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BERICHT/123: Europa - Hilft Religion bei der Integration? (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 8/2012

Europa: Hilft Religion bei der Integration?

Von Andreas Tunger-Zanetti



"Religion und gesellschaftliche Integration in Europa" (REGIE) ist der Name eines fünfjährigen Forschungsprogramms der Universität Luzern. Auf einer Tagung wurde Mitte Juni eine erste Zwischenbilanz gezogen.


Gefährdet Religion den Zusammenhalt westlicher Gesellschaften oder stärkt sie ihn im Gegenteil? Sind die gebräuchlichen rechtlichen Modelle des Verhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaften noch brauchbar? Mit welchen Theorieangeboten können die interessierten wissenschaftlichen Disziplinen die Problemlagen des Themenfeldes am ehesten bewältigen? So lauten die Fragen des Luzerner Forschungsprogramms "Religion und gesellschaftliche Integration in Europa", denen vom 14. bis 16. Juni eine Tagung gewidmet war.

Am Anfang stand die Einsicht, dass angesichts der Grobschlächtigkeit politischer "Integrationsdebatten" Unterscheidung nottut. So erscheint es keineswegs überflüssig, im Anschluss an David Lockwood systemische von sozialer Integration zu unterscheiden, wie der Politikwissenschaftler Antonius Liedhegener (Luzern) dies tat: Die erste bezieht sich auf das Verhältnis von Teilsystemen und die daraus sich ergebende Stabilität oder Instabilität eines Gesamtsystems; die zweite beschreibt, auf welche Weise und wie eng das Individuum oder eine Gruppe in das Gesamtsystem einbezogen ist.

In deutlicher Gegenposition zu Niklas Luhmann vertrat Liedhegener die Ansicht, Religion könne durchaus einen Beitrag zur systemischen Integration in modernen Gesellschaften leisten. Religiöse Organisationen und Funktionsträger seien in vielfältiger Weise im politischen System präsent und wirksam. Soweit sie die faktische religiöse und weltanschauliche Pluralität zumindest hinnehmen oder gar zustimmend in ihre normativen Programme einbauen, stärken und verbreitern sie nach Liedhegener den Grundkonsens, auf den die Gesellschaft angewiesen ist.

Den Kontrapunkt zu dieser Perspektive setzte der Religionssoziologe Jörg Stolz (Lausanne): Ob jemand oder eine Gruppe "gut integriert" sei, hänge davon ab, wie Integration definiert werde - das aber sei stets eine politische Entscheidung. Aufgabe der Wissenschaft sei es lediglich, die vorgegebenen Maßstäbe zu operationalisieren, die Phänomene im Feld zu messen, die Wirkungsmechanismen zu verstehen, dabei nicht zu werten.

Dabei kann man, je nach politisch entstandener Messlatte zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen kommen, wie Stolz anhand von Schweizer Daten zeigte: Nimmt man beispielsweise die Haltung zur Homosexualität, so finden sich so unterschiedliche Personengruppen wie Christlich-Orthodoxe, Muslime und Mitglieder von Freikirchen in etwa gleich großer Distanz zum gesellschaftlichen Durchschnitt. Dabei können diese Gruppen gemessen etwa an ihrer sozio-ökonomischen Stellung oder dem Bildungsniveau auch völlig unterschiedliche Werte erzielen.


Staatskirchliches Modell unter Druck

Der Bochumer Kirchenhistoriker Wilhelm Damberg stellte demgegenüber fest, dass die heutigen Fragestellungen nicht mehr zu den Lösungen des 18. und 19. Jahrhundert passen. Das Religionsverfassungsrecht und das politische Handeln allerdings bleibe weiterhin klar von den im 19. Jahrhundert entwickelten Vorstellungen und Instrumenten geprägt. Dies führt beispielsweise dazu, dass die heutige Politik eher zurück- als nach vorne schaut. Als Beispiel nannte er die derzeit entwickelten Imam-Curricula: Sie entsprächen dem, was die preußische Verwaltung vor hundert Jahren für die Ausbildung katholischer Priester entworfen habe.


