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BERICHT/103: Musik aus dem Alten Orient (Bibel heute)


Bibel heute
Zeitschrift des Katholischen Bibelwerks e.V. Stuttgart - Heft 3/2008

Musik aus dem Alten Orient
Heilige Brücke

Von Dr. Thomas Staubli


Die Wurzeln der abendländischen Kirchenmusik liegen im Alten Orient, genauer in der Levante, wo immer schon intensiv zwischen den Kulturen vermittelt worden ist. Syrer, Griechen und Armenier haben von dort eine Brücke Richtung Abendland gebaut.


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Der 1901 in Wien geborene und 1988 in New York verstorbene jüdische Musikwissenschaftler Eric Werner hat in einer Zeit, da man sich über die größtmögliche Entfremdung zwischen Juden und Christen ratlos die Augen rieb, in vielen Studien auf eine Brücke hingewiesen: auf die Klangweisen und Melodien, die Synagoge und Kirche teilen. Diese Musik hat tiefe Wurzeln im Alten Orient, speziell in Kanaan. Eine reich illustrierte Publikation aus dem Bibel+Orient Museum Freiburg/Schweiz erzählt davon (s. Literatur zum Thema, S. 28).


Völkerverbindende Musikfestivals

Von der brückenbauenden Funktion der Musik erzählt eindrücklich schon ein Relief aus dem Grab eines Beamten des berühmten Ketzerpharaos Echnaton. Es zeigt im oberen Register eine ägyptische Formation mit Harfen-, Lauten- und Leierspielerinnen und im unteren Register eine syrische Band mit mützenbedeckten Männern, die Leiern und Lauten mitgebracht haben. Nichts könnte den intensiven Austausch zwischen Ägypten und der Levante, nicht nur von Waren, sondern auch von Kultur und damit auch von Ideen, besser illustrieren. Die syrische Leier war fortan auch Bestandteil ägyptischer Orchester. Die Harfe konnte umgekehrt in Syrien nicht Fuß fassen. Dieses Instrument war für die dortigen Musiker zu teuer.


Reschef, Aqhat, David, Apollon, Herakles, Orpheus, Christus

Die Leier war das wichtigste Männerinstrument in der Levante. Irgendwann hat wohl ein Jäger beim Warten auf Wild entdeckt, dass man auf dem Pfeilbogen Melodien zupfen kann. Zum guten Image eines Helden gehörte fortan, dass er nicht nur jagen, sondern auch musizieren konnte. Dazu kommt, dass sich die über das Holz gespannte Saite je nach Witterung dehnt oder zusammenzieht, also als Hygrometer funktioniert. Der Bogen wird daher in gewissen Gegenden Eurasiens bis heute als schamanistisches Orakelinstrument verwendet. Die parthischen Könige ließen sich sogar als Propheten mit Orakelbogen auf Münzen abbilden. Die großen Helden bzw. Götter im östlichen Mittelmeerraum, der levantinische Jagd- und Pestgott Reschef, der ugaritische Held Aqhat, der biblische David, der griechische Apollon, der mazedonische Orpheus und schließlich auch Christus gelten, wenngleich in unterschiedlicher Akzentuierung, als Patrone der Musik, des Kriegs und des Orakels. Bis in die Neuzeit hinein war der erfolgreiche Musiktherapeut (1 Sam 16) und der ekstatische Tänzer (vgl. 2 Sam 6) David für christliche Musiktheoretiker der Prototyp des Musikers, dessen Musik wie jene Orpheus' in der Lage war, die Depressionsdämonen Sauls, ja selbst die wildesten Tiere in Bann zu schlagen. Kirchenmusik wurde so lange Zeit als Bindeglied zwischen Himmel und Erde verstanden und als effizientestes Mittel gegen depressive und aggressive Geister aller Art.


Die Dienerinnen der Göttin

Die Handpauke war das wichtigste Fraueninstrument in der Levante. Es gehörte zur Grundausstattung der Dienerinnen der Göttin, die in Jerusalem als Aschera angesprochen wurde. Psalm 68 schildert, wie die jungen Frauen bei Tempelprozessionen mitmarschierten und die Handpauke schlugen. Die eminente Bedeutung des Ascherakultes wurde in den vergangenen Jahren durch die Archäologie eindrücklich belegt. Fast in jedem Haushalt Judas gab es im 8. und 7. Jh. v. Chr., also zur Zeit der großen Propheten Jesaja, Jeremia und Ezechiel, eine kleine Figur des Standbildes der Göttin, wie es beim Tempel von Jerusalem noch unter König Manasse zu sehen war. Geographisch noch weiter verbreitet waren Statuen von Handpaukenspielerinnen, die als Dienerinnen der Göttin gedeutet werden können. Der Gesang der Frauen zur Handpauke gehörte nicht nur zum vorexilischen Tempelkult (Es 68,26), sondern auch zu Siegesfeierlichkeiten. Die Frauen lobten ihre siegreichen Helden und verspotteten die unterlegenen Feinde. Im berühmten Siegeslied der Mirjam ist der Held Gott JHWH und der Feind das Heer Pharaos (Ex 15,21). "Singt JHWH, denn hoch erhaben ist er, Ross und Wagen warf er ins Meer."


