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BERICHT/110: Streitfall Religionsfreiheit (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 02/2010

Streitfall Religionsfreiheit

Von Ulrich Ruh


Am 7. Dezember 2010 wird es 45 Jahre her sein, dass das Zweite Vatikanische Konzil die Erklärung über die Religionsfreiheit "Dignitatis humanae" feierlich verkündete. Sie gehört zu den Texten des Konzils, die bei der Schlussabstimmung mehr als eine Handvoll Neinstimmen erhielten, wie auch die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute und die Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen. Schon das ist ein Indiz dafür, dass die katholische Kirche mit den Aussagen des Zweiten Vatikanums zur Religionsfreiheit Neuland betrat. Sie war - nicht nur, aber nicht zuletzt - bezüglich der Anerkennung des Rechts auf Religionsfreiheit als individuelles wie kollektives Recht ein ausgesprochener Spätentwickler.

Aber auch in der europäischen Staatenwelt dauerte es seine Zeit, bis jeder Mensch "nach seiner Fasson selig werden" (Friedrich II. von Preußen), also ohne Beschränkungen seine religiöse Überzeugung auch öffentlich bekennen und leben konnte. Die frühneuzeitlichen Gemeinwesen waren im Regelfall von Staats wegen konfessionell homogen und setzten solche Homogenität nicht selten mit Zwangsmitteln durch, so beispielsweise das Königreich Frankreich durch die Aufhebung des Edikts von Nantes unter Ludwig XIV. Schrittweise wurden dann seit dem 18. Jahrhundert religiös-konfessionellen Minderheiten mehr Rechte eingeräumt; man denke an das Toleranzpatent Kaiser Josephs II. zugunsten von Protestanten und Orthodoxen von 1781. Die volle bürgerliche Gleichstellung der Juden wurde etwa in Deutschland, aber auch andernorts in Europa, erst im Lauf des 19. Jahrhunderts verwirklicht.


Die jüngste rechtlich-politische Zäsur in Sachen Religionsfreiheit markiert für Europa die Jahreszahl 1989. Im Zug der "Wende" verlor die religionsfeindliche marxistische Ideologie ihren offiziellen Alleinvertretungsanspruch, traten an ihre Stelle weithin gesetzliche Garantien für die individuelle Glaubensfreiheit und das öffentliche Wirken der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Genau das hatten die Gläubigen in den entsprechenden Staaten wie die Kirchen im freien Europa während der kommunistischen Zeit immer vehement eingefordert, nicht zuletzt der polnische Papst Johannes Paul II.


Es hat sich vielerorts eine neue Front aufgetan

In den letzten Jahren hat sich in Europa vielerorts eine neue Front aufgetan, an der um das Recht auf Religionsfreiheit, um seine Dimensionen und seine Reichweite gestritten wird. Diese Front ist nicht einfach eine Folgeerscheinung der insgesamt größer gewordenen religiösen Pluralität, sondern hat fast ausschließlich mit der Präsenz des Islam zu tun. Diese größte und wichtigste nachchristliche Religion ist zwar schon lange in Europa vertreten, auf dem Balkan wie in Osteuropa. Aber sie macht sich inzwischen zahlenmäßig auch in Teilen des westlichen und südlichen Europa deutlicher bemerkbar und ist zunehmend in den Blickpunkt der europäischen Öffentlichkeit gerückt.

Anschauungsmaterial liegt quer durch Europa auf der Hand, vom französischen Streit um Kopftücher muslimischer Mädchen in öffentlichen Schulen bis zu deutschen Auseinandersetzungen um den Bau von Moscheen, sei es in Köln oder in München. Besonders spektakuläre Beispiele lieferten die Eruptionen, die durch die Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen in einer dänischen Zeitung ausgelöst wurden und an die der vor einigen Wochen unternommene Angriff auf den Zeichner der Karikaturen wieder erinnerte, sowie jüngst die Volksabstimmung in der Schweiz über ein Minarettverbot (vgl. HK, Januar 2010, 7ff.), die zugunsten eines solchen Verbots ausging.

