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STANDPUNKT/345: Arbeit am Gottesbegriff (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 12/2009

Arbeit am Gottesbegriff
Ein Erkundungsgang anhand jüngerer Veröffentlichungen

Von Jan-Heiner Tück


Der christliche Gottesglaube ist heute vielfach angefragt. Akademischer Theologie und kirchlicher Verkündigung gelingt es nur noch unzureichend, das Gottesthema in die vielfältigen Erfahrungsorte heutiger Zeitgenossen zu übersetzen. Was sind die wichtigsten Einsichten jüngerer Publikationen?


Der christliche Gottesglaube droht esoterisch unterspült zu werden. Asiatisch beeinflusste Religiosität, die längst auch intra muros ecclesiae Einzug gehalten hat, geht zu einem inhaltlich bestimmten und personalen Gottesbegriff auf Distanz und empfiehlt spirituelle Techniken der Selbstrelativierung. Auf der anderen Seite wird im aktuellen Religionsdiskurs der Verdacht erhoben, der biblische Monotheismus sei potenziell gewaltträchtig und intolerant. Die mosaische Unterscheidung zwischen wahr und falsch erschwere die interkulturelle und interreligiöse Verständigung.

Hinzu kommen Schwierigkeiten, die mit dem Theodizeeproblem zusammenhängen: Wie kann ein guter und zugleich allmächtiger Gott das himmelschreiende Unrecht geschehen lassen, ohne rettend zu intervenieren? Schließlich gelingt es der akademischen Theologie, aber auch der kirchlichen Verkündigung offenbar nur unzureichend, das Gottesthema in die vielfältigen Erfahrungsorte heutiger Zeitgenossen zu übersetzen. Menschliche Selbstverständigung scheint immer häufiger ohne eine Kommunikationsfigur "Gott" auszukommen, auch wenn manche zur Sprache bringen, dass etwas fehlt. Die Arbeit am Gottesbegriff hat also viele Baustellen.

Um dem zunehmenden religiösen Analphabetismus bei Gläubigen, Halb- und Ungläubigen gegenzusteuern, hat der Bestsellerautor Manfred Lütz "eine kleine Geschichte des Größten" vorgelegt, die theologische Fachsprache vermeidet, um einen breiten Adressatenkreis zu erreichen (Gott. Eine kleine Geschichte des Größten, München 2007). Er will eine verbreitete Gottvergessenheit aufstören und daran erinnern, dass die Frage nach Gott von existenziellem Gewicht ist. Weder ein frömmelnder Glaube, der nur aus Konvention praktiziert wird, noch ein saturierter Salon-Atheismus, der sich letzten Fragen gar nicht erst stellt, werde dem Thema "Gott" gerecht. In der Tat finden die Fragen: Woher komme ich? Wer bin ich? Wohin gehe ich? im Horizont des Gottesglaubens eine andere Antwort als in atheistischen oder agnostischen Weltdeutungsentwürfen.

Lütz räumt ein, dass der Zugang zu Gott heute vielfach verstellt ist. Er referiert die gängigen Einwände der Religionskritik und versucht, selbst Zugänge zum Gottesglauben zu bahnen. Dabei legt er besonderen Nachdruck auf die Dimension des Ästhetischen. Musik, Kunst oder Literatur können selbst eingefleischte Materialisten ahnen lassen, dass Materie nicht alles ist. Bachs Matthäuspassion mag kein Gottesbeweis sein, aber sie kann einen Agnostiker, der Ohren hat zu hören, in seinem Agnostizismus produktiv verunsichern. Lütz spricht über das unverkrampfte Verhältnis von Kindern zur Gottesfrage, diskutiert nicht ohne Polemik Defizite des Religionsunterrichts, konstatiert eine weitgehende Verdrängung der Religion bei Psychologen und erörtert - mitunter etwas salopp - den Gott der Wissenschaftler und Philosophen.

