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STANDPUNKT/326: Orientierung für Lebenskünstler (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 1 - 2009

Orientierung für Lebenskünstler

Von Peter Bubmann und Bernhard Sill


Welchen Beitrag kann der christliche Glaube zu einem gelingenden Leben leisten? Ein katholischer und ein evangelischer Theologe haben sich gemeinsam auf die Suche nach Zeugnissen christlicher Lebenskunst gemacht.


Menschen brauchen das, wofür das Wort "Lebenskunst" eigentlich steht: die Kunst, sein eigenes Leben so zu leben, dass ein gelingendes Leben daraus wird. Damit scheint diese Kunst eine Angelegenheit zu sein, die großes, ja größtes Gewicht hat und wahrlich eher eine schwere als eine leichte Sache ist. Doch "daß etwas schwer ist", so schrieb einst Rainer Maria Rilke dem jungen Dichter Franz Xaver Kappus, "muß uns ein Grund mehr sein, es zu tun".

"Lebenskunst" klingt für manche Zeitgenossen nach luxuriösem Lebensstil, spielerischem Unernst und nach "Machbarkeit" des guten Lebens. Kann da der Begriff "Lebenskunst" für eine Einführung und Einübung ins christliche Leben taugen? Ja, er kann - und das aus gutem Grund. Gewiss ist es eine wesentliche Aufgabe der ChristInnen, ihren Mitmenschen zum Überleben zu verhelfen. Und kaum jemand hat dieses Anliegen so deutlich verkörpert wie Mutter Teresa. Doch daneben - nicht dagegen (!) - bleibt zugleich eine weitere, nicht minder wichtige Aufgabe: dem eigenen Leben eine vom Glauben geprägte Gestalt zu verleihen, seine "Schönheit" als ein von Gott begabtes und geschenktes Leben zu entdecken und zu kultivieren.


Christliche Lebenskunst lässt sich verstehen als "stilvolle Aneignung" (Christian Schwindt) der Wirklichkeit Christi und als Form von Nachfolge. Sie zielt darauf, eine Lebensform christlicher Freiheit zu entwickeln und zu entfalten. Christliche Lebenskunst wird sich gerade da zu bewähren haben, wo nicht starke Subjekte agieren, sondern schwache Subjekte in ihrer Identität beschädigt oder gar zerstört zu werden drohen. Lebenskunst wird daher nicht lediglich aus den Interessen und Bedürfnissen starker und selbstbewusster Subjekte heraus entwickelt; vielmehr wird die allen Menschen zugesprochene Würde zum Ausgangspunkt der Überlegungen gemacht. Die Verletzung der Menschenwürde wird - wann und wo auch immer sie geschieht - zur größten Herausforderung christlicher Lebenskunst. Diese zielt daher nicht auf eine weltentrückte fromme Innerlichkeit, sondern auf eine Spiritualität, die das "Beten und Tun des Gerechten" (Dietrich Bonhoeffer) miteinander verbindet. Diese Lebenskunst ist nicht einfach nur auf das eigene Können zurückzuführen. Es ist eine erste Hand - die Hand Gottes - im Spiel, durch deren Kunsthandwerk wir Menschen zu Christenmenschen werden. "Evangelischem Gottesglauben zufolge haben wir es mit einer Kunst aus zweiter Hand zu tun, die Können und Nichtkönnen auf eigene Weise in sich vereinigt. Du bist, was du nicht kannst. Werde es, ein Christenmensch - die Kunst aller Künste." (Hermann Timm)

Und diese Kunst setzt auch nicht auf einen Perfektionismus der Lebensführung. Sie will lediglich dazu beitragen, Möglichkeitsräume gelingenden Lebens zu eröffnen. Mit Fulbert Steffensky ist mit einigem Recht durchaus auch "das Lob der gelungenen Halbheit" zu singen. Es kann und muss darum auch nicht immer und überall das große und ganze Gelingen geben.


