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STANDPUNKT/088: Wann wird Religion zur Gefahr? (Portal - Uni Potsdam)


Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung 4/2010

Wann wird Religion zur Gefahr?
Eine Frage, viele Antworten: Mitarbeiter des Profilbereichs "Kulturelle Begegnungsräume" im gedanklichen Exkurs

Von Ulrike Findeklee


Religionen erleben weltweit einen Aufschwung. Zugleich wächst die Angst vor Fundamentalismus. Als Schauplatz kultureller Begegnung illustriert das Thema Religion die verschiedensten Facetten eines zunehmend globalisierten Lebens.


Prof. Dr. Dirk Wiemann, Sprecher des Profilbereichs Kulturelle Begegnungsräume, benennt schon das säkulare Verständnis von Religionsausübung als einer autonomen individuellen Entscheidung als problematisch. Denn gerade die Gemeinschaft sei in der Regel religiöses Kernelement. "Ohne Frage kann diese Auffassung ein heilsames Korrektiv zur Hybris moderner Selbstbegründungsideologien sein. "Gefährlich" wird sie dann, wenn sie sich politisiert. Wenn sie ihrem unhinterfragbaren, weil göttlichen, Legitimationsgrund universelle Gültigkeit verschaffen will - also den Platz verlässt, den ihr der säkulare Staat zugewiesen hat."

In den USA passiert genau das, wenn die Tea-Party Bewegung Präsident Barack Obama Nähe zum Islam vorwirft. Religiöse und bürgerliche Zugehörigkeit werden politisch miteinander verquickt. Prof. Dr. Rüdiger Kunow, Leiter des Forschungsschwerpunkts "Mobilisierte Kulturen" sagt in dem Zusammenhang: "Das US-amerikanische Beispiel ist sicher nicht ohne weiteres auf andere Kulturen übertragbar, doch es bietet einen Blick auf die vielfältigen Ambivalenzen, die die Rückbesinnung auf religiöse Überlieferungen überschatten: Religionen sind konsensbildend und polarisierend zugleich." Auch Prof. Dr. Hans-Peter Krüger, der das Graduiertenkolleg "Lebensformen und Lebenswissen" leitet, hält religiöse Lebensformen nicht für "gefährlicher" als nicht-religiöse. "Beide Weisen zu leben können gefährlich werden, wenn sie einen "Sündenbock" brauchen. Wenn sich eine Gemeinschaft anmaßt, jemanden opfern zu müssen, übernimmt sie selbst die Rolle des Absoluten. In dieser Grenzenlosigkeit besteht der Fanatismus." Der Umgang mit Grenzen bestimmt maßgeblich, wie "sozial verträglich" Religionen gelebt werden. Für religiöse "Ausgrenzung" gibt es viele historische Beispiele. Auch in der frühneuzeitlichen Geschichte. "Eine - in den Augen von Obrigkeiten - "falsche" Religion konnte das Leben bedrohen und zur Flucht zwingen; bekanntermaßen wanderten die Hugenotten und Salzburger nach Brandenburg als Religionsflüchtlinge ein", erinnert Prof. Dr. Ralf Pröve vom Frühneuzeitzentrum. Die Anhänger der Aufklärung hätten die Religion als Gefahr bewertet, wenn sie fundamental vertreten wurde und die Selbstbestimmung des Menschen einschränkte.

Ist es Selbstaufgabe, die religiös inspirierte Fanatiker meinen lässt, für den Glauben eigenes oder fremdes Leben opfern zu müssen? In solchen Ausprägungen, erläutert Prof. Dr. Christoph Schulte aus dem Bereich Jüdische Studien, wird Religion auch sich selbst gefährlich. Dabei sei nicht religiöser Eifer oder tiefe Frömmigkeit generell gefährlich, sondern nur solche Formen des Fanatismus, die zu einer "Suspension des Ethischen" (Kierkegaard), der Moral und des Naturrechts ermächtigen würden und den Fanatiker das Tötungsverbot und andere allgemeine moralische Grundsätze aller Menschen verleugnen lassen.

Darüber, dass Religion immer auch als In stanz zur "Sicherung der Moral" nutzte, scheinen sich alle einig. Auch heute, so Kunow, im Zeitalter fast grenzenloser Mobilität von Menschen, Kulturen und Werten, habe Religion wieder eine gestiegene Bedeutung als "kulturelle Ressource" zu deren Bewältigung. "Die Beschwörung der Religion innerhalb einer kulturell extrem differenzierten Gesellschaft leistet vor allem zweierlei: Religion liefert ein griffiges und zugleich normativ aufgeladenes Vokabular für die Beschreibung zentraler Dimensionen des gesellschaftlichen und persönlichen Zusammenlebens. Und Religion führt kulturelle Überlieferungen und Praktiken in die Konkurrenzen innerhalb der globalen Welt ein."

Die Kehrseite des 'religiösen Aufschwungs' verweist auch auf den Ursprung unserer Fragestellung. Die laut Prof. Dr. Dieter Mersch, Leiter des Instituts für Künste und Medien, viel gefährlichere Entwicklung ist eine zunehmende "Angst vor Religionen sowie insbesondere die verbreitete Religionslosigkeit unserer Zeit und die allgemeine Entspiritualisierung gegenüber dem Menschen, der Welt, vor allem der Verlust der Würde der Kreatur." Auch Prof. Wiemann benennt die eigentliche 'Gefahr' als eine Krise des Säkularismus auf der Suche nach produktiven Antworten auf die aktuellen Herausforderungen.


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Quelle:
Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung Nr. 4/2010, S. 10
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Januar 2011