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BERICHT/091: Sexualethik im Islam (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 6/2012

Ein differenziertes Bild
Sexualethik im Islam

Von Peter Heine



Der Koran und die anderen autoritativen Texte des Islam sehen den Sexualtrieb als Geschenk Gottes an die Menschen an. Er hat nicht nur eine Reproduktionsfunktion, sondern soll den Menschen auch Freude machen. Wie bei vielen anderen Tatbeständen des islamischen Rechts waren die Durchsetzung sexualethischer Regeln und die Bestrafung bei Zuwiderhandlungen von den wechselnden politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen abhängig.


Für das mittelalterliche Abendland war der Islam eine Religion, die man vor allem mit libertärem Sexualverhalten in Verbindung brachte. Nicht allein, dass Scheidungen rechtlich möglich und leicht zu erreichen waren, sondern auch die Tatsache, dass es einem muslimischen Mann gestattet war und ist, gleichzeitig mit bis zu vier Frauen verheiratet zu sein, wurde als abscheulich angesehen. Wie bei vielen anderen Vorurteilen lässt ein Blick in die Quellen ein sehr viel differenzierteres Bild entstehen.

Der Koran und die anderen autoritativen Texte des Islam sehen den Sexualtrieb als Geschenk Gottes an die Menschen an. Er hat nicht nur eine Reproduktionsfunktion, sondern soll den Menschen auch Freude machen. An zahlreichen Stellen gebietet der Koran, dass die Gläubigen heiraten sollen. Denn sexuelle Aktivitäten sind von Gott nur innerhalb der Ehe gestattet. Alles andere wird als Unzucht (arabisch: Zinâ) betrachtet. So heißt es in Sure 24, 32: "Und verheiratet die Ledigen unter euch." Das heilige Buch der Muslime wendet sich auch dagegen, dass Frauen an der Heirat gehindert werden mit den Worten: "Und hindert sie nicht, ihre Gatten zu heiraten" (Sure 2, 232).

Alle im Koran genannten Propheten sollen verheiratet gewesen sein. "Und schon vor dir (Muhammad) schickten wir Gesandte und gaben ihnen Gattinnen und Nachkommenschaft" (Sure 13, 38). Das wird auch von Jesus angenommen, der nach muslimischer Überzeugung nicht am Kreuz gestorben ist, sondern in der Verborgenheit lebt. Wenn er aus dieser zurückkommt, wird er heiraten. Entsprechend finden sich auch in den Sammlungen der Prophetentraditionen zahlreiche, zur Ehe ermutigende Aussagen.

So heißt es beispielsweise: "Wer von euch heiraten kann, der heirate. So bewahrt er am besten seine Augen vor unlauteren Blicken und seinen Körper vor Ausschweifungen. Wer es aber (aus finanziellen Gründen) nicht kann, der möge fasten; denn das Fasten wird für ihn ein Beruhigungsmittel sein." Und an anderer Stelle heißt es: "Wer sich verheiratet, der hat sein halbes Heil gesichert. Er beobachte nur Gottes Gebot auch auf die andere Hälfte." Grund für diese Ermunterung zu Ehe ist also die Sorge, dass der Sexualtrieb so stark sein könnte, dass Menschen sich unzüchtig verhalten.