Die heutige religiöse Konstellation auf dem europäischen Kontinent trägt im historischen Vergleich ungewohnte Züge und gewinnt dadurch auch ihre besondere Brisanz. Während die religiöse Vielfalt in den Vereinigten Staaten seit jeher durch die unterschiedlichen Gruppen von Einwanderern und ihre religiösen Prägungen entstand, ist der Islam für weite Teile Europas die erste größere "Einwandererreligion", wobei diese Einwanderer in der Regel aus fremden Kulturen stammen. Es ist auch neu, dass mit dem Islam eine Religion in Europa über ihre begrenzten traditionellen Verbreitungsgebiete hinaus an Boden gewinnt, deren zahlenmäßiger und spiritueller Schwerpunkt in anderen Weltgegenden liegt. Das gilt zwar auch für Buddhisten oder Hindus; aber sie sind in Europa weit weniger stark vertreten als die Muslime, woran sich auch in absehbarer Zeit kaum etwas ändern dürfte.


Wo bleibt die Reziprozität?

Auch das Schicksal der Juden in Europa liefert keine direkten Parallelen: Es gibt eine bis in die Spätantike zurück reichende, äußerst wechselvolle Geschichte des Zusammenlebens von Juden und Christen in den europäischen Territorien. Lange waren die Juden im christlichen Europa die einzigen religiös "Anderen", die einen rechtlichen Sonderstatus hatten und aus theologischen Gründen stigmatisiert waren. Als sie sich dann emanzipieren konnten und dabei nicht selten ihre religiöse Identität ablegten, entstand ein teilweise neuartiger Antisemitismus, der zur maßgeblichen Ursache für die Shoah wurde. Demgegenüber wurden Muslime vom christlichen Europa die längste Zeit als von außen kommende Bedrohung erfahren.


Sie sind heute in einem Europa präsent, in dem Religionsfreiheit durchweg ein verfassungsmäßig verbrieftes und entsprechend einklagbares Recht ist. Weithin gehört sie auch zum gesellschaftlichen Grundkonsens: Es ist für den heutigen Europäer normal, dass es verschiedene Konfessionen und Religionen gibt, dass unterschiedliche religiöse Geltungsansprüche nebeneinander existieren und dass es in sein privates Belieben gestellt ist, ob und wie intensiv er sich den einen oder anderen zu eigen macht. Woher dann also die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Islam? Warum steht die Frage auf der Tagesordnung, ob man Muslimen in Europa volle Religionsfreiheit gewähren kann oder ob nicht doch eher Einschränkungen in bestimmten Bereichen notwendig wären?


Es sind vor allem drei Argumentationsstränge oder auch Quellen für Ressentiments, die in dieser Beziehung eine Rolle spielen. Da ist zum einen der Hinweis auf die Gefahren, die von radikal-islamistischen Bewegungen ausgehen, bis hin zu terroristischen Netzwerken. Philip Jenkins hat in einem Kapitel seines 2008 auf Deutsch erschienenen Buchs "Gottes Kontinent. Über die religiöse Krise Europas und die Zukunft von Islam und Christentum" die entsprechenden Strukturen auf europäischem Boden eindrücklich dargestellt. Einer Religion mit so gefährlichen ideologischen Rändern, so wird dann argumentiert, könne man doch nicht die gleichen Entfaltungsmöglichkeiten gewähren wie normalen, rechtstreuen Glaubensgemeinschaften.


Dazu kommt der Verweis auf demografische Entwicklungen und ihre Implikationen: Auf mittlere, zumindest aber auf längere Sicht werde der muslimische Bevölkerungsanteil in europäischen Ländern durch weitere Zuwanderung wie durch die Geburtenzahl muslimischer Frauen so stark anwachsen, dass die Muslime schließlich die Mehrheit bilden würden. Dann aber würden sie in Europa auch die Regeln für das Verhältnis von Religion, Staat und Kultur bestimmen und Andersgläubigen ihrerseits Einschränkungen auferlegen, nicht zuletzt den kulturell-gesellschaftlich bislang prägenden Christen. Man müsse deshalb, so eine geläufige Meinung, den Anfängen wehren, so lange man noch dazu die Möglichkeit habe, und die Muslime in Europa in ihren rechtlichen Ansprüchen klein halten.