Allerdings gelingt es ihm, den Fall Galilei und den Streit um Darwin jenseits aller medialen Aufbauschung auf einen sachlichen Kern zurückzuführen. Den Hauptakzent legt er auf das biblische Gottesverständnis. Gott ist lebendig, es gibt Menschen, die ihm begegnet sind. Lütz verfügt über die Kunst, die biblischen Geschichten dieser Gottesbegegnungen ansprechend zu erzählen - und er hört bei der Bibel nicht auf, wenn er immer wieder auf Biographien verweist, die durch die Wirklichkeit Gottes umgestülpt wurden. Konversionen, aber auch aus dem Glauben resultierender Widerstand gegen politische Ideologien zeigen, dass der christliche Gott kein toter Begriffsgötze, sondern eine lebendige Wirklichkeit ist.


Die negative Theologie hat eine unverkennbare Affinität zum spätmodernen Gefühl

Wie aber kann man von dieser lebendigen Wirklichkeit angemessen sprechen? Das Wort "Gott" ist historisch belastet und häufig politisch missbraucht worden. Mit der Frage, wie man nicht über Gott sprechen kann, ist das Programm der negativen Theologie angezeigt (vgl. den Sammelband: Alois Halbmayer/Gregor Maria Hoff [Hg.], Negative Theologie heute? Zum aktuellen Stellenwert einer umstrittenen Tradition, Freiburg 2008). Gegenüber einer allzu affirmativen Gottesrede, die Kategorien aus der menschlichen Erfahrungswirklichkeit direkt auf Gott überträgt, erinnert sie an eine Grenze: Endliche Sprache reicht nicht aus, um den Unendlichen zu bezeichnen.

Die geläufige Strategie, Attribute aus dem menschlichen Erfahrungsbereich aufzunehmen (via affirmativa), sie dann mit dem Vorbehalt der Endlichkeit zu versehen (via negativa), um sie schließlich in gesteigerter Form doch von Gott auszusagen, trägt der Einsicht Rechnung, dass sich Begriffe am Unbegreiflichen leicht vergreifen: Si comprehendis, non est Deus (Wenn du ihn versteht, dann ist er nicht Gott). Negative Theologie hat, worauf Halbmeyer und Hoff in ihrem Vorwort verweisen, eine unverkennbare Affinität zum spätmodernen Gefühl der Abwesenheit Gottes, das nicht nur in der Literatur, sondern auch im philosophischen Diskurs des ausgehenden 20. Jahrhunderts artikuliert worden ist.

Adornos Negative Dialektik, die von Versöhnung nicht schweigen will, ohne sie in positive Kategorien fassen zu können, Derridas Denken der différance, das affirmative und negative Sinnzuschreibungen gleichermaßen unterläuft, aber auch Levinas' Philosophie der Alterität sind von einer Reserve gegen ein fixierendes Identitätsdenken geleitet und lassen eine Nähe zum biblischen Bilderverbot erkennen. Die Ästhetik der Anwesenheit, die von Botho Strauß mit der provozierenden These verbunden wurde, die "Mitternacht der Abwesenheit" sei überschritten, wird als gleichsam kontrapunktische Herausforderung nicht eigens gewürdigt.

Schon die biblische Gottesrede ist von einer eigentümlichen Spannung zwischen An- und Abwesenheit, Präsenz und Entzug gekennzeichnet. Die Geschichte vom brennenden Dornbusch zeigt dies, in der sich Gott als "Ich bin der, der ich sein werde" (Ex 3,14) offenbart. Diese Namensoffenbarung enthält ein Versprechen, das auf die offene Dynamik der Bundesgeschichte verweist, die menschlich weder erzwingbar noch vorwegnehmbar ist. Das biblische Bilderverbot reklamiert diese Unverfügbarkeit des frei handelnden Gottes. Eine negative Theologie, die sich vorbehaltlos in die Spuren der neuplatonischen Tradition einschreibt und das Göttliche als das Überseiende, Undarstellbare und Unaussagbare feiert, droht diesen Geschichtsbezug Gottes und die Bestimmungen, die damit verbunden sind, zu verfehlen.