Wie in vielen anderen Fällen finden sich in den Quellen jedoch auch andere Ansichten bezüglich der Ehe. So wird Muhammad die Aussage zugesprochen: "Es wird über die Menschen eine Zeit kommen, wo der Mann durch seine Frau, seine Eltern und seine Kinder zugrunde gerichtet wird, die ihm seine Armut vorwerfen und von ihm verlangen, was er nicht bieten kann. Er lässt sich dann auf Dinge ein, durch die er sein Seelenheil verliert, und zugrunde geht." Die muslimischen Gelehrten haben diese und ähnliche Formulierungen unterschiedlich kommentiert. Sie vermuteten unter anderem, dass diese Aussagen im Zusammenhang mit den Schrecken des Jüngsten Gerichts entstanden sind. Mit einer Verstärkung mystischer Tendenzen im Islam seit dem 8. Jahrhundert werden derartige Aussprüche bedeutenden Gestalten des Sufitums wie Hasan al-Basri (gestorben 728 in Basra) zugeschrieben: "Wenn Gott einem Menschen Gutes will, erspart er ihm die Beschäftigung mit Familie und Vermögen." Die Kommentatoren weisen aber darauf hin, dass bei derartigen Formulierungen nicht gesagt wird, dass man sich von Familie und Besitz fernhalten solle; vielmehr müsse man darauf achten, dass man darüber das "Gottesgedenken" nicht vernachlässigen dürfe.


In einigen muslimischen Staaten nehmen polygyne Ehen zu

Die Frage der Ehe mit mehreren Frauen (Polygynie) ist auch innerhalb der muslimischen Gelehrtenschaft häufig kontrovers debattiert worden. Der bedeutendste mittelalterliche Religionsgelehrte, al-Ghazzali (gestorben 1111) hat in dem Abschnitt über die Ehe in seinem Hauptwerk "Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften" diese Frage gar nicht angesprochen. Immerhin konnten sich die Gelehrten auf Sure 4, 3 beziehen: "Und wenn ihr fürchtet, gegenüber den Waisen nicht gerecht zu sein, dann heiratet, was euch an Frauen beliebt, zwei, drei und vier. Wenn ihr aber fürchtet, sie nicht gleich zu behandeln, dann nur eine, oder was eure Hand (an Sklavinnen) besitzt." In Vers 129 dieser Sure heißt es dann noch genauer: "Und ihr werdet es nicht schaffen, die Frauen gleich zu behandeln, ihr mögt euch auch noch so bemühen."

Ein Teil der Gelehrten sehen in diesen Versen die Erlaubnis zur Polygynie. Andere nehmen gerade Vers 129 als Beleg für die Forderung nach Monogamie. In der geschichtlichen Realität konnte es sich schon aus finanziellen Gründen nur eine kleine Minderheit von Muslimen leisten, mit mehr als einer Frau gleichzeitig verheiratet zu sein. Polygyne Ehen hatten häufig einen politischen oder wirtschaftlichen Hintergrund. Gleiches gilt auch für die Einrichtung des Harems, die im Europa des 19. Jahrhunderts mit besonders wohligem Schauern zur Kenntnis genommen wurde.

In jüngster Zeit lassen sich in einigen muslimischen Staaten polygyne Ehen häufiger beobachten. Ursache dafür ist, dass Paare, die sich auseinandergelebt haben, sich aus wirtschaftlichen oder sozialen Gründen nicht scheiden können. Der Mann geht dann mit einer zweiten Frau die Ehe ein. Die erste Frau behält in diesen Fällen in der Regel ihre soziale Stellung und wirtschaftliche Sicherheit. Auf dieser Basis stimmt sie daher einer solchen Regelung zu. Da in einigen muslimischen Staaten das säkulare Zivilrecht die Monogamie zwingend vorschreibt, werden diese Zweitehen nur nach islamischem Recht geschlossen.


Das islamische Recht formuliert einige Grundvoraussetzungen für den Status der Ehe. So nennt es einige Ehehindernisse, etwa zwischen nahen Blutsverwandten wie Eltern, Großeltern, Geschwistern oder Kindern und Enkeln. Bemerkenswert ist, dass eine Ehe zwischen Cousin und Cousine dagegen gestattet wird. Als besonders empfehlenswert wird die so genannte Parallel-Cousinen-Heirat, also die Heirat eines Mannes mit seiner Cousine väterlicherseits, angesehen. Neben der Blutsverwandtschaft kann auch die "Milchverwandtschaft" ein Ehehindernis darstellen.

