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FORSCHUNG/036: Ergebnisse zur "Mobilisierung von Religion in Europa" (idw)


Universität Erfurt - 23.02.2009

Forschungsergebnisse zur "Mobilisierung von Religion in Europa"

BMBF-Verbundprojekt präsentiert Forschungsergebnisse bei Abschlusstagung in Erfurt vom 26. bis 27. Februar 2009


Mit einer internationalen Tagung am 26. und 27. Februar 2009, an der namhafte Wissenschaftler aus dem In- und Ausland teilnehmen, schließt das BMBF-geförderte Verbundprojekt "Mobilisierung von Religion in Europa" - Sprecher sind Prof. Dr. Jamal Malik (Erfurt) und Prof. Dr. Hans G. Kippenberg (Erfurt und Bremen) - seine Forschung ab. Seit 2006 haben dreizehn Nachwuchswissenschaftler zusammen mit zehn Hochschullehrern der Universitäten Erfurt, Jena und der Fachhochschule Jena zum Wandel der Religion in Europa und ihrer Mobilisierung gearbeitet. Ausgang des Vorhabens waren Indizien, dass auch für Europa die Behauptung eines mit der Modernisierung zwingend notwendig voranschreitenden Prozesses der Marginalisierung und Privatisierung von Religion nicht mehr zutrifft - was für die USA, für Lateinamerika, den Nahen und Mittleren Osten sowie die Pazifikregion bereits zuvor untersucht und beschrieben worden war.

Allerdings sind in Europa die sozialen und kulturellen Manifestationen von zeitgenössischer Religion andere. Nicht ein stürmisches Wachstum religiöser Gemeinden, sondern eine Mobilisierung von Religion in unterschiedlichen gesellschaftlichen Zusammenhängen ist zu bemerken. Debatten über die Identität Europas, Arbeiten an einer gemeinsamen Verfassung sowie Bestimmungen der Grenzen Europas sind zu Fragen um die Geltung von Religionen im öffentlichen Raum geworden. Auseinandersetzungen über die Einbürgerung von Arbeitsmigranten werden von Zweifeln an einer Loyalität von Muslimen zum säkularen Verfassungsstaat genährt; die Erfahrung religiöser Gewalt hat dem Glauben an Religionen als Garanten des Friedens in einem Gemeinwesen Abbruch getan. Eine Untersuchung dieser diffusen Aktualität von Religion bedarf neuartiger Kriterien und Methoden.

Ein so ambitioniertes Projekt wie dieses, das sich der Erforschung religiöser Mobilisierung auf einem ganzen Kontinent widmet, war nur als Kooperationsmodell verschiedener Disziplinen durchführbar. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass sowohl Europa als auch Religion für sich genommen Themen von höchster Aktualität sind. Wie Religionsgemeinschaften sich im öffentlichen Raum institutionalisieren, Gemeinsamkeit schaffen, Anforderungen eines demokratischen Gemeinwesens umsetzen, sich aber auch gegebenenfalls radikalisieren, lässt sich nur mit einer Kombination unterschiedlicher Herangehensweisen erfassen. Der Vielfalt der Arbeitsgebiete und Methodiken entspricht auch eine Vielfalt der Erkenntnisse. Sie alle tragen bei zum Verständnis eines sich wandelnden Europa.

Dessen Selbstverständnis spiegelt sich u.a. in der Wertedebatte wieder, in der auch die Religion eine Rolle spielt. Insbesondere konnte gezeigt werden, wie das Konzept der "Werte" seine Vorzüge als eine Diskursbrücke zwischen unterschiedlichen Überzeugungssystemen und -gemeinschaften auf der europäischen Ebene entfaltet. Zu den überraschenden Ergebnissen von Dr. Christof Mandry gehört die Erkenntnis, dass die in der deutschen juristischen Debatte und Kommentierung geläufige Verbindung zu ontologischen Werttheorien auf der europäischen Ebene nahezu keine Rolle spielt. Auf institutioneller Ebene konnte das Projekt die Thematisierung von Religion durch die EU-Kommission herausarbeiten. Hierbei wurden die Rolle, Bedeutung und das Verständnis von Religion auf der europäischen Ebene rekonstruiert und gewichtet.