Daher votieren Magnus Striet (freiheitstheologisch) und Thomas Schärtl (sprachanalytisch) dafür, die Unsagbarkeitsthese offenbarungstheologisch zu domestizieren. Andere - wie Hildegund Keul - insistieren darauf, dass das unbegreifliche Geheimnis Gottes die Möglichkeiten menschlichen Begreifens prinzipiell überschreitet. Gerade das Verstummen vor dem Unsagbaren verlange nach Ausdruck. Die Mystik des Mittelalters und der frühen Neuzeit bietet ja eindrückliche Beispiele für das ergriffene Schweigen vor dem Unbegreiflichen. Von bestimmten Erfahrungsorten her werden hier Sprachpraktiken ausgebildet, über die Grenzen des Sagbaren hinaus den Saum des göttlichen Geheimnisses zu berühren. Das Wächteramt der negativen Theologie ist demgegenüber überall da gefordert, wo Gott funktionalisiert und für bestimmte Interessen - kirchliche oder politische - in Dienst genommen wird. Ideologiekritik ist eine ihrer vornehmsten Aufgaben (Alois Halbmayr).


Die Forcierung negativer Theologie steht unverkennbar in einer gewissen Spannung zu den biblischen Offenbarungszeugnissen. Hier bleibt Gott nicht einfach der ganz Andere und Welttranszendente. Er kommt geschichtlich nahe und teilt sich mit. Negative Theologie, die dieses Mitteilungsgeschehen ernst nehmen will, hat daher die Aufgabe, die rechte Balance zu finden. So lassen sich aus dem polyphonen Diskurs über negative Theologie die folgenden Eckpunkte festhalten: Weder darf durch die Betonung der radikalen Unbestimmbarkeit Gottes seine geschichtliche Selbstbestimmung zurückgenommen und der inkarnatorische Grundzug seiner Offenbarung verraten werden. Noch kann der theologische Hinweis, dass Gott sich im Fleisch Jesu Christi selbst mitgeteilt hat und in der Sendung seines Geistes verborgen gegenwärtig bleibt, als Legitimation herangezogen werden, Gott einlinig in den theologischen Begriffskosmos zu überführen.

In der Tat liegt die Provokation der biblischen Erzählungen darin, dass sie von Gott nicht abstrakt, sondern anstößig konkret reden. Er ist ein Gott, der in der Geschichte handelt, dem das Tun und Lassen der Menschen nicht gleichgültig ist, der zürnt und straft, aber auch Barmherzigkeit walten lässt und rettet.


Auseinandersetzung mit den Thesen von Jan Assmann

Dass sowohl der Monotheismus Israels als auch die philosophische Gotteslehre der Antike Quellen sind, die in die christliche Gottesrede einfließen, hat zuletzt Gunther Wenz vorbildlich herausgearbeitet (Gott. Implizite Voraussetzungen christlicher Theologie [Studium Systematischer Theologie, Band 4], Göttingen 2007). Unter Rückgriff auf exegetische Studien zeigt er, dass der Monotheismus Israels selbst das Produkt einer vielschichtigen Entwicklung ist, die vom Polytheismus über die vorexilische Jahwe-Monolatrie bis hin zum Tora-Monotheismus führt.

Dabei kommt dem Babylonischen Exil besondere Bedeutung zu: Hier bricht die Einsicht in die Einzigkeit und Universalität JHWHs durch. Die Katastrophe des Exils wird nicht als Schwäche JHWHs gedeutet, sondern als gerechtes Gericht über das Volk, das den Bund gebrochen hat. Mit dem Monotheismus Israels ist zugleich eine hochstehende Ethik verbunden, die im Dekalog ihren paradigmatischen Ausdruck gefunden hat. Vor diesem Hintergrund setzt sich Wenz kritisch mit Jan Assmanns These auseinander, dass die mosaische Unterscheidung zwischen dem wahren Gott und den falschen Götzen mehr Unglück als Glück über die Menschheit gebracht habe.

Assmann geht davon aus, dass sich im Monotheismus Israels ein gedächtnisgeschichtlicher Nachhall jener Revolution findet, die Echnaton im 14. Jahrhundert v. Chr. in Ägypten durchgeführt hat. Anders als Echnaton, der seinem Monotheismus eine kosmotheistische Fassung gab, dulde der Alleinverehrungsanspruch JHWHs, der für den mosaischen Monotheismus wesentlich ist, keine Fremdgötterverehrung. Der Eifer für den Herrn, der Idolatrie als Sünde ablehnt, befördere ein problematisches Freund-Feind-Denken.