Schließlich wird das Argument der Reziprozität ins Feld geführt: Warum sollten, so ist zu hören und zu lesen, Muslime im christlichen Europa immer mehr Moscheen errichten dürfen, auch an städtebaulich exponierten Plätzen, während es Christen in der Türkei oder in Saudi-Arabien gar nicht oder doch nur mit erheblichen Schwierigkeiten erlaubt werde, ihren religiösen Bedürfnissen entsprechend Kirchen zu bauen. Es gebe in vielen muslimisch geprägten Ländern mehr oder weniger massive Einschränkungen der Religionsfreiheit für Christen und ihre Kirchen. Die Muslime sollten daher erst einmal in ihren Herkunftsländern für die Verwirklichung von Religionsfreiheit nicht zuletzt für Christen sorgen, bevor sie in Europa entsprechende Ansprüche stellten.


Keiner dieser Argumentationsstränge lässt sich einfach so vom Tisch wischen. Das gilt auch dann, wenn sie mit Ressentiments garniert daher kommen. Schließlich sind die Probleme, auf die sie hinweisen, durchaus gravierend, und es ist dabei auch in Rechnung zu stellen, dass es sich um eine relativ neue Herausforderung handelt, zu deren Bewältigung man die Rezepte zumindest nicht vollständig aus früheren Epochen der europäischen Geschichte von Religion und Kirche, Staat und Gesellschaft abrufen kann.

Das sollte aber nicht daran hindern, die einschlägigen Argumente kritisch abzuklopfen. So kann man beispielsweise nicht den radikalen oder sogar terroristischen Islamismus mit "dem" Islam identifizieren. Gegen islamistische Gewalttäter und ihre Unterstützerszene können und müssen sich die europäischen Staaten mit polizeilichen und nachrichtendienstlichen Mitteln schützen. Für den Umgang mit der muslimischen Minderheit insgesamt mit ihren verschiedenen Strömungen und Richtungen braucht es dagegen andere Instrumente, sei es in der Gesetzgebung, in der sozialen Arbeit oder in Bemühungen um das kulturell-religiöse Gespräch.


Zukunftsszenarien eines von Muslimen zahlenmäßig beherrschten und rechtlich wie religiös dominierten Europa wiederum sind Angstmacherei ohne seriöse Grundlage. Wohl wird in manchen Ballungsräumen der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund und muslimischer Religionszugehörigkeit weiter zunehmen - mit entsprechenden Problemen etwa für das Sozial- und Bildungssystem. Und es wird nicht immer leicht sein, für alle Beteiligten gedeihliche Lösungen zu finden. Aber es ist doch keineswegs ausgeschlossen, dass sich Migranten und Alteingesessene, Christen, Ungläubige und Muslime trotz aller Schwierigkeiten zusammenraufen.


Religionsfreiheit kann nicht isoliert werden

Und die Reziprozität: Es ist das gute Recht und auch die Pflicht europäischer Staaten, die Einhaltung der Menschenrechte und damit nicht zuletzt des Rechts auf Religionsfreiheit in anderen Weltgegenden einzufordern. Aber sie tun das ja aus der Überzeugung heraus, dass dieses Recht für ein humanes Zusammenleben unabdingbar und förderlich ist und können gerade deshalb nicht ihren religionsrechtlichen Standard und seine Anwendung auf neue religiöse Gruppen davon abhängig machen, inwieweit auch anderswo volle Religionsfreiheit gewährleistet ist.

Es ist zwar realistischer Weise nicht damit zu rechnen, dass sich das Grundrecht Religionsfreiheit überall in absehbarer Zeit durchsetzt - auch manche europäische Länder haben hier im Übrigen einen gewissen Handlungsbedarf. Aber das kann und sollte kein Argument für die Vorreiter in Sachen Religionsfreiheit sein, hinter den eigenen Anspruch zurückzufallen.


