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FORSCHUNG/045: Religiöser Pluralismus (Spektrum - Uni Bayreuth)


Spektrum 1/2015 - Universität Bayreuth

Religiöser Pluralismus
Zwischen politischer Vision und religionswissenschaftlicher Forschung

Von Eva Spies, Paula Schrode Christoph Bochinger


Das Schlagwort "Pluralismus" ruft, wenn es um Religionen geht, ganz unterschiedliche Assoziationen hervor: Bilder eines bunten und friedlichen Miteinanders und von interreligiösem Dialog einerseits und andererseits Gedanken an Konflikt und Gewalt entlang religiöser Grenzen. Beide Assoziationsketten haben ihre Berechtigung, denn für beide finden sich Beispiele in Europa, in aller Welt und zu allen Zeiten. "Religion" steht also nicht per se für Frieden oder für Konflikt, und ebenso wenig ist die Vielfalt von Religionen per se etwas "Gutes" oder "Schlechtes". Auch die religionswissenschaftliche Forschung betont: "Es kommt darauf an" - so unbefriedigend das für viele sein mag. Was kann das Fach zur Frage des Miteinanders unterschiedlicher religiöser Gruppen in einer Gesellschaft beitragen?


Beobachtung und Analyse

Die Religionswissenschaft ist keine Theologie des religiösen Pluralismus und auch keine Theologie der "Weltreligionen". Sie wird, anders als Theologie, nicht aus religiösen Traditionen heraus betrieben. Daher vertreten Religionswissenschaftlerinnen und Religionswissenschaftler grundsätzlich keine religiösen Standpunkte, sondern beobachten und analysieren religiöse Prozesse.

In Bayreuth versteht sich die Religionswissenschaft als eine Disziplin, die empirisch arbeitet und vornehmlich handlungstheoretisch orientiert ist. Es werden nicht "Religionen" untersucht, sondern Menschen als Akteure: Diese identifizieren sich mit religiösen Traditionen (oder nicht), stehen in spezifischen historischen, kulturellen und sozio-politischen Zusammenhängen - und sie handeln in Kontexten, die oft von religiöser Vielfalt geprägt sind. Diese wissenschaftliche Perspektive ist klar zu unterscheiden von der Forderung nach "religiösem Pluralismus".


Religiöser Pluralismus - eine politische Vision

Der Begriff "religiöser Pluralismus" bezeichnet ein normatives Konzept, wonach religiöse Vielfalt als wichtiges Gut öffentlich anerkannt und gefördert werden soll. Hierbei werden Religionen als "Systeme" angesehen, die grundsätzlich miteinander vereinbar sind. Im gemeinsamen Rahmen einer Wertegemeinschaft sollen sie "Positives" leisten, ihre Unterschiede sollen reguliert oder nivelliert werden. Ein solcher normativer Pluralismus fordert programmatisch eine interreligiöse Zusammenarbeit oder auch die Einpassung unterschiedlicher Gruppen in ein politisches System. Religiöse Vielfalt wird hier also nicht als etwas empirisch Gegebenes gesehen, sondern als ein Eigenwert, als per se etwas "Gutes" oder als wichtige Ressource für politische Prozesse.

Unter dieser Voraussetzung zielt die Rede von Pluralismus letztlich darauf ab, dass "die Religionen" ihre Absolutheitsansprüche überwinden und sich auf bestimmte - meist ethisch formulierte - Gemeinsamkeiten besinnen (so etwa das Programm der von dem Theologen Hans Küng gegründeten "Stiftung Weltethos"). Nach dieser Auffassung sollen religiöse Traditionen ein friedliches Miteinander nicht nur nicht behindern, sondern es aktiv fördern. Damit sollen sie als Ressourcen dienen, um unter den Bedingungen der Globalisierung ein Auseinanderdriften gesellschaftlicher Gruppen zu überwinden. Interreligiöse Verständigung ist in dieser Sicht ein Weg zur Integration. In diesem Sinne ist normativer Pluralismus auch Ausdruck einer politischen Vision.


Religiöse Pluralität in Europa heute

Die Religionswissenschaft hingegen beurteilt religiöse Pluralität nicht normativ, sondern betrachtet und analysiert sie als Gegebenheit. Sie verwendet den Terminus "religiöser Pluralismus" konsequenterweise nicht als Fachbegriff, sondern spricht stattdessen von religiöser Vielfalt, Diversität oder Pluralität.