Wenz hebt demgegenüber darauf ab, dass die mosaische Unterscheidung zwischen Gott und Götzen zugleich die Differenz zwischen göttlicher Gerechtigkeit und menschlicher Sünde festhalte. Die systematische Pointe dieser Unterscheidung bestehe darin, dass sie nicht nur für die Völker, sondern auch für Israel selbst gelte. Noch im staatlichen Untergang erweise die mosaische Unterscheidung ihre Deutungskraft, indem sie die Niederlage als gerechtes Gericht Gottes über sein abgefallenes Volk verstehen lehrt. Assmanns Ansinnen verkennt überdies, dass der reflektierte (nach-)exilische Monotheismus die Vorstellung eines gewaltsam für sein Volk eintretenden Gottes hinter sich lässt (vgl. zur Diskussion auch Peter Walter [Hg.], Das Gewaltpotential des Monotheismus und der dreieine Gott, Freiburg 2005).


Gerade der Durchbruch zum Monotheismus bietet aber auch Gesprächsmöglichkeiten mit der griechischen Philosophie, die seit den Vorsokratikern an einer kritischen Entlarvung des Mythos interessiert ist. In der Abwehr des Polytheismus besteht ein gemeinsames Aufklärungsinteresse zwischen biblischem Monotheismus und griechischem Gottdenken. Die Weichenstellungen, die im Gespräch zwischen Jerusalem und Athen vorgenommen wurden, sind daher ein zentrales Thema heutiger Gotteslehre (vgl. Walter Kasper, Der Gott Jesu Christi, Freiburg 2007; Jürgen Werbick, Gott verbindlich. Eine theologische Gotteslehre, Freiburg 2007).

Deutungsmodelle, die von einer hellenisierenden Verfälschung des Evangeliums oder einer organischen Synthese von biblischem und griechischem Denken sprechen, dürften dem komplexen Aneignungsprozess nicht gerecht werden, der in der Epoche der Patristik geleistet wurde. Sachgerechter erscheint eine Deutung nach dem Modell einer Anknüpfung im Widerspruch. Die Anknüpfung wird erleichtert durch die Tendenz des philosophischen Gottesbegriffs zur Einheit. Gegen den polytheistischen Volksglauben kann sich der biblische Ein-Gott-Glaube mit dem philosophischen "Monotheismus" verbünden. Und erst einem Gott, der alles, was ist, aus dem Nichts geschaffen hat, können die Attribute der Allmacht und Freiheit uneingeschränkt zugeschrieben werden. Die biblisch bezeugte Freiheit und Geschichtsmächtigkeit Gottes widerspricht allerdings der Notwendigkeit und Ungeschichtlichkeit des philosophischen Gottesbegriffs. Dass der ewige unendliche Gott sich in der Geschichte engagiert, ja im Leben und Sterben eines endlichen Menschen geoffenbart haben soll, das ist im hellenistischen Denken nicht konzipierbar.


Rückfragen an die Kategorien der Vaterschaft und der Allmacht

Die heutige Arbeit am Gottesbegriff kann diesen vielschichtigen Aneignungsprozess nicht übergehen, wenn sie ihrer wohl wichtigsten Aufgabe nachkommen will, das Bekenntnis zu Gott, dem allmächtigen Vater, hermeneutisch zu erschließen. Die Attribute der Unveränderlichkeit und Apathie Gottes, die von der philosophischen Gotteslehre eingebracht werden, sind vom biblischen Gottesgedächtnis her modifizierungsbedürftig, wenn die Ohnmacht Jesu am Kreuz als Offenbarung ernstgenommen werden soll.

Zugleich wollen die Rückfragen an die Kategorien der Vaterschaft und der Allmacht beachtet sein, die aus dem heutigen Erfahrungshorizont erwachsen. So steht der Verdacht im Raum, männliche Omnipotenzphantasien würden hier leichtfertig in den Gottesbegriff eingetragen. Die soziologische Erosion des Vaterbildes, aber auch die feministische Kritik an patriarchalen Herrschaftsstrukturen erschwert den Zugang zur überlieferten Gottesrede. Allerdings ist Vater ein Urwort der Kultur- und Religionsgeschichte, dem nach Walter Kasper vor allem zwei Funktionen zukommen: Zum einen wird die Rede vom Vatergott genealogisch-mythologisch verstanden: Er ist der Erzeuger und Ernährer alles Lebendigen. Zum anderen stützt der Vatergott in patriarchalen Gesellschaften die Autorität des Hausherrn in der Familie.

