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STANDPUNKT/363: Kirche oder Kult? - Die Religionsgemeinschaft der Mormonen (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 12/2011

Kirche oder Kult?
Die Religionsgemeinschaft der Mormonen

Von Michael Utsch


Der bislang aussichtsreichste republikanische Kandidat für die US-amerikanische Präsidentschaftswahl ist Mitt Romney, ein Mormone. Diese weltweit verbreitete, im 19. Jahrhundert von den Amerikaner Joseph Smith gegründete Religionsgemeinschaft sieht sich selbst als christliche Kirche. Die Neuoffenbarungen von Joseph Smith widersprechen aber an zentralen Stellen dem christlichen Glauben.


Im Vorfeld der amerikanischen Präsidentschaftswahlen ist in den USA ein heftiger Streit darüber entbrannt, wie die neureligiöse Gemeinschaft der Mormonen eingeschätzt werden soll. Mitt Romney gilt derzeit als aussichtsreichster Präsidentschaftskandidat der Republikaner, um im November nächsten Jahres gegen Barack Obama anzutreten. Allerdings war Romney früher zweieinhalb Jahre als Mormonen-Missionar und später als Bischof in dieser Kirche tätig. Deshalb steht zur Diskussion, ob ein Mormone amerikanischer Präsident werden kann. Sind Mormonen, die sich selber als die "Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage" bezeichnen, theologisch als christliche Geschwister oder faktisch eher als Anhänger eines neureligiösen Kults zu bewerten?


Der Mormonismus hat sich im Laufe seiner kurzen Geschichte bereits in zahlreiche Untergruppen aufgespalten. Der größte und in Europa bekannteste Zweig dieser Familie von Religionsgemeinschaften ist die "Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage". So lautet die komplette Selbstbezeichnung dieser Mormonen, die sich selber als eine christliche Glaubensgemeinschaft verstehen. Aber schon in der Anfangsphase dieser neureligiösen Bewegung kam es zu internen Spaltungen und zu Konflikten mit der Bevölkerung, die 1844 in dem Lynchmord des inhaftierten 39-jährigen Religionsgründers Joseph Smith gipfelten.

Die verfolgte Glaubensgemeinschaft wanderte mit einem legendären Treck in den Mittleren Westen der USA aus und ließ sich in der Ebene des Großen Salzsees nieder. Dort entstand ein großes mormonisches Gemeinwesen, das später als Bundesstaat Utah Teil der Vereinigten Staaten wurde. Vorbedingung war allerdings, dass der damalige Kirchenpräsident die konfliktträchtige Vielehe im Jahr 1890 abgeschafft hatte. Heute lebt diese Praxis nur noch in kleinen mormonischen Splittergruppen fort. In Utah bekennen sich bis heute über 60 Prozent der Bevölkerung zum mormonischen Glauben.


Ein Blick in die Geschichte

Der Mormonismus geht auf den Amerikaner Joseph Smith (1805 bis 1844) zurück. In einem abenteuerlichen, sich über zehn Jahre erstreckenden Prozess von Visionen und einer zweifelhaften "Übersetzung" unbekannter Schriftzeichen auf angeblichen Gold- und Messingplatten will Smith neue Offenbarungen von Gott Heilsplan mit den Menschen erhalten haben, die er im Buch Mormon niederschrieb. Darin wird das Wirken Jesu Christi bei den Menschen auf dem amerikanischen Kontinent geschildert, wo er kurz nach seiner Auferstehung tätig gewesen sein soll. Im Buch Mormon wird Amerika als auserwähltes Land und Ort göttlichen Heilshandelns beschrieben. Nach seiner Auferstehung sei Christus nach Amerika gekommen und habe dort gelehrt und eine Kirche gegründet. In Amerika wird auch das Paradies vermutet, und die Wiederkunft Christi soll sich ebenfalls jenseits des Atlantiks ereignen. Neben der Bibel gilt das Buch Mormon in dieser Glaubensrichtung als ein weiteres Zeugnis für Jesus Christus, das zusätzliche Erkenntnisse über den Heilsplan Gottes mit den Menschen enthülle.