Natürlich muss Religionsfreiheit immer im Kontext des ganzen Systems von Grund- und Freiheitsrechten verstanden werden. Deshalb kann man sie nie völlig isoliert betrachten, wird man um ihre konkrete Verwirklichung wie um ihre Reichweite immer wieder auch diskutieren. Das kann auch zu Konflikten führen, etwa im Verhältnis von Religionsfreiheit einerseits und Meinungs- oder Pressefreiheit andererseits. Davon können die christlichen Kirchen seit jeher ein Lied singen, wenn sie sich gegen Verunglimpfungen ihrer Traditionen in den Medien oder im Kunstbetrieb zur Wehr setzen.


Durch die stärkere Präsenz des Islam können sich gerade auch in diesem Bereich neue Konfliktfelder auftun. Hier muss sich vieles erst einspielen. Das gilt auch für andere Ausdrucksformen der Religionsfreiheit, vom Moscheebau bis zu islamischem Religionsunterricht an öffentlichen Schulen oder der Ausbildung von Imamen. Bei gutem Willen und ausreichender Flexibilität aller jeweils Beteiligten dürften sich Lösungen finden lassen, die das allgemeine Grundrecht auf individuelle und kollektive, positive und negative Religionsfreiheit wahren und gleichzeitig auf die spezifischen Bedürfnisse von Muslimen zugeschnitten sind.


Unklarheiten und Risiken sind nicht zu vermeiden

Für Christen und ihre Kirchen sollte es eine Ehrensache sein, sich aktiv für Religionsfreiheit einzusetzen, und zwar als Bürger eines demokratischen Rechtsstaats wie aus ihrem Glauben heraus. Das Zweite Vatikanische Konzil hat ja in seiner Erklärung "Dignitatis humanae" zunächst eine allgemeine Grundlegung der Religionsfreiheit entfaltet, dann die Religionsfreiheit "im Licht der Offenbarung" behandelt.

Die einschlägigen Überlegungen münden in die Feststellung: "Somit verfolgt die Kirche in Treue zur Wahrheit des Evangeliums den Weg Christi und der Apostel, wenn sie anerkennt und dafür eintritt, dass der Grundsatz der religiösen Freiheit der Würde des Menschen und der Offenbarung Gottes entspricht" (DH, Nr. 12). Dem ist nichts hinzuzufügen, und es wäre eine Schande für die katholische Kirche, wenn sie sich in den Verhandlungen mit der Pius-Bruderschaft, die nach wie vor heftig gegen die Konzilserklärung zur Religionsfreiheit polemisiert, in diesem Punkt auf irgendwelche faulen Kompromisse oder Relativierungen dieser mühsam errungenen Position einlassen würde.

Christen, gerade auch Katholiken, können nur dann glaubwürdig für die eigene Freiheit in der individuellen und gemeinschaftlichen Praxis des Glaubens eintreten, wenn sie gleichzeitig die Geltung der Religionsfreiheit für die Angehörigen anderer Religionen und auch für die Nichtglaubenden verteidigen. Das gilt nicht zuletzt für ihr Verhältnis zu den neuen muslimischen Minderheiten in traditionell christlich geprägten Ländern. Sie stehen dabei genauso in einem Lernprozess wie der Staat und die Gesellschaft insgesamt. Dieser Prozess beinhaltet auch für sie Unklarheiten und Risiken, die schlechterdings nicht zu vermeiden sind.

Ob es in Europa in absehbarer Zukunft auf breiter Front zu einer produktiven Begegnung zwischen Christentum und Islam kommen oder ob das Zusammenleben von Christen und Muslimen eher konfliktive Züge annehmen wird, lässt sich nicht verlässlich voraussagen. Es hängt von der weiteren Entwicklung auf beiden Seiten ab. Das Christentum wird vielerorts zur Minderheit werden; die Muslime werden eine Minderheit bleiben, von der offen bleiben muss, wie "europäisch" sie sein wird. Eines ist allerdings sicher: Es kann dem Verhältnis zwischen Christen und Muslimen nur nutzen, wenn das Grundrecht auf Religionsfreiheit als Rahmen weiterhin gewährleistet bleibt und mit Leben erfüllt wird.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 02, Februar 2010, S. 55-57
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. März 2010