Der biblische Sprachgebrauch übernimmt beide Motive, transformiert sie aber dadurch, dass er die Vaterschaft Gottes von der naturhaften Abstammung abkoppelt und in der freien Erwählung verankert. Gott ist der Vater, die Israeliten seine Söhne und Töchter. Vom Bundesmotiv her werden die Linien auf die Schöpfung und die Vollendung hin ausgezogen. Der Gott, der Israel seine befreiende Nähe zusagt, ist der freie Urheber aller Wirklichkeit und Vater des Lebendigen, zugleich wird er die begonnene Bundesgeschichte trotz aller Rückschläge vollenden und das verheißene Reich des Friedens und der Gerechtigkeit aufrichten.

Diese Notizen zum biblischen Verständnis der Vaterschaft, die in der Verkündigung Jesu radikalisiert werden, sind für die theologische Deutung des Allmachtattributs wichtig - für die der Geschichtsbezug wesentlich ist. Die ontologische Rede vom Sein Gottes droht die biblische Rede des Mit-uns- und Für-uns-Seins Gottes zu unterlaufen. Daher hat Kasper vorgeschlagen, Gott nicht mehr im Horizont metaphysischer Gotteslehre als vollkommene Substanz, sondern im Horizont neuzeitlichen Freiheitsdenkens als vollkommene Freiheit zu denken. Es gehöre zum Wesen Gottes, auf das andere seiner selbst bezogen zu sein.


Diese Anregung ist von Thomas Pröpper und seinen Schülern systematisch entfaltet worden. Aber auch Jürgen Werbick hat sie in seiner Gotteslehre aufgenommen, die den wohl bedeutendsten Neuentwurf zum Thema darstellt und religionsphilosophische, fundamentaltheologische und dogmatische Fragestellungen gleichermaßen behandelt. Im Zentrum der teils weit ausholenden Gedankengänge Werbicks steht das Motiv der Beziehungswilligkeit und Beziehungsmacht Gottes. Im Lichte dieses Motivs wird auch die Rede von der Allmacht näher konturiert.

Zunächst steht allerdings die Rückfrage im Raum: Wenn Gott die Macht hat, alles zu tun, warum greift er angesichts der barbarischen Exzesse in der menschlichen Freiheitsgeschichte nicht ein und beendet das Leid? Geradezu klassisch hat Hans Jonas diesen Einwand gegen die Rede von einem allmächtigen und zugleich guten Gott in seinem Vortrag "Der Gottesbegriff nach Auschwitz" formuliert, mit dem sich Werbick in einer problemsensiblen Relektüre auseinandersetzt. An der Güte und Verstehbarkeit Gottes will Jonas festhalten, der Allmacht aber müsse angesichts der Shoa der Abschied gegeben werden. Nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte, habe Gott nicht eingegriffen. Damit wird die Theodizeefrage beantwortet, da ein ohnmächtiger Gott nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann. Aber der Preis für diese Antwort ist hoch, da von einem solchen Gott die Vollendung der Welt nicht erwartet werden kann.

An der Verstehbarkeit Gottes aber will auch Werbick entschieden festhalten - und er schreitet zur Vergewisserung die biblischen und theologiehistorischen Stationen des Problems noch einmal sorgfältig ab. Die biblische Metapher der Macht meine nicht ein abstraktes Alleskönnen im Sinne der Omnipotenz und könne nicht mit dem voluntaristischen Konstrukt eines Willkürgottes gleichgesetzt werden. Von der Macht Gottes sei biblisch immer konkret im Blick auf bestimmte Beziehungsverhältnisse die Rede. Selbst die sperrige Rede vom leidenschaftlich eifernden und zornigen Gott ziele letztlich auf die Heilung gestörter Beziehungsverhältnisse.

Statt die anstößige und oft heterogene Gottesrede der Bibel nach Kriterien der philosophischen Gotteslehre zu domestizieren, lässt sich Werbick beim Bedenken der Allmacht vom Spannungsreichtum der biblischen Metaphern leiten. So wird etwa die Metapher vom geduldigen Tragetier (vgl. Jes 46,3) von Werbick so für die Bestimmung des Allmachtsbegriffs fruchtbar gemacht: Gott ist ein Gott, der durch die persuasive Macht seiner Liebe die freie Einstimmung der Menschen erreichen will, ohne gleichsam die Geduld zu verlieren und sie zu überwältigen.