In den europäischen Gesellschaften der Gegenwart gibt es eine wachsende religiöse Pluralität. Deren Faktoren sind - beispielsweise - weltweite Migration, Synkretismen, Konversionen, die Individualisierung religiöser Vorstellungen und Praktiken, vor allem aber eine zunehmende Distanzierung von Religion bis hin zur Religionslosigkeit. Die große Mehrheit der Bevölkerung in den meisten westeuropäischen Staaten ist nicht oder wenig religiös. Viele greifen gar nicht mehr oder nur in bestimmten Lebenssituationen auf religiöse Traditionen zurück oder bedienen sich unterschiedlicher religiöser Traditionen gleichzeitig. Doch ebenso gibt es kleinere, dezidiert religiöse Gruppen unterschiedlicher Art. Für sie ist Religion von zentraler Bedeutung in allen Lebensbereichen.

Die Bevölkerung wird also in religiöser Hinsicht immer vielfältiger. Zugleich aber werden antipluralistische Haltungen zunehmend auch öffentlich artikuliert. Gegenseitige Akzeptanz der heterogenen Gruppen zu erreichen, ist daher eine besondere Herausforderung moderner Gesellschaften.

Interreligiöse Initiativen, die "religiösen Pluralismus" als Ressource für das Zusammenleben sehen und sich programmatisch dafür einsetzen, repräsentieren jedoch nur eine Minderheit in der Bevölkerung. Wer sich selbst nicht für Religion interessiert, wird sich auch kaum für solche Initiativen begeistern. Andererseits sind auch religiös orientierte Menschen nicht automatisch bereit, eine religionspluralistische Position einzunehmen. So zeigen Analysen zur Schweizer Volksabstimmung über die Minarettverbotsinitiative im Jahr 2009, dass Kirchenmitglieder sich nicht etwa mit dem muslimischen Teil der Bevölkerung solidarisierten, sondern signifikant häufiger als der Durchschnitt der Bevölkerung für ein Minarettverbot in der Schweizer Bundesverfassung stimmten - obwohl die betreffenden Kirchenleitungen dazu aufgerufen hatten, gegen das Verbot zu stimmen. Die Konfessionslosen votierten dagegen deutlich toleranter als der Durchschnitt der Bevölkerung und lehnten mehrheitlich die Verbotsinitiative ab. Die Situation in Deutschland könnte ähnlich aussehen.

Ein normativ verstandener religiöser Pluralismus scheint nicht geeignet, die Herausforderungen der religiösen Pluralisierung in gegenwärtigen europäischen Gesellschaften zu meistern - unter anderem deshalb, weil religiös orientierte Gruppen schon in sich heterogen sind. Hinzu kommt, dass es in den meisten europäischen Ländern eine sehr große Gruppe der Religions- bzw. Konfessionslosen gibt, die kein Interesse an Religion überhaupt haben.


Akzeptanz religiöser Pluralität: eine pragmatische Haltung

Gibt es eine Alternative im Umgang mit der vorhandenen religiösen Vielfalt? Oder wird es künftig immer mehr Minarettverbote, einen neuen "Kulturkampf" von religiösen Gruppen untereinander oder zwischen religiösen und säkularen Gruppen geben? Werden sich die damit verbundenen Stereotypisierungen ausbreiten? Studien zeigen, dass es zwischen den Extrempositionen der generellen Ablehnung religiöser Pluralität und der generellen Wertschätzung religiöser Pluralität noch eine dritte Haltung gibt: Eine sich der Wertung enthaltende pragmatische Position, die die gegebene religiöse Pluralität als Tatsache zur Kenntnis nimmt und akzeptiert, ohne sie als Bereicherung zu begrüßen oder als Bedrohung abzulehnen. Seitens der Bayreuther Religionswissenschaft ist für diese Haltung der Begriff "Akzeptanz religiöser Pluralität" vorgeschlagen worden.

Auf staatlicher Ebene kann Akzeptanz religiöser Pluralität bedeuten, dass der Staat Privilegien, die er früher nur den christlichen Kirchen einräumte, künftig auch auf andere Religionsgemeinschaften ausdehnt (indem er beispielsweise einen islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen zulässt). Es kann aber auch bedeuten, dass der Staat die Rechte der bisher bevorzugten Religionsgemeinschaften künftig beschneidet (indem er zum Beispiel den Religionsunterricht von Religionsgemeinschaften an öffentlichen Schulen abschafft). In beiden Fällen werden die Religionen nach gleichen Regeln behandelt. Deutlich zu unterscheiden sind also:

  • eine Wertschätzung religiöser Pluralität (= ein programmatisch-normativer Pluralismus). Die Menschen werden aufgerufen, die Vielfalt der Religionen "gut" zu finden; das überfordert die meisten von ihnen, besonders diejenigen, die kein enges Verhältnis zur Religion haben.
  • eine Akzeptanz religiöser Pluralität (= eine pragmatische Einstellung, die alle Religionen gleich behandelt sehen will). Es ist eine Haltung der Zustimmung zu Toleranz, Gleichberechtigung und Respekt.

