorben wird.


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Hans-Joachim Höhn (geb. 1957) ist seit 1991 Professor für Systematische Theologie an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln. 1984 wurde Höhn in Freiburg promoviert; 1989 Habilitation und Erteilung der venia legendi im Fach Christliche Gesellschaftslehre. Im Frühjahr 2007 erscheint im Schöningh Verlag "Postsäkular. Gesellschaft im Umbruch - Religion im Wandel".


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
60. Jahrgang, Heft 12, Dezember 2006, S. 605-608
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den 18. Januar 2007