1830 wurde das Buch "Mormon" des damals 24-jährigen Joseph Smith in einer Auflage von 3000 Exemplaren gedruckt und die erste Mormonenkirche gegründet. Durch intensive missionarische Bemühungen verbreitete sich die Gemeinschaft in aller Welt. Erste Mormonen gab es in Deutschland schon um 1850. Sowohl die Nazi- als auch die DDR-Zeit konnten die Mormonen bis auf Einschränkungen in der Missionsarbeit unbeschadet überstehen. Heute werden die Veröffentlichungen der Religionsgemeinschaft in 150 Sprachen übersetzt.

Obwohl die Kirche ihre Heimat in den USA hat und ihre Glaubenskultur unverkennbar amerikanisch geprägt ist, berichtet die Kirchenleitung stolz, dass seit über 10 Jahren mehr Mitglieder außerhalb der Vereinigten Staaten als innerhalb ihrer Grenzen anzutreffen seien. Nennenswertes Wachstum kann die Kirche allerdings nur in Asien und Afrika verzeichnen - in Deutschland stagniert ihre Mitgliederzahl von etwa 38.000 seit einigen Jahren.

Die junge Glaubensgemeinschaft der Mormonen versteht sich als Neugründung der christlichen Urgemeinde. Nach Meinung der Mormonen haben die Kirchen über die Jahrhunderte das ursprüngliche Evangelium verfälscht, insbesondere weil sie das Priestertum vernachlässigt hätten. Nach mormonischer Überzeugung benötigen die Kinder Gottes Priester und Propheten, die in Vollmacht das Evangelium lehren und Segnungen Gottes weitergeben können. Auch Jesus Christus habe seine Kirche gegründet und organisiert, indem er Apostel berief und sie ordiniert habe. Zur Errichtung seiner Kirche habe er ihnen die Priestertumsvollmacht übertragen, nämlich in seinem Namen zu lehren und zu taufen.

Nach dem Tod der Apostel sei jedoch die Priestertumsvollmacht von der Erde genommen worden, wozu nach mormonischer Überzeugung die Schlüsselkompetenz gehört, die Kirche zu führen und aktuelle Offenbarungen für sie zu empfangen. In seiner Jugend soll Smith unter der Vielfalt der verschiedenen Kirchen in seiner Heimat gelitten haben. Er wollte herausfinden, welche Kirche Recht habe. Auf sein inniges Gebet hin soll ihm Gott erschienen sein und ihn berufen haben, das gesamte Evangelium inklusive der Priestertumsvollmacht wiederherzustellen. Zur Wiederherstellung urgemeindlicher Verhältnisse sei Joseph Smith als Prophet und erster Ältester der wiederhergestellten Kirche berufen worden.


Die vom wahren Glauben abgefallene Christenheit

Nach mormonischem Verständnis gehören zur Bewahrung der lehrmäßigen Grundsätze des Evangeliums gesegnete Männer, die durch "heilige Handlungen" in ihre Leitungsverantwortung berufen und dafür ausgerüstet worden sind. Eine lebendige Kirche ist bei den Mormonen ohne vollmächtige Riten und Segnungen des Priestertums nicht denkbar. Dabei unterscheiden die Mormonen "Wiederherstellung" (restoration) von der Reformation. Reformieren bedeute, eine bestehende Organisation oder einen Brauch so zu verändern, dass es der ursprünglichen Form wieder näherkommt. "Wiederherstellen" hingegen bedeute, die Organisation oder den Brauch in ursprünglicher Form vollständig neu ins Leben zu rufen. Das ist sowohl Ziel als auch Anspruch der mormonischen Kirche.

Nach dem Tod der von Jesus berufenen Apostel sei die Christenheit vom wahren Glauben abgefallen. Infolge der Schlechtigkeit der Menschen und ihres Glaubensabfalls seien die apostolische Vollmacht und die Schlüssel des Priestertums von der Erde genommen worden. Erst im Jahre 1829 habe die Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen eine neue Wendung erfahren. Johannes der Täufer, der Jesus getauft hat, sei Joseph Smith erschienen und habe ihm das "aaronitische Priestertum" übertragen. Dieser Segen steht allen männlichen Mormonen offen, die damit taufen und das Abendmahl feiern können.


Eine theologische Besonderheit des mormonischen Glaubens besteht in der Vorstellung, dass Gott einen Teil seiner Vollmacht an würdige männliche Mitglieder der Kirche delegiert. Zu einem späteren Zeitpunkt seien Smith die drei ersten Apostel Jesu Christi, Petrus, Jakobus und Johannes erschienen. Diese hätten ihm das "melchisedekische Priestertum" übertragen, das höheren Rängen zu Leitungsaufgaben vorbehalten wird. Schon an der Bedeutung der Priestertumsvollmacht wird deutlich, dass es bei dieser Glaubensgemeinschaft nicht um eine Abspaltung von der christlichen Mutterreligion geht, sondern um eine synkretistische Neuoffenbarungsreligion.