In der trinitarischen Kreuzestheologie des 20. Jahrhunderts hat man von einem freiwilligen (Mit-)Leiden der göttlichen Liebe gesprochen und eine gewisse Mitbetroffenheit des Vaters am Leiden des Sohnes ausgesagt. Theologen wie Jürgen Moltmann und Hans Urs von Balthasar haben die innertrinitarischen Voraussetzungen für den geschichtlichen Selbsteinsatz Gottes zu identifizieren versucht und dabei kühn von einem Leiden beziehungsweise einer Ur-Kenose in Gott gesprochen.

Werbick will sich diesen Versuchen nicht anschließen, er hegt den Verdacht, hier werde das Leiden allzu unvorsichtig in den Gottesbegriff eingetragen. Er selbst beschreitet daher einen Mittelweg zwischen einem strikten Verständnis der Apathie, das jedes geschichtliche Affiziertsein Gottes ausschließt, und einer pathischen Rede von Gott, welche das Leiden gnostisch zu universalisieren droht. Dabei lässt er sich von der Entäußerungsmetapher leiten, die im Philipper-Hymnus nicht auf Gott, sondern auf Jesus Christus bezogen wird. Die Rede von der Selbstentäußerung Christi aber hat nach Werbick ihre Pointe darin, das geschichtliche Mitgehen Gottes bis in die äußerste Situation des Leidens auszusagen. In diesem kenotischen Mitgehen Gottes aber liege die Hoffnung, dass Gott die Erniedrigung der Leidenden und Zerstörten mit sich selbst erfüllen könne. Anders als bei Jonas gibt Gott seine Handlungsfähigkeit im Akt der Identifikation nicht preis. Allerdings verlangt Gottes Entschluss, die Menschen als Adressaten seiner Liebe zu wollen, ihm das Äußerste ab, damit das Projekt der Schöpfung und der Geschichte nicht scheitert.


Die Allmacht Gottes im Licht seiner Güte

Es gehört zu den Stärken der Werbickschen Theologie, die eigene Denkbewegung immer wieder zu unterbrechen und mit Rückfragen zu konfrontieren. So gibt er dem Einwand Raum, ob die Rede von Gottes Beziehungswilligkeit, die sich auch im äußersten Leiden bewährt, nicht leichtfertig über die Abgründe der Geschichte hinweggeht. Wäre es nicht angemessener, auf die dunklen Seiten Gottes zu verweisen und die Nichtverstehbarkeit Gottes ratlos einzugestehen? Mit Kierkegaard könnte man auf die Geschichte der Bindung Isaaks verweisen. Abraham, das Vorbild des Glaubens, wurde in die dunkle Nacht des Nichtverstehenkönnens geführt, um durch die verstörende Probe hindurch die Treue Gottes zu seinen Verheißungen neu erfahren zu dürfen.

Aber was bedeutete dies im Blick auf Auschwitz? Kann das Geschick der Juden als Probe verstanden werden? Und würde das Ausbleiben der rettenden Intervention nicht zeigen, dass Gott in diesem Fall seinen Verheißungen - aus welchen Gründen auch immer - nicht entsprochen hat? Hier gibt es wohl nur noch die ungetröstete Rückfrage an Gott, die Klage, den Schrei - Kategorien, die für eine theodizee-empfindliche Theologie leitend sind (vgl. Johann Baptist Metz und Johannes Reikerstorfer, Memoria passionis, Freiburg 2006). Aber selbst die Klage drängt, wie Werbick zu Recht vermerkt, noch einmal auf Antwort. Auch sie ist von dem hermeneutischen Interesse geleitet, dass Gott die Barrieren des Verstehens hinwegnehme und sich erkläre.

Werbick setzt daher noch einmal neu an und bestimmt die Allmacht Gottes im Licht seiner Güte. Auf Kierkegaards Spuren definiert er Allmacht als das Vermögen, sich selbst zurückzunehmen, um andere Freiheit sein zu lassen und ins Eigene freizusetzen. Gott will die Beziehung zum anderen seiner selbst, er will Mitliebende, gerade darum ist jede Semantik der Überwältigung vom Allmachtsbegriff fernzuhalten. Die Allmacht Gottes ist gewissermaßen die Geduld seiner Liebe, unendlich warten zu können. Diesen Gedanken von Hansjürgen Verweyen (Gottes letztes Wort, 3. Aufl., Regensburg 2000, 360f.) nimmt Werbick nicht auf, auch wenn er sich vom Duktus seiner Überlegungen geradezu aufdrängt.