Klagegesang

Ein zweiter Bereich, in dem Frauen als musikalische Spezialistinnen gefragt waren und es mancherorts bis heute sind, ist die Totenklage. Bekannt sind etwa die Klageweiber bei der Überführung der Mumie verstorbener Ägypter über den Nil, auf die Westseite des Flusses, wo sich die Grabanlagen befanden. Aber auch auf dem Sarkophag des phönizischen Herrschers Ahiram finden wir Klagefrauen, die an das ehrwürdige Begräbnis des Königs erinnern. Klageweiber im alten Israel galten als besonders weise Frauen (vgl. Jeremia 9). Ihre Klage bestand einerseits aus dem Mark und Bein durchdringenden Klageschrei, andererseits aus der Qinah, einer rhythmischen Klageweise mit teilweise schon damals uralten Melodien und Texten. Solche Klagen wurden nicht nur über Menschen, sondern auch über Städte angestimmt, wenn sie von einem fremden Heer zerstört wurden. Mit dem Untergang einer Stadt verschwanden ja nicht nur Häuser und Mauern, sondern in erster Linie ein lebendiger Organismus, der in guten Zeiten als junge Frau, in schlechten als Witwe bezeichnet werden konnte. Bei der Verschriftlichung der mündlichen Klagetradition änderte sich das Genderzeichen. Keines der Leichenlieder der Hebräischen Bibel wird auf eine Frau zurückgeführt, weder der Klagegesang über Saul und Jonatan, noch Klagelieder über das zerstörte Jerusalem, die nachträglich dem Propheten Jeremia zugeschrieben worden sind, in der heutigen Forschung aber mehrheitlich als Frauendichtung anerkannt werden.


Wurzeln unserer diatonen Musik

Da die altorientalische Musiktradition eine rein mündliche war, gibt es nur wenig Anhaltspunkte darüber, wie sie geklungen haben könnte. Rein theoretische Rekonstruktionen, etwa aufgrund der von den jüdischen Schriftspezialisten (Massoreten) eingefügten Betonungszeichen, müssen als gescheitert betrachtet werden. Hingegen hat sich in abgelegenen Regionen des Synagogen- und Kirchengesanges vereinzelt eine sehr archaische Gesangespraxis halten können, die von der Musikethnographie dokumentiert worden ist. Man konnte feststellen, dass jüdische und christliche Sakralmusik auf gleiche Bau- und Melodieelemente zurückgehen (vgl. Track 6 auf der CD "Tempelmusik", s. S. 29 in diesem Heft). Jüngste Erkenntnisse kommen aus der Assyriologie. Aus Mesopotamien sind sogenannte Stimmungstexte entziffert worden, das sind Anweisungen, wie ein Saiteninstrument gestimmt werden soll. Die Texte belegen, dass das mesopotamische Musiksystem diatonisch war, und dass seine sieben Stimmungsarten unseren Kirchentonarten entsprechen. Syrer, Griechen und Armenier haben vom altmesopotamischen Musiksystem eine Brücke Richtung Abendland gebaut.


Schlechte und gute Musik für Monotheisten

Die monotheistische Unterscheidung zwischen wahrem Gott und falschen Göttern hat sich auf musikalischem Gebiet in der Differenzierung zwischen Götzenmusik und Gotteslob niedergeschlagen. In Judentum, Christentum und Islam äußert sich das gleichermaßen in einer tendenziell asketischen Musik, die die vorhandenen technischen und interpretatorischen Möglichkeiten im Dienste einer stark auf den Text fokussierenden, nicht elitären Musik zurückbindet. Zu den ältesten Prototypen dieser Art Musiker gehören die drei Jünglinge, die sich weigern, das Standbild Nebukadnezzars, das zu pompöser Musik präsentiert wird, zu verehren, wie es von ihnen erwartet wird. Sie werden dafür in den Feuerofen geworfen, wo sie Gott in bescheidenem, orthodoxem Acapella-Gesang als Herrn der Schöpfung loben und preisen (Dan 2-3). Die Jünglinge wurden für die Christen, die sich der Forderung, dem Kaiser zu huldigen, ausgesetzt sahen, zu Vorbildern. Noch radikaler hat sich der Islam von der vorislamischen Musikkultur abgesetzt, die in Bausch und Bogen abgelehnt wurde, weil sie als größte Gefahr für den Rückfall ins Heidentum galt. Auf einer ähnlichen Linie liegt die Propagierung der Heiligen Cäcilia im barocken Katholizismus. Diese Märtyrerin habe, während ihre Peiniger von Instrumenten begleitet gesungen hätten, allein in ihrem Herzen still zu Gott gesungen. Sie steht für ein Musikverständnis, das dieser Musik eine ganz der Liturgie dienende Rolle zuweist. Umgekehrt haben die evangelischen Kirchen, die weder die bloß griechisch überlieferte Episode der Jünglinge im Feuerofen noch die Heilige Cäcilia kannten, in David, der die Bundeslade unter großem Pomp nach Jerusalem bringen lässt und dazu selber tanzt, das Vorbild und die Rechtfertigung einer reichen und blühenden Kirchenmusiktradition gefunden.


Dr. Thomas Staubli ist Dozent für Altes Testament an der Universität Fribourg (CH) und ebenda Leiter des Bibel+Orient Museums.


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Quelle:
Bibel heute - 3. Quartal 2008, Nr. 175, Seite 4-7
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Erscheinungsweise: viermal jährlich.
Der Bezugspreis für 2008 beträgt:
Einzelheft: 6,- Euro
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(Schüler, Studenten und Rentner 12,- Euro)


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juni 2009