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BERICHT/081: Shakti - Das weibliche Prinzip im Hinduismus (Frauensolidarität)


Frauensolidarität - Nr. 98, 4/06

Shakti - Das weibliche Prinzip im Hinduismus

Von Traude Pillai-Vetschera


Der Shaktismus ist, neben Shivaismus und Vishnuismus, die dritte wichtige Strömung innerhalb des Hinduismus. Während bei den ersten beiden männliche Gottheiten im Zentrum der Verehrung stehen, hat im Shaktismus die Große Göttin den ersten Rang inne und die Götter sind von untergeordneter Bedeutung. Im Folgenden wird ein überblicksmäßiger historischer Abriss über das weibliche Prinzip im Hinduismus geboten.


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Den Sanskrit-Wörterbüchern nach ist Shakti ein Wort mit verschiedenen Bedeutungen: Macht, (schöpferische) Kraft, Fähigkeit, Stärke, "das wirksamste Wort in einem heiligen Text oder einer magischen Formel" und noch viel anderes mehr. Im engeren religiösen Sinn ist Shakti "die Energie oder aktive Kraft einer Gottheit, die als seine Gemahlin personifiziert wird".

Die Uranfänge der Shaktiverehrung werden auf alte Fruchtbarkeitskulte und die im alten Indien große Bedeutung weiblicher Gottheiten zurückgeführt. Aus der Industalkultur und selbst aus noch viel weiter zurückliegender Zeit gibt es Funde von weiblichen Statuetten, die als Göttinnenidole gesehen werden. Die Verehrung des lebensspendenden weiblichen Prinzips ist durch die Jahrtausende von großer Bedeutung geblieben; das war der Nährboden, auf dem sich das Konzept der Shakti herausbilden konnte.

In den Schriften

Erste literarische Hinweise auf seine Entwicklung finden wir in den Schriften der Rg-Veda. Hier wird Indrani, die Gemahlin Indras, als Shaci bezeichnet, was soviel wie "Macht" oder "Kraft" bedeutet. Damit mag die Vorstellung des späteren Hinduismus von Shakti als der weiblichen, personifizierten Kraft einer (männlichen) Gottheit erstmals vorweggenommen sein.

In den Schriften der Brahmanas ist es dann die Göttin Vac, von der gesagt wird, dass sie die gesamte Vegetation durchdringt und belebt. Durch ihren Drang zum Schaffen nimmt die Schöpfung ihren Fortgang. Es gibt auch Textstellen aus denen hervorgeht, dass der eigentliche Schöpfergott Prajapati erst durch Vac oder durch seine Vereinigung mit ihr erschafft. D.h. der Mitwirkung der weiblichen Gottheit am Schöpfungsprozess wird zunehmend Bedeutung beigemessen.

Weiter ausgearbeitet wird das Shakti-Konzept in den Schriften der Puranas, doch erst ab etwa dem 6. oder 7. Jh. n. Chr. beginnt sich der Shaktismus als eigenständige Religion zu artikulieren. Der Schlüsseltext, der von den Shaktas (AnhängerInnen des Shaktismus) auch heute noch während der Rituale rezitiert wird, ist das Devi Mahatmyam. Das ist ein im Markandeya Purana enthaltenes Preislied auf die Göttin in mehreren ihrer Manifestationen. In diesem Text wird Shakti als eine, in Gestalt der Göttin verkörperte, mächtige Kraft beschrieben, ohne welche die männlichen Götter wirkungslos und schwach sind.

Die große Göttin

Sie, die Devi (Shakti), wird geschaffen aus dem "großen Licht", das aus den Gesichtern der versammelten erzürnten devas (Götter) entströmt. "Dann vereinte sich dieses einzigartige Licht, aus den Körpern aller devas geformt, das die drei Welten mit seinem Schein durchdrang, und nahm eine weibliche Form an" (DM Kap. 2, 12-13). D.h. die Devi löst sich gleichsam aus den männlich scheinenden, in Wahrheit aber androgynen Gottheiten heraus. Jede von diesen gibt ihr eine Waffe in die Hände. Sie erhält eine Rüstung, Juwelen, Lotusgirlanden und vom Berg Himavat (Himalaya) einen Löwen als Reittier. Als sie gerüstet und geschmückt ist, lacht sie und brüllt, "und alle Welten erzitterten, und die Meere bebten ..." So reitet sie als Durga in den Kampf gegen die Dämonen, gegen welche die Götter machtlos waren. Die Göttin in ihrer Rolle als Kriegskönigin ist geballte Energie - ein eindrucksvolles Bild, um die Idee von Shakti zu transportieren. Das Wesen der Devi erschöpft sich aber nicht in der Gestalt der Kriegerin. Im selben Text wird immer wieder auch gesagt, dass Durga selbst die ganze Erde ist. Sie ist der Ursprung aller Wesen, die sie wieder alle aus ihrem Körper nährt und erhält.

Parvati, Durga, Kali

Im Devi Mahatmyam wird erstmals auch das Konzept der Mahadevi (Große Göttin) deutlich formuliert, denn die Göttin tritt in mehreren Manifestationen auf. Dabei wird deutlich, dass eine aus der anderen hervorgeht. Parvati (mit diesem Namen wird die Gemahlin Shivas am häufigsten angesprochen) ist Durga, und aus Durga entspringt gleichsam als personifizierter Zorn der Göttin die blutdürstige Kali. Wenn eine Emanation ihre Aufgabe erfüllt hat, wird sie rückabsorbiert in die eine, große Göttin, die als mächtigstes handelndes Prinzip über allen Göttern steht.