Die Visionen und Berufungsgeschichten werden bis heute durch eine eindrückliche Bildersprache lebendig gehalten. Ähnlich wie bei Jehovas Zeugen drücken die lieblich anmutenden Zeichnungen im Stil der Heimatmalerei, die allen Publikationen und der Internetpräsenz eine besondere Prägung verleihen, einen innigen Frömmigkeitstypus aus.


Die Nachfolger von Smith werden ebenfalls als Propheten und Offenbarer angesehen, die auf Weisung des Herrn handeln und die Kirche führen. Zur Erlangung des Tempelscheins muss neben anderen die folgende Frage bejaht werden können: "Erkennen Sie den Präsidenten der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage als den Propheten, Seher und Offenbarer an? Erkennen sie ihn als den einzigen Menschen auf der Erde an, der alle Schlüssel des Priestertums inne hat und ermächtigt ist, sie auszuüben?" Heute ist als 16. Präsident der Kirche Thomas S. Monson (geb. 1927) tätig, dessen Arbeit von zwei Ratgebern und 12 Aposteln unterstützt wird. Einer seiner beiden Ratgeber ist der Deutsche Dieter F. Uchtdorf (geb. 1940).


Immerwährender Fortschritt

Kern des mormonischen Glaubens ist die Vorstellung, dass der Mensch die Möglichkeit zu einer enormen Weiterentwicklung verliehen bekommen hat. Nach mormonischer Anthropologie haben die Menschen früher in der jenseitigen Welt als Geister existiert. Um sich nach dem "Gesetz des immerwährenden Fortschritts" zu vervollkommnen, müssen sie sich auf die Erde begeben, um durch Prüfungen und Leiden geläutert zu werden. Durch Adams Übertretung verloren die Geister jedoch ihre Unsterblichkeit. Das wird von den Mormonen als heilsgeschichtliche Notwendigkeit angesehen, um auf dem Weg der Vervollkommnung vorwärtszukommen.

Nachdem die Menschen ihr Erdendasein durchlaufen und sich bewährt haben, sollen sie wie Gott werden können. Auch Gott unterstehe diesem Gesetz des Fortschritts. Gott selber habe sich früher auf dem Stand eines Menschen befunden und sich selber weiterentwickelt. Diesem Weg sollen die Menschen nachfolgen. Jesus sei von Gott Vater mit einer himmlischen Mutter gezeugt worden und sei neben dem Heiligen Geist ein besonders herausragendes Geistwesen. Dabei werden die göttlichen Personen als getrennt voneinander angesehen, die Vorstellung der Dreieinigkeit wird abgelehnt.


Das evolutionäre Fortschrittsprinzip setzt sich bei den Mormonen im Himmelreich fort. In ihrer Lehre werden die Verstorbenen nach dem Tod auf drei verschiedene, in der Fülle der Herrlichkeit abgestuften Reiche aufgeteilt - je nachdem, wie sich ihr Leben und ihre Beziehung zu Mormonenkirche gestaltet hat: in das telestiale (unterirdische), terrestiale (irdische) und celestiale (himmlische) Himmelreich. Die höchste Stufe der Selbst-Vervollkommnung und damit das celestiale Himmelreich ist alleine den Mormonen vorbehalten, die im Tempel heilige Handlungen empfangen haben.

Die mormonischen Tempel sind die heiligsten Stätten ihrer Mitglieder und nur für diese zugänglich. Sie sind aufwändig konstruiert und werden sorgfältig gepflegt. In den letzten Jahren sind viele neue Tempelbauten eingeweiht worden. Existierten 1980 weltweit erst 19 Tempel, erhöhte sich ihre Zahl bis zum Jahr 1995 auf 51. Heute sind weltweit 135 Mormonentempel in Betrieb und weitere 31 im Bau. 1985 wurde ein Tempel im sächsischen Freiberg eingeweiht, 1987 im hessischen Friedrichsdorf. Die im Tempel angebotenen heiligen Handlungen werden neben der Taufe (ab dem 8. Lebensjahr) als heilsnotwendig angesehen. Darunter fallen bestimmte Rituale, mit denen man teilweise an die Praxis im salomonischen Tempel anzuknüpfen glaubt. In ihnen werden Bündnisse für die Ewigkeit geschlossen.