Rechtliche Grundlage einer Ehe ist ein Vertrag, in dem die vertragschließenden Parteien, der Bräutigam einerseits und ein männlicher Vertreter der Braut andererseits als handelnde Personen erscheinen. Die Braut muss dem Vertrag zustimmen. Schweigen wird als Zustimmung gewertet. Der Vertrag kann alle Beziehungen zwischen den Eheleuten festlegen. Grundsätzlich ist er im sunnitischen Islam auf Dauer abgeschlossen. Wichtiger Teil des Vertrags ist die Festlegung eines Brautgelds. Darüber hinaus kann er Regelungen über die Mobilität der Ehefrau, die Anzahl ihrer Dienerinnen, die Höhe des Haushaltsgeldes, die notwendige Zustimmung der Ehefrau zu einer weiteren Heirat des Mannes und vieles mehr fixieren.

Das schiitische Recht kennt darüber hinaus auch eine Eheform, die als Genuss- oder Zeitehe bezeichnet wird. Auch bei dieser Eheform geht es darum, jede Art von Unzucht zu vermeiden. Händler auf langen Geschäftsreisen oder Pilger können Ehen eingehen, deren Dauer per Vertrag zeitlich begrenzt ist. Dieser Zeitraum kann von wenigen Stunden bis zu 100 Jahren dauern. Kinder aus solchen Ehen sind legitim und wie deren Mutter erbberechtigt. Auch bei solchen Ehen wird ein Brautgeld vereinbart. Frauen, die solche Zeitehen eingehen, haben häufig einen niedrigen sozialen Status. Von Gegnern der Schia wird im Zusammenhang mit der Zeitehe häufig der Vorwurf der Prostitution erhoben. Angesichts der problematischen Wohn- und Einkommensverhältnisse nutzen junge Leute in großen Städten mit schiitischer Bevölkerung wie Teheran oder in Teilen Baghdads das Institut der Zeitehe, um zunächst nicht auf Dauer angelegte sexuelle Beziehungen einzugehen, ohne zugleich gegen die Regelungen des islamischen Rechts zu verstoßen.


Der Prophet Muhammad war zu seinen Frauen stets freundlich

Das islamische Recht und die Tradition fordern die Ehepartner auf, miteinander freundlich umzugehen. Zahlreiche Berichte überliefern, dass der Prophet Muhammad zu seinen Frauen stets freundlich war, auch wenn sie ihrerseits unfreundlich waren. Als Muhammad und seine Lieblingsfrau Aischa einmal im Streit miteinander lagen, suchten sie Abu Bakr, den Vater Aischas und späteren Kalifen auf, damit er zwischen ihnen vermittele. Abu Bakr forderte den Propheten auf, seine Position zu erläutern.

Er fragte seine Frau, ob sie zuerst sprechen wolle. Diese sagte: "Nein, rede du zuerst; aber rede nur die Wahrheit." "Da versetzte ihr Abu Bakr einen Schlag, dass ihr der Mund blutete, und sagte: du kleine Feindin deiner selbst. Spricht der Prophet denn je die Unwahrheit?" Da versteckte sich Aischa hinter dem Rücken des Propheten und Muhammad sagte: "Dazu haben wir dich nicht geholt und das haben wir nicht von dir gewollt." Dem entspricht der Prophetenausspruch: "Den ­vollkommensten Glauben besitzt derjenige, der sich am liebevollsten gegenüber seiner Frau verhält."

Diese Freundlichkeit sollte sich auch im konkreten Handeln ausdrücken. So wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Muhammad mit seinen Frauen gescherzt und geschmust habe. Die Quellen mahnen aber auch, dass der Ehemann seiner Frau nicht zu sehr entgegenkommen solle. Hier kommt ein misogynes Moment im Islam zum Vorschein. So ist in mittelalterlichen Texten von einem Rat die Rede, den Mütter ihren Töchtern geben: "Bevor du dir etwas gegenüber deinem