Die theologische Basis des Shaktismus ist der Shivaismus. Es wird zwar manchmal auch in den Vaishnava-Schulen des Hinduismus der Gemahlin und damit der Shakti des Vishnu, Lakshmi, die wichtigste Rolle in der Erschaffung des Universums zugewiesen. In der Regel aber bleibt Vishnu unteilbar und nimmt höchstens als Mohini selber weibliche Gestalt an, um die Kräfte des Chaos zu bekämpfen. Anders im Shivaismus, dessen Erfolgsgeschichte sicher auch damit zu tun hat, dass er die Kulte der großen Mutter besser integrieren konnte. Bildhaft gesprochen teilt sich der androgyne Gott in seine männliche und weibliche Hälfte, in Shiva und Shakti. Die beiden aber sind unabdingbar miteinander verbunden wie die Sonne und ihr Licht, und sie vereinen sich wieder im ewigen Liebesakt (maithuna). Nur so kann die Schöpfung ihren Fortgang nehmen und können sich die Wesen vermehren.

Die Potenz des Handelns

Auf der abstrakten Ebene ist Shiva reiner Geist und Shakti seine Potenz mit den Fähigkeiten des Denkens, Erkennens, Wünschens und Handelns. Wenn sich die Welt manifestiert, ist sie die Schaffenskraft, während der männlich gedachte Gegenpol eher die Ruhe und Stille verkörpert. Die beiden Pole stehen in Interaktion, werden als interdependent gedacht und als mehr oder weniger gleichwertig. Wenn die Welt allerdings nicht besteht, existiert allein Shiva als reines Bewusstsein und seine Attribute sind überhaupt nicht vorhanden.

Es war v.a. der kaschmirische Shivaismus, welcher der Shakti große Bedeutung beimaß und damit zum Wegbereiter des Shaktismus wurde. In der Lehre des Shaktismus kehrt sich die Situation um. Hier wird die Shakti selbst zum Urgrund alles Seins, zur letzten Realität. Der männliche Aspekt spielt im Vergleich zu ihr eine untergeordnete Rolle. Shiva ist ohne die Shakti völlig hilflos, er wird zum "Leichnam", sie dagegen braucht ihn gar nicht, da sie selbst die große Schöpfungskraft ist. Der Prozess der Konsolidierung des Shaktismus als eigenständige Religion dauerte Jahrhunderte, ein großer Teil der Shakta-Texte entstand überhaupt erst zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert.

Tantrismus

Untrennbar mit Shaktismus verbunden ist Tantra, ein besonderer Weg zu Erkenntnis und Erleuchtung, in dem die weibliche Energie besondere Verehrung erfährt. In einigen Texten steht Radha aus dem Vishnu- Krishna-Zyklus im Mittelpunkt, meist aber auch hier die Gemahlin Shivas, die in verschiedenen Gestalten auftreten kann. Tantras sind belehrende Texte, oft in Dialogform zwischen dem Gott und seiner Shakti. Belehrt Shiva seine Gemahlin, so werden die Texte als Agamas bezeichnet, im umgekehrten Fall als Nigamas.

V.a. in den so genannten tantrischen Sekten der "linken Hand" wird die Shakti häufig in ihrem wilden Aspekt verehrt. Hier gehört zum Ritual, sich über die üblichen hinduistischen Vorschriften und Reinheitsgebote hinwegzusetzen - durch das Verletzen von Kastenschranken, den Konsum von Fleisch, Fisch und Alkohol, die Verehrung des weiblichen Organs und durch rituelle Sexualität. In der Vereinigung wird das Menschenpaar zum Gott und seiner Shakti und gleichzeitig zum Sinnbild für die menschliche Seele, welche die Vereinigung mit dem Göttlichen sucht.

In der hinduistischen Religion wird dem weiblichen Prinzip große Bedeutung beigemessen. Viele Gläubige sehen die Große Göttin als mächtiger und wirkungskräftiger an als die männlichen Gottheiten. Umso verwunderlicher mag es erscheinen, dass Frauen in Indien im Vergleich zu Männern eine so schlechte Stellung innehaben. Erst seit kurzer Zeit beginnt das Bewusstsein unter den Frauen zu wachsen, dass jede Frau Shakti besitzt - es wird aber wohl noch eine Weile dauern, bis dieses Wissen auch sichtbare Früchte trägt.


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Literatur:

Kinsley, D.:
Hindu Goddesses (Delhi 1987).

Mookerjee, A./Madhu Khanna:
The Tantric Way (London 2003).

Sir Monier Monier-Williams:
A Sanskrit-English Dictionary (Delhi 1976),

Stietencron, H.v.:
Der Hinduismus (München 2001).

Svami Jagadisvarananda:
The Devi Mahatmyam (Madras 1955). Abk.: DM.

Zur Autorin:

Traude Pillai-Vetschera ist Univ.-Dozentin am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie in Wien und Radioredakteurin bei Women on Air mit dem Schwerpunkt Kastenwesen und Genderthemen in Südasien.


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 98, 4/2006, S. 10-11
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
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Fon: 0043-(0)1/317 40 20-0, Fax: 0043-(0)1/317 40 20-355,
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