Tempel sind im mormonischen Glauben Brücken zur Ewigkeit. An jedem Tempel steht in der Landessprache. "Das Haus des Herrn" sowie "Heilig dem Herrn". Als wichtige Kulthandlung ist auf das geheimnisvolle Einführungs- beziehungsweise Initiationsritual, das so genannte "Endowment" hinzuweisen. Obwohl die heiligen Handlungen strengster Geheimhaltung unterliegen, sind Sie von ehemaligen "Tempelarbeitern", also Amtierenden beim Ritual, an die Öffentlichkeit gelangt. Diese kultische Einweihung, auch "Ausstattung" oder "Begabung" genannt, ist eine feste Abfolge zeremonieller Handlungen.

Sie beginnt mit Waschungen und dem Anlegen einer speziellen Unterwäsche sowie dem Empfang eines neuen Namens. Im Verlauf des dramatisch inszenierten Rollenspiels, in dem das mormonische Verständnis von Schöpfung, Fall und dem Heilsplan Gottes dargestellt sind, werden heilige Zeichen und Handgriffe mitgeteilt, um sich im jenseitigen Reich den wachenden Engeln gegenüber erkennbar machen zu können.


"Siegelungen" für die Ewigkeit

Im Tempel können auch "Siegelungen" für die Ewigkeit vorgenommen werden. Eheleute lassen sich beispielsweise gerne aneinander siegeln. Dadurch wird eine ewig andauernde Partnerschaft in Aussicht gestellt. Ebenfalls werden Kinder an ihre Eltern gesiegelt. Nichtmormonische Gäste, die auch gerne an der Hochzeitsfeier teilnehmen möchten, werden in einem Vorraum des Tempels empfangen. Ein weiteres besonderes Ritual ist die Totentaufe. Weil nicht alle Menschen zu ihrer Lebzeit mormonische Segnungen empfangen konnten, können solche nachgeholt werden, wenn die genauen Daten vorliegen. Die Totentaufe mit Untertauchen in einem großen, von 12 Bronze-Ochsen getragenen Taufbecken wird stellvertretend von einem Gemeindeglied vollzogen. Mormonen gehen davon aus, dass auch im Totenreich die Möglichkeit einer freien Willensentscheidung für oder gegen den Glauben besteht.

Da nach mormonischer Überzeugung die Familienbindungen über den Tod hinausgehen, gehört es zu den religiösen Pflichten des Gläubigen, seine Vorfahren aufzuspüren, damit ihnen in Stellvertretung nachträglich die heilsnotwendige Taufe gespendet werden kann. Mit dieser stellvertretenden Taufe und auch mit nachträglichen Siegelungen haben die Toten Teil am allein rettenden mormonischen Glauben. Dies ist der Grund für die berühmte Ahnenforschung der Mormonen, die sie mit außerordentlichem Aufwand betreiben.


Der Zugang zum Tempel ist Außenstehenden verwehrt, weil sie ihn verunreinigen und entweihen würden. Bevor man den Tempel betreten darf, muss man mindestens ein Jahr würdiges Mitglied der Kirche sein. Danach kann man beim Ortsgeistlichen einen Tempelschein beantragen, der nach einer persönlichen Unterredung und Gewissensprüfung für zwei Jahre ausgestellt wird, dann aber wieder erneuert werden muss. In dem Gespräch zur Erlangung des Tempelscheins wird die moralische Integrität und religiöse Solidarität abgefragt. Was als seelsorgerliche Ermutigung verstanden werden kann, mag in Einzelfällen durchaus auch als Druck und Kontrolle empfunden werden.


Eine synkretistische Neureligion

Kann ein Mormone zum wichtigsten Mann Amerikas werden? In einem Zeitungsbericht wird der Schweizer Sektenexperte Georg Schmid zitiert: "Falls Barack Obama betet, betet er dafür, dass Mitt Romney gegen ihn antreten wird - denn in diesem Fall ist Obama so gut wie wiedergewählt". Wer als Republikaner Präsident der USA werden wolle, erläutert Schmid, brauche die Stimme der Evangelikalen. Aber viele Evangelikale hätten grundsätzliche Skepsis gegenüber einem mormonischen Präsidenten. Ein amerikanischer Prediger nannte die Glaubensgemeinschaft einen "Kult" und Romney einen "Nicht-Christen". In der Tat dürfte die Heilsnotwendigkeit geheimer Tempelrituale und die zentrale Bedeutung des Priestertums viele Evangelikale abschrecken, weil diese Praktiken mit der pietistischen Frömmigkeit kollidieren.