Die Ausgangsbedingungen freilich sind in den einzelnen europäischen Ländern verschieden. Dies zeigt sich deutlich, wenn man Deutschland mit Italien vergleicht. Uta Sternbach weist darauf hin, dass der italienische Zentralstaat primärer Ansprechpartner der dortigen Islamverbände ist, während in Deutschland diese Rolle eher den Ländern zukommt. Etwas anders sieht es auf der EU-Ebene aus. Mit dem Vertrag von Maastricht (1992), so Florian Grötsch, ist es erstmalig zu einer Institutionalisierung von Religion auf der Ebene der EU durch die Kommission gekommen. Damit geht die Erweiterung von einer Wirtschaftsgemeinschaft zu einer politischen Union einher. In seiner Rede "A Soul for Europe" sprach der damalige Kommissionspräsidenten Jaques Delors vor Kirchenvertretern die Kirchen direkt als wichtige Akteure für die europäische Integration an.

Was das praktisch bedeutet, zeigt Annika Bender in ihrer Untersuchung über die "Zwecksonntage" als Spiegel der Kultur. Liturgie kann als kulturelle Ressource verstanden werden, die den jeweiligen Akteuren einen Deutungsrahmen für ihr Handeln bietet. Der christlichen Liturgie kommen damit sowohl kulturstiftende als auch kulturtransformierende Momente zu. Traditionelle Religionen setzen sich für eine Rückkehr in die politische Prozesse ein, weil sie öffentlich mitwirken und die Willensbildungsprozesse der Zivilgesellschaft beeinflussen.

Inwieweit die herrschende Ordnungsvorstellung in einen Konflikt mit dem Selbstverständnis religiöser Gemeinschaften geraten kann, wurde von Dr. Michael Dusche durch ausgedehnte Feldforschung untersucht, die zu einem umfangreichen Corpus qualifizierter Interviews mit Akademikern in Indien, der Türkei und Israel führte. Das Ergebnis deutet darauf hin, dass die Konsistenz der herrschenden Ordnungsvorstellung positiv mit ihrer Akzeptanz korreliert. Inkonsistente Ordnungsvorstellungen könnten umgekehrt als Ausdruck unbewältigter grundlegender Konflikte innerhalb der Gesellschaft angesehen werden. Sie wären damit ein Risikoindikator für Konflikt und Gewalt.

Diese neoinstitutionalistische Herangehensweise wird flankiert durch die philologische Erschließung von Schlüsseltexten des Jihadismus, die Dr. Mariella Ourghi (Jena) vornahm. Als primäres Ergebnis ist zu nennen, dass ein Rückgriff auf Gewalt in der Regel nur dann erfolgt, wenn ein bloßes Verharren in friedlichen Konfliktstrategien als erfolglos beurteilt wird. Überraschend ist, dass im Falle Israels/Palästinas kein namhafter Autor die Verübung von Selbstmordattentaten ausdrücklich ablehnt, während derartige Anschläge auf Zivilisten andernorts häufig verurteilt werden. Einige arabische Dokumente liegen mit Abschluss des Projekts erstmals in deutscher Übersetzung vor.

Wie junge Muslime in Deutschland sich unter Zuhilfenahme derartiger Schriften radikalisieren, zeigt Aladdin Sarhan, der die Lebensläufe muslimischer Migranten durch in Feldforschung gewonnene Daten zu rekonstruieren und eine etwaige Rückkoppelung an muslimische Herkunftsgesellschaften zu ergründen versucht. So ergab die Analyse der Sozialisation potentiell sich radikalisierender Gläubiger eine doppelte Marginalisierung in der Gastgesellschaft als auch in der muslimischen Gemeinschaft. Im Zuge religiöser Vergemeinschaftungsformen gebildetes Sozialkapital kann im besten Falle brückenbildend (inklusivistisch) oder eben homogenisierend-abschottend (exklusivistisch) sein. Susanne Schirmer betont, dass auch muslimische Frauen auf vielfältige Weise innerhalb des religiösen Feldes als Akteurinnen tätig sind. Im Rahmen des Projektes konnte eine hohe Diversität der Aktivitäten muslimischer Frauen festgestellt werden.