Die Religionswissenschaft kann mit ihrer empirischen Forschung ein Korrektiv gegenüber dem Leitbild eines religiösen Pluralismus sein - sei es bei überhöhten Erwartungen, sei es bei prinzipiellen Vorbehalten. Sie fördert zugleich Perspektiven für einen pragmatischen Umgang mit religiöser Pluralität im Rahmen des säkularen Rechtsstaats.


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RELIGIÖSE VIELFALT: THEMA DER BAYREUTHER RELIGIONSWISSENSCHAFT

Wie nehmen Menschen die "religiöse Landschaft" wahr, wie verorten sie sich darin? Welche religiösen Formen entstehen angesichts vielfältiger Wahlmöglichkeiten? Wie gehen Individuen und politische Institutionen mit religiöser Vielfalt um? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt der religionswissenschaftlichen Forschung an der Universität Bayreuth. Beim Thema "Pluralität" wirkt sie am Profilfeld "Kulturbegegnungen und transkulturelle Prozesse" mit. Hier kooperiert sie insbesondere mit der Geschichtswissenschaft, der Philosophie und der Germanistik.

Das 1996 gegründete Institut zur Erforschung der religiösen Gegenwartskultur (IrG) ist eine Forschungsstelle der Universität Bayreuth an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät. Hier werden zahlreiche empirische Forschungsvorhaben koordiniert, in denen es vor allem um lebensweltlich verankerte Religiosität und moderne religiöse Vergemeinschaftungsformen geht. In jüngster Zeit hat das Institut seine Kooperationen auf internationaler Ebene stetig erweitert. Einen wesentlichen Beitrag leisten hierfür die neu eingerichteten Professuren für Religionswissenschaft mit Schwerpunkt Islamische Gegenwartskulturen und für Religionswissenschaft mit Schwerpunkt Afrika.
www.irg.uni-bayreuth.de


Autoren

Prof. Dr. Christoph Bochinger ist Inhaber des Lehrstuhls für Religionswissenschaft an der Universität Bayreuth, der Schwerpunkt seiner Forschung liegt im Bereich der Religiösen Gegenwartskultur.

Prof. Dr. Paula Schrode ist Professorin für Religionswissenschaft mit Schwerpunkt Islamische Gegenwartskulturen.

Prof. Dr. Eva Spies ist Juniorprofessorin für Religionswissenschaft mit Schwerpunkt Afrika.


Literaturhinweise

- Christoph Bochinger: Ist religiöse Vielfalt etwas Gutes? Pluralismus und Pluralität in der Religionswissenschaft, in: A. Adogame, M. Echtler, O. Freiberger (Hg.): Alternative Voices. A Plurality Approach for Religious Studies. Festschrift for Ulrich Berner. Göttingen 2013, S. 285-307.

- Eva Spies: Coping with Religious Diversity: Incommensurability and other Perspectives, in: Janice Boddy und Michael Lambek (eds.): A Companion to the Anthropology of Religion. Chichester u.a. 2013, S. 118-136.

- Paula Schrode: Islam und Rassismus in Deutschland, in: Gesine Drews-Sylla und Renata Makarska (Hg.): Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989. Bielefeld 2015, S. 45-68.


Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Bildunterschriften von im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

  • Innenraum der Hagia Sophia in Istanbul.
  • Der Koran in verschiedenen Ausgaben
  • Die Basilika Notre-Dame de la Paix in Yamoussoukro, der Hauptstadt der Elfenbeinküste, wurde nach dem Vorbild des Petersdoms errichtet und ist eines der größten Kirchengebäude der Welt
  • Buddha-Statue
  • Eingang zum Gelände einer christlichen Gemeinde in der Nähe von Antananarivo, der Hauptstadt Madagaskars
  • Die Klagemauer in der Altstadt von Jerusalem
  • Von Marc Chagall gestaltetes Chorfenster der Stephanskirche in Mainz

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Quelle:
Spektrum-Magazin der Universität Bayreuth
Ausgabe 1 - Juni 2015, Seite 22-25
Herausgeber: Universität Bayreuth
Redaktion: Pressestelle der Universität Bayreuth, 95440 Bayreuth
Telefon: 0921/55-53 56, -53 24, Fax: 0921/55-53 25
E-Mail: pressestelle@uni-bayreuth.de
Internet: www.uni-bayreuth.de
 
Spektrum erscheint ein- bis zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. August 2015

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