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MELDUNG/073: "Konfessionslose sind oft nicht strikt atheistisch" (idw)


Exzellenzcluster "Religion und Politik" an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster - 09.05.2017

"Konfessionslose sind oft nicht strikt atheistisch"

Blumenberg-Gastprofessorin Woodhead über die wachsende Gruppe der Religionsfernen


Die meisten Konfessionslosen in Europa sind laut der britischen Religionssoziologin Prof. Dr. Linda Woodhead nicht strikt atheistisch eingestellt. "Die Gruppe derjenigen, die keiner organisierten Religion angehören, wächst zwar in vielen europäischen Ländern", sagte die Hans-Blumenberg-Gastprofessorin am Montagabend am Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Uni Münster. "Damit einher geht jedoch nicht eine genauso stark wachsende Ablehnung von Glauben und Spiritualität." So folgten nur 13 Prozent der Konfessionslosen in Großbritannien dem "Neuen Atheismus" des Evolutionsbiologen Richard Dawkins. Auch zeigten nur 42 Prozent der Briten, die angeben, keiner Religionsgemeinschaft anzugehören, die feste Überzeugung, es gebe keinen Gott. "Gut 16 Prozent von ihnen halten die Existenz Gottes oder einer höheren Macht sogar für sicher oder wahrscheinlich." Der Vortrag trug den Titel "Is 'No Religion' the New Religion?" (Ist "keine Religion" die neue Religion?).

"An die Stelle kirchlicher Bindung treten mehr und mehr individualistische und synkretistische Religionsformen", erläuterte die Religionssoziologin. Rund ein Viertel der Konfessionslosen pflege im privaten Bereich eigene spirituelle Praktiken. "Wer sich heute in England oder Deutschland beerdigen lassen will, bekommt viele christlich-säkulare Mischformen geboten." Vor wenigen Jahrzehnten seien christliche Rituale noch die Normalität gewesen. "Heute sind 'No-religion-Rituale' oder gemischte Formen normal. Sie sind zur Norm geworden, mit der sich die Menschen mehrheitlich wohl fühlen." In England lag der Anteil der Konfessionslosen an der Bevölkerung vor gut 30 Jahren bei einem Drittel. Heute gibt die Hälfte der Menschen an, keiner Religion anzugehören. "Im weltweiten Vergleich sehen wir solche Entwicklungen vor allem in liberalen Demokratien, die zuvor mehrheitlich christlich waren", so Woodhead, "etwa in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Australien oder den USA. In den meisten anderen Ländern ist es weiterhin Norm, einer Religionsgemeinschaft anzugehören."

Die Blumenberg-Gastprofessorin führte aus, in der Gruppe der Konfessionslosen werde viel Wert auf die Unabhängigkeit individueller Überzeugungen gelegt, viele "Nones" sagten etwa "Ich bin auf meine Weise christlich." In Umfragen gäben 63 Prozent der Briten an, bei Entscheidungen auf die eigene Vernunft oder Intuition zu hören, nur 6 Prozent hörten auf Gott oder eine höhere Macht und 2 Prozent auf die Lehre einer Religionsgemeinschaft. "Konfessionslose wollen nach unseren Umfragen weder als säkular noch als spirituell bezeichnet werden, sie wehren sich gegen jede Zuschreibung", so Woodhead. "Insgesamt haben wir es mit einem tiefgreifenden Wertewandel zu tun, mit dem Wechsel von einem Ethos der Selbstaufopferung für höhere Zwecke zum Ethos der Selbstverwirklichung, die man sich selbst, aber auch anderen ermöglichen will." Im Hintergrund stehe die vor Jahrzehnten begonnene "lange Revolution", nach der Menschen in liberalen Demokratien immer mehr nach der Überzeugung lebten, dass sie das Recht auf eine eigene Meinung hätten. Verstärkt werde die Entwicklung auch dadurch, dass die Menschen sich mit einer wachsenden religiösen Vielfalt konfrontiert sähen.

Besonders in der jüngeren Generation nimmt die Zugehörigkeit zu einer organisierten Religion ab, wie die Soziologin darlegte. So sind in Großbritannien 60 Prozent der 18- bis 24-Jährigen ohne Religionszugehörigkeit, aber nur 34 Prozent der über 60-Jährigen. Deshalb werde sich, wie Woodhead unterstrich, die Entwicklung zukünftig noch verstärken. Eine entscheidende Rolle spiele dabei der Rückgang der religiösen Erziehung. "Nahezu alle Kinder, die im Elternhaus nicht religiös erzogen werden, bleiben ohne Zugehörigkeit zu einer organisierten Religion." Unter den Kindern, die christlich erzogen würden, hielten später dagegen nur etwa die Hälfte an ihrer Konfessionszugehörigkeit fest. Mit ihrem Vortrag knüpfte Woodhead an ihre These von einer "spiritual revolution" ("spirituelle Revolution") an, wonach alternative Formen der Spiritualität zunehmend an Bedeutung gewinnen.

Religionssoziologin Linda Woodhead

Linda Woodhead, geboren 1964 im englischen Somerset, ist Professorin für Religionssoziologie an der Lancaster University. Für ihre wissenschaftlichen Verdienste erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Universitäten Uppsala, Zürich und Oslo. Die Wissenschaftlerin erhielt 2013 die Auszeichnung "Order of the British Empire" für ihre Beiträge zur Hochschulbildung. Zuletzt war sie Delegierte beim Weltwirtschaftsforum in Davos und gehörte dessen Beirat für die Fragen des Glaubens (Global Agenda Council on the Role of Faith) an. Woodhead studierte Theologie und Religionswissenschaften an der University of Cambridge und spezialisierte sich auf empirische Kultur-, Religions- und Werteforschung. Die Blumenberg-Gastprofessorin hat zahlreiche Publikationen über Religion in modernen Gesellschaften vorgelegt, darunter "A Sociology of Religious Emotion" (Eine Soziologie des religiösen Gefühls, mit Ole Riis, 2010) und "That Was The Church That Was: How the Church of England Lost the English People" (Das war die Kirche, die war: Wie die Kirche von England das englische Volk verlor, 2016). (vvm)



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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Exzellenzcluster "Religion und Politik" an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster,
Viola van Melis, 09.05.2017
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E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Mai 2017

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