Wie aber kann die Rede von der Beziehungswilligkeit Gottes auf die abgründige Schuld- und Leidensgeschichte bezogen werden? Behutsam lotet Werbick das eschatologische Sinnpotenzial aus, das im Motiv der kreativen Macht der Liebe Gottes enthalten ist. Er weist darauf hin, dass Gott sich der Vergangenheit noch einmal zuwenden muss, wenn die Leiden der Opfer nicht vergessen und die Verbrechen der Täter nicht einfach annulliert werden sollen. Es kann bei zerrütteten Beziehungsverhältnissen jedoch nicht um einen Rollentausch gehen, der aus Tätern Opfer und aus Opfern Täter macht. Vielmehr müsste es, wie Werbick tastend formuliert, darum gehen, "dass die Täter in der Identifikation mit ihren Opfern ihr Täter-sein tatsächlich revidieren, es umkehren; darum, dass sie so verinnerlichen, was sie diesen zugefügt haben, und darum, dass es den Opfern möglich wird, zu vergeben, was ihnen nicht zurückgegeben werden kann" (511).

Diese Hoffnung, dass das Unvergebbare doch vergeben werden kann und Versöhnung durch die Kreativität der Liebe möglich ist, sinkt nur dann nicht auf das Niveau einer billigen Harmonisierung dissonanter Freiheitsverhältnisse herab, wenn das Gericht die Wahrheit der Geschichte aufdeckt. Nicht im Überspringen, sondern im schmerzlichen Durchgang durch diese Wahrheit allein kann Versöhnung Wirklichkeit werden.

Jürgen Werbicks Gotteslehre, welche das Motiv vom beziehungswilligen und beziehungsmächtigen Gott in einem abschließenden Kapitel auch trinitätstheologisch auslotet, mündet am Ende ein in ein Gebet. Das mag im akademischen Kontext gewagt erscheinen, liegt aber ganz im Duktus einer Denkbewegung, die das Motiv der Beziehung theologisch profiliert. So findet die wissenschaftliche Rede von und über Gott, die immer in Gefahr steht, zu einem gelehrten Glasperlenspiel zu werden, am Ende zu ihrem Ausgangspunkt zurück: der Rede zu und mit Gott.


Die Arbeit am Gottesbegriff kennt weitere Baustellen: etwa das Gespräch zwischen den Religionen, das in einer globalisierten Welt immer wichtiger wird. Vor allem im Gespräch zwischen Christentum, Judentum und Islam gilt es, Gemeinsamkeiten, aber auch Differenzen des jeweiligen Gottesverständnisses klar herauszuarbeiten (vgl. Karl-Josef Kuschel, Juden, Christen, Muslime. Herkunft und Zukunft, Düsseldorf 2007). In der philosophischen Landschaft ist partiell eine neue Aufgeschlossenheit für Themen der Religion zu beobachten, die theologisch konstruktiv und kritisch aufgenommen zu werden verdient. Die Herausforderungen, die aus den Anfragen der Naturwissenschaft an den Gottesglauben erwachsen, wären ein weiteres Feld. In jedem Fall aber wird eine Theologie, die dem biblischen Gottesgedächtnis treu bleibt, sich der semantischen Diffusion des Gottesbegriffs widersetzen und daran erinnern, dass Gott sich selbst in der Geschichte als ein Gott der Menschen bestimmt hat. An diese Erinnerung ist eine Hoffnung gebunden, über die hinaus Größeres nicht erhofft werden kann.


Jan-Heiner Tück (geb. 1967) ist außerplanmäßiger Professor am Institut für systematische Theologie der Universität Freiburg, Schriftleiter der Internationalen Katholischen Zeitschrift "Communio"; jüngste Veröffentlichung: Gabe der Gegenwart. Theologie und Dichtung der Eucharistie bei Thomas von Aquin, Freiburg 2009.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
63. Jahrgang, Heft 12, Dezember 2009, S. 623-
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Januar 2010