Allerdings gibt es wegen der hohen ethischen Standards selten Konflikte mit Kirchenmitgliedern der Mormonen. Anders als bei anderen christlichen Sondergemeinschaften wie etwa Jehovas Zeugen gibt es keine nennenswerten Aussteiger-Aktivitäten, die übergriffiges Verhalten, das Schüren von Endzeitängsten oder rigide Sozialkontrolle anprangern würden. Im Gegenteil: Die Konzentration auf die Familie als Keimzelle der Gesellschaft gilt vielen als vorbildhaft. In der Regel ist der Montag exklusiv für den "Familienabend" aller Mormonen reserviert. Im Kreise der Familie wird durch Spiele, Gesang und Lektüre der heiligen Schriften Gemeinschaft gepflegt. Auch auf das Bildungsniveau wird in Mormonenkreisen Wert gelegt. Als Arbeitnehmer sind Mormonen aufgrund ihres Fleißes und ihrer Zuverlässigkeit beliebt. Insofern passen sie in keiner Weise in das Bild einer konfliktträchtigen "Sekte".

Aus theologischer Perspektive stellt sich die Sachlage jedoch anders dar. Die Mormonen haben ein exklusives Heilsverständnis und keine ökumenische Vision. Seit 1992 wird etwa die mormonische Taufe von der Evangelischen Kirche in Deutschland nicht mehr als christliche Taufe anerkannt, was die meisten Kirchen im lutherischen Weltbund ebenso handhaben. Zuvor war die Taufe anerkannt worden, weil sie trinitarisch und mit Wasser durchgeführt wurde. Erst nach einer intensiveren Beschäftigung mit dem mormonischen Gottes- und Menschenbild wurde deutlich, dass die gravierenden Unterschiede keine Taufanerkennung zulassen. Die fehlende ökumenische Perspektive führt dazu, dass Nicht-Mormonen nicht als Gesprächspartner "auf Augenhöhe" angesehen werden - an ihnen wurden ja keine heiligen Handlungen vollzogen, weshalb ihnen die Segnungen des Priestertums fehlen.


Mit christlicher Theologie nicht vereinbar

Die mormonische Lehre ist - trotz vielfältiger Bezugnahmen auf Jesus Christus - mit christlicher Theologie nicht vereinbar. Aus Sicht der ökumenischen Kirchen sind die Mormonen keine christliche Kirche, aber auch keine Sekte oder ein konfliktträchtiger Kult, die sich von einer traditionellen Kirche abgespalten hat, sondern eine synkretistische Neureligion. Die Neuoffenbarungen von Smith widersprechen an zentralen Stellen dem christlichen Evangelium. Das spekulative Gottesbild sowie das evolutionäre Heilsverständnis gestatten keine gemeinsame ökumenische Zukunft.


Ob es Romney gelingt, einen großen Anteil der so wichtigen evangelikalen Wählerstimmen für sich zu gewinnen, bleibt abzuwarten. Es gibt Bemühungen neu-evangelikaler Gruppierungen, stärker mit den Mormonen zusammenzuarbeiten, was auf ethisch-moralischen Gebieten problemlos möglich ist und Synergie-Effekte mit sich brächte. Liberale neu-evangelikale Verantwortungsträger haben etwa das umstrittene Dokument "A common word" mit unterzeichnet, das weitreichende interreligiöse Eingeständnisse gegenüber dem Islam macht. Wenn ähnliche Brückenschläge zum Mormonismus erfolgten, wären die politischen Folgen erheblich.


Dr. Michael Utsch ist wissenschaftlicher Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin (www.ezw-berlin.de). Zu seinem Arbeitsgebiet zählen auch die christlichen Sondergemeinschaften. Jüngste von ihm herausgegebene Veröffentlichung: "Pathologische Religiosität: Genese, Beispiele, Behandlungsansätze" (Stuttgart 2012).


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
65. Jahrgang, Heft 12, Dezember 2011, S. 642-646
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. März 2012