Die Sache des gelingenden Lebens ist ja wahrlich keine einfache Sache; sie ist eine schwere und auch mannigfach gefährdete Sache. Gelingen ist immer gefährdetes Gelingen; das zu wissen ist wichtig. Es gibt Gefahren, die, wenn sie nicht gemeistert werden, das Gelingen des Lebens vereiteln, und es sind ihrer nicht wenige. Menschen sind eben nicht davor gefeit, "Lebenskunstfehler" (Odo Marquard) zu machen, und so hat Lebenskunst dafür Sorge zu tragen, dass Menschen nach Möglichkeit wenige "Lebenskunstfehler" machen.


Lebenskunst muss nicht immer wieder beim Nullpunkt anfangen. Es wurde ja bereits "Lebenswissen" von früheren Generationen erarbeitet und auf dem Wege der Überlieferung an spätere Generationen weitergegeben. Damit hat sich überall dort, wo Menschen zusammenlebten, wenigstens für die entscheidenden Grundfragen des Lebens ein Vorrat an "Lebenswissen" angesammelt. Gemeint ist damit die Summe jener für das Leben bedeutsamer Weisheiten, die uns helfen, wenigstens einigermaßen gut zu leben und das Ganze des Lebens deutend mit Sinn zu erfüllen. Über Lebenskunst nachdenken heißt, gründlich danach fragen, welche Folgerungen ganz elementar lebenspraktisch daraus erwachsen bzw. existentiell zu ziehen sind, wenn Menschen an Gott als den "Liebhaber des Lebens" (Weish 11,26) glauben.


Christliche Lebenskunst ist eine Gestalt der Nachfolge Christi. Der Glaube an Jesus Christus, der Weg, Wahrheit und Leben ist (Joh 14,6), sowie die biblische Verheißung von einem "Leben in Fülle" (Joh 10,10) bestimmen das Handeln der Glaubenden. Nachfolge als Lebenskunst zielt darauf, sich von Jesus Christus zu einer neuen Existenz anstiften zu lassen, zu einem Leben im Vertrauen auf Gott, in der liebenden Zuwendung zu allem Leben und in der Hoffnung auf Gottes umfassenden Schalom. Es ist dies ein Leben in der Kraft des Heiligen Geistes, der neu zum Leben ermutigt, aufrichtet, versöhnt, zum Frieden anstiftet und ewiges Leben schmecken lässt.


Die christliche Lebenskunst beginnt damit, die Welt so wahrzunehmen, dass wir sie als Gleichnis einer höheren Wirklichkeit lesen, sehen und hören lernen, dass wir den Zuspruch und Anspruch Gottes in der Welt und im eigenen Leben entdecken - gegen allen Augenschein und gegen allen Missklang der unheilvollen Welt. Sie beginnt demnach als Kunst der Welt-Wahrnehmung im Lichte der Gotteserfahrung. Dazu ist es notwendig, buchstäblich mit allen Sinnen zu leben und so die Wahrnehmung zu intensivieren. Christliche Lebenskunst setzt daher damit ein, die alltäglichen Wahrnehmungen unserer Sinne genauer zu beachten. Wer genauer hinhört, hinsieht, sich berühren lässt, schmeckt und riecht, kann erfahren, "wie freundlich der Herr ist" (Ps 34,9), aber auch deutlicher sehen, wo Gewalt und Unfrieden das Leben beschädigen. So entsteht ein Sinn für die großen biblischen Visionen und Verheißungen vom Ziel des Lebens im Schalom Gottes.


Was uns im Inneren bewegt und trägt, wenden wir in unserem Verhalten nach außen: Unsere Art zu essen, uns zu kleiden, zu reden und zu schweigen, mit Tönen und spielerischen Formen uns auszudrücken - alles das zeigt, was uns wichtig ist, was uns "unbedingt angeht". Christsein beginnt nicht erst mit dem Glaubensbekenntnis. Wer glaubt, lässt das ganze Leben davon geprägt sein. Und umgekehrt gilt ebenfalls: In allen Bezügen und Vollzügen des Lebens lassen sich Spuren des Glaubens entdecken. Christliche Lebenskunst ist immer auch die Kunst des Zusammenlebens. Es geht darum, der christlichen Freiheit als kommunikativer und kooperativer Freiheit eine Gestalt zu geben, die ihrem Wesen entspricht. Dafür gibt es keine für alle Zeiten gültige Antworten. Die Spannungen zwischen Nähe und Distanz, zwischen Gemeindebezug und persönlichem Glaubensweg, zwischen Geben und Nehmen sind je neu wahrzunehmen und verantwortlich zu gestalten. Wo die Liebe scheitert oder Konflikte dominieren, geht es um die Kunst der Versöhnung und der Vergebung.