Der Islamismus stellt jedoch nicht allein das Selbstverständnis des Islam auf die Probe, sondern auch das Europas. Die Rede vom Abendland, so die Ergebnisse von Alexandra Lason, ist in dieser historischen Vergewisserung des geistigen Erbes Europas zu verorten. Das Problem des Abendlandbegriffs besteht gleichwohl darin, diese einheitliche kulturelle Praxis als exklusiv mit dem Christentum gegeben zu betrachten, anstatt das Christentum als Katalysator denn als "Homogenisator" im Dienst am Wohl der Menschen zu betrachten.

Welche Schwierigkeiten dabei auftreten, konnte vor allem im Zusammenhang der Institutionalisierung einer islamischen Fachdidaktik gezeigt werden: So konstatieren Dr. Irka-Christin Mohr und Dr. Michael Kiefer, dass die Zielsetzungen des Islamunterrichts in Berlin und der Modellversuche zum Islamischen Religionsunterricht erheblich divergieren. In Berlin und Bayern enthalten die Curricula in einem erheblichen Ausmaß glaubensverkündende und habitualisierende Elemente. Ein derart "binnenmissionarischer" Anspruch wird in den anderen Modellversuchen nicht vertreten. Durchaus problematisch ist des weiteren, dass eine bundesweite Diskussion zu den Zielsetzungen, Inhalten und Methoden eines künftigen islamischen Religionsunterrichts nicht stattfindet. Schließlich ist festzuhalten, dass in allen Schulversuchen eine eigenständige Islamische Fachdidaktik bislang nicht zu erkennen ist. Zahlreiche Hospitationen haben gezeigt, dass im Unterricht verwendete Methoden in der Regel anderen angrenzenden Fachdidaktiken entnommen wurden (z.B. katholische und evangelische Fachdidaktik). Hier besteht unzweifelhaft in den nächsten Jahren erheblicher Entwicklungsbedarf.

Auch die orthodoxe Kirche hat sich gewandelt. Im Zypernkonflikt, so Irene Dietzel, nimmt sie seit 2004 nicht länger nur die Rolle des Hauptakteurs griechisch-nationalistischer Interessen ein. Es sind nun auch kirchliche Stimmen vernehmbar, die für eine Annäherung türkischer und griechischer Zyprioten plädieren. Im Kontext territorialer Fragen des Konfliktes handeln die verschiedenen Kirchen des zypriotischen Südens ganz unterschiedlich. Die Sichtweisen der armenischen, maronitischen und römisch-katholischen Kirchen im Zypernkonflikt geben ganz neue, leider noch weitestgehend ungehörte Impulse zur Lösung des Problems. Bemerkenswert ist, so konstatiert Dr. habil. Charalampos Tsochos, dass sowohl die antike Religion als auch das Christentum, auch wenn sie einen ganz unterschiedlichen Wahrnehmungswert haben, in der heutigen zypriotischen Gesellschaft verwurzelt sind und die Gesellschaft aus verschiedenen Perspektiven beeinflussen.

Weitere Ergebnisse der Untersuchungen zur "Mobilisierung von Religion in Europa" werden am 26. und 27. Februar 2009 im Erfurter Rathausfestsaal im Rahmen einer internationalen Tagung vorgestellt. Der Ort ist gewählt worden, um auch eine interessierte Öffentlichkeit in die Thematik der Neubestimmung von Religion im heutigen Europa einzubeziehen. Vor allem soll mit Fachkollegen aus dem In- und Ausland über die Ergebnisse der Arbeit diskutiert werden. Die interessierte Öffentlichkeit ist zur Teilnahme herzlich eingeladen, eine Anmeldung nicht erforderlich. Der Eintritt ist frei.

Weitere Informationen unter:
http://www.uni-erfurt.de/mobilisierung_religion

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution425


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Erfurt, Jens Panse, 23.02.2009
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Februar 2009