Derweil gerät aber das staatskirchliche Modell ganz generell zunehmend unter Druck. Als Beispiele seien hier die öffentlich-rechtliche Anerkennung, die Kirchensteuer und der konfessionelle Religionsunterricht genannt. Muslimische Funktionäre wie liberale Politiker oder aufgeschlossene Behörden und auch viele Tagungsteilnehmer sehen darin Schritte in Richtung Anerkennung und Integration. Sie blenden dabei gerne aus, dass diese Rechtsform aufgrund der gesellschaftlichen Großtrends und jenseits aller Islam-Debatten keineswegs mehr so fraglose Wirk- und Überzeugungskraft besitzt wie noch vor dreißig Jahren - in der Schweiz womöglich noch ausgeprägter als in Deutschland.

Das rechtliche Instrumentarium, beweglich wie es ist, mag dabei noch durchaus brauchbar sein. Es bedarf nicht neuer Erfindungen, nur weil der Islam keine Sakramentsverwalter und keine Taufregister kennt, wie gelegentlich in Debatten zu hören ist. Gewarnt sei allerdings vor zu optimistischen Hoffnungen einer öffentlich-rechtlichen Anerkennung. Das Beispiel Österreich zeigt: Ein kaiserzeitliches "Islam-Gesetz" kann sehr wohl noch hundert Jahre später als Bezugspunkt dienen, verkommt allerdings zur Dekoration für Festansprachen, wenn der politische, sozial verankerte Wille fehlt, die Anerkennung vom Papier in den Alltag und die Institutionen zu übersetzen, zum Beispiel in der Militärseelsorge.

Konsequenterweise vertrat denn auch Gerhard Robbers (Trier), Professor für Öffentliches Recht und Kirchenrecht, eine proaktive Haltung: "Der Islam muss öffentlicher werden, muss Teil der guten öffentlichen Ordnung werden", und deshalb seien zum Beispiel Muslime auch in die Rundfunkräte einzubeziehen.


Welche Rolle für das Recht?

So tauchte auf der Tagung unvermeidlich immer wieder explizit und implizit die Frage auf, wie viel oder wie wenig das Recht überhaupt zu bewirken vermöge. Der Religionsrechtler René Pahud de Mortanges (Fribourg) hielt dazu fest, das Schweizer "Inkorporationsregime" eigne sich durchaus, um mit religiöser Pluralität umzugehen. Realistisch einschränkend musste er freilich nachschieben: "Aber Volksabstimmungen setzen manchmal andere Akzente."

Diese Umwege, die die Politik (nicht nur in der direkten Demokratie) einem an sich unspektakulären Prozess aufzwingt, führen zum Phasentausch: Früher sprach ein Kanton zunächst die öffentlich-rechtliche Anerkennung aus, aufgrund derer dann die Religionsgemeinschaft bestimmte Aufgaben übernahm. Heute, so Pahud, eile die praktische Zusammenarbeit der öffentlich-rechtlichen Anerkennung oft voraus, weil praktische Fragen zu lösen seien (zum Beispiel in der Spital- oder Gefängnisseelsorge), die Behörden aber mit Blick aufs politische Klima "den Ball flach halten". Gleichwohl vertrat Pahud die Ansicht, Juristen könnten durch ihre Entscheide das Rechtsbewusstsein fördern.


Neben solchen beabsichtigten Effekten gibt es die unbeabsichtigten und diffusen. Äußerst ergiebig sind in diesem Zusammenhang Forschungen zum Sozialkapital, wie sie der Religionssoziologe Gert Pickel (Leipzig) vorstellte. Religiöses Sozialkapital entsteht ihm zufolge in "freiwilligen sozialen Netzwerken, die auf religiösen Überzeugungen gründen oder in Beziehung zu einer Kirche stehen und entstehen". Das gesellschaftlich Relevante daran ist, dass es sowohl privaten als auch öffentlichen Nutzen entfaltet. Der öffentliche und somit politisch besonders wichtige Nutzen besteht darin, dass Mitglieder solcher freiwilligen Netzwerke häufiger als andere Menschen Verlässlichkeit unter ihresgleichen erfahren und das daraus entstehende Vertrauen auf Kontexte außerhalb der Gruppe übertragen.