Leben bedeutet Entwicklung und Veränderung. Christliche Lebenskunst hat eigens zu bedenken, wie solche Veränderungen bestanden werden können. Ereignisse wie Geburt, Krankheit, private und berufliche Belastungen des Lebens werden zu Herausforderungen glaubender Lebensgestaltung. Christliche Lebenskunst zielt nicht auf eine emotionale Unberührbarkeit wie etwa die der berühmten stoischen Gelassenheit allem und allen gegenüber. Vielmehr kennt sie spannungsvolle Wechsel von Bangen und Hoffen, von Weinen und Lachen, von Gelingen und Scheitern. In alledem lernen wir Menschen dazu in Sachen Lebenskunst und loten unsere Gefühlswelten aus.

Der Weg ist wichtig, doch er ist nicht schon das Ziel. Vielmehr macht erst das Ziel den Weg zum christlichen Lebensweg. Christliche Lebenskunst verbindet mit der philosophischen Lebenskunst das Anliegen, sich über die Ziele des Lebens Rechenschaft zu geben. Sich zu einem Ziel berufen zu wissen und entsprechende Werte zur Grundlage des eigenen Handelns zu machen, ist eine wichtige Aufgabe des Christseins. Dazu dient neben der ethischen Reflexion auch die Beachtung der eigenen Träume. Notwendig sind Zeiten und Orte zum Innehalten, die neues Aufbrechen ermöglichen. Auch das Zugehen auf den eigenen Tod wird zu einer eigenen Herausforderung der christlichen Lebenskunst.


Lebenskunst ist mehr als das Verstehen des Lebens oder das Einhalten bestimmter Lebensregeln aus dem Lebenswissen der Menschheit. Sie ist Lebensorientierung aus der Kraft spiritueller Vollzüge, Weisheit aus Heilserfahrung. In den verschiedenen Formen des Betens, des gottesdienstlichen Feierns, der Begegnung mit der Heiligen Schrift und dem Empfang der Sakramente verdichtet sich christliche Lebenskunst zur Lebensform des Glaubens. Die Worte des evangelischen Theologen Jürgen Moltmann - sie sind nachzulesen in seinem bereits 1977 in München erschienenen Buch "Neuer Lebensstil. Schritte zur Gemeinde" - bringen meisterhaft zur Sprache, was christliche Lebenskunst letztlich ist: "Die Christen sind 'Künstler', und ihre Kunst ist ihr Leben. Ihr Leben aber ist der Ausdruck ihres Glaubens und ihrer Erfahrungen des Geistes Christi. Das christliche Leben ist, wie die Theologie früher gelegentlich sagte, die ars Deo vivendi, die Kunst, mit Gott und für Gott zu leben. Also sind wir 'Lebenskünstler', und jeder gestaltet sein Leben zu einem Kunstwerk, das etwas von der Schönheit der göttlichen Gnade und der Freiheit der göttlichen Liebe zum Ausdruck bringt."

Diese Lebenskunst will und kann uns Menschen dazu befähigen, das Leben auch dann noch zu bestehen, wo wir es nicht (mehr) verstehen.


Prof. Dr. Peter Bubmann, evangelischer Theologe, ist Inhaber der Professur für Praktische Theologie am Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Prof. Dr. Bernhard Sill, katholischer Theologe, ist an der KU Inhaber der Professur für Moraltheologie an der Fakultät für Religionspädagogik/Kirchl. Bildungsarbeit.

LITERATUR
Bubmann, Peter/Sill, Bernhard (Hrsg.): Christliche Lebenskunst
Regensburg 2008 (Friedrich Pustet Verlag), 24,90 Euro.


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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 1/2009, Seite 20-21
Herausgeber: Der Vorsitzende der Hochschulleitung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juli 2009