Pickels Zahlen zeigen, dass offenbar nicht entscheidend ist, ob eine Person einer Konfession angehört, sich selber für religiös hält oder regelmäßig den Gottesdienst besucht. All diese Merkmale für sich fördern eher die Abgrenzung, schmälern (leicht) das Vertrauen in die Mitmenschen generell und in Menschen fremder Religionen im speziellen und können also Konflikte tendenziell eher fördern. Erst wer in einem kirchlich-religiösen Netzwerk aktiv mitarbeitet, baut klar erhöhtes Vertrauen auf. Die Behauptung, "Religion stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt", wäre also in einer verkürzten Form falsch.

Individuum und Gemeinschaft bilden vielmehr ein Spannungsfeld, das quer zu den übrigen liegt. Dies zeigt sich genauso an empirischen Effekten wie auch an Rechtsfragen (klassisch in Fällen wie etwa verweigerter Teilnahme am schulischen Schwimmunterricht oder jüngst dem Urteil des Landgerichts Köln zur Beschneidung eines vierjährigen Knaben, vgl. dieses Heft, 382 f.).


Flexiblere Grundsätze

Besonders hilfreich waren hierzu die scharfen Unterscheidungen von Heiner Bielefeldt, Inhaber des Erlanger Lehrstuhls für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik und seit 2010 UN-Sonderberichterstatter über Religions- und Weltanschauungsfreiheit: Religionsfreiheit ist ein Grundrecht des Individuums, jeden Individuums. Zum Tragen kommt es jedoch erst in Gemeinschaft, ähnlich wie auch Religion grundlegend der Gemeinschaft bedarf.

Bielefeldt sieht, praxiserprobt, die Religionsfreiheit von vielen Seiten her in Gefahr: von erklärten Religionsgegnern ebenso wie von falschen Freunden, beispielsweise autoritären Regimes, die ihre Version religiöser Zwangsharmonie zu verordnen versuchen, um die Kontrolle zu behalten. Umgekehrt sollte der Staat laut Bielefeldt nicht schon gegen Religionsgemeinschaften aktiv werden, nur weil deren Lehren gegen Grundwerte der Gesellschaft verstoßen, sondern erst, wenn konkret und belegbar Gefahr drohe.


Buchstabierte Bielefeldt also universal brauchbare Maßstäbe durch, so musste für den Religionssoziologen José Casanova der stets konkrete Fall, je nach Land wieder anders und einmalig, im Mittelpunkt stehen. Er stellte die Verhältnisse in den USA und in Europa gegenüber, um zu zeigen, dass die Trennung von Staat und Kirche keineswegs dasselbe ist wie die Trennung von Politik und Religion. Generell sieht er die Notwendigkeit, das Verhältnis dieser Paare neu zu denken und zu gestalten.

Für ihn heißt das aber keineswegs, dass Europa das amerikanische Modell übernehmen oder den Islam gleichsam zur "Kirche" machen solle, um ihn anerkennen zu können, sondern lediglich: flexiblere Grundsätze, echter Pluralismus, freie Wahl und dies alles jeweils angepasst auf die konkrete Gesellschaft - wobei sich während des Schlusspodiums gezeigt hat, dass sich die beiden Ansätze von Bielefeldt und Casanova durchaus komplementär verstehen.


In Zukunft wird es darum gehen müssen, die Wirkmechanismen von Religion in der Bürgergesellschaft sozialwissenschaftlich noch vertiefter zu erforschen, das Recht behutsam weiterzuentwickeln, jüngste wie ältere Erfahrungen der Politik auch im Ländervergleich aufzuarbeiten und im wissenschaftlichen wie im politischen Geschäft unermüdlich kleinere und gröbere Fehlannahmen und -diagnosen zu korrigieren. Gelingen diese Anstrengungen, so lässt sich "Europas Angst vor der Religion" (Casanova) in ein neues, gelasseneres Verhältnis verwandeln.


Andreas Tunger-Zanetti (geb. 1961) koordiniert das Zentrum Religionsforschung der Universität Luzern.

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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
66. Jahrgang, Heft 8, August 2012, S. 386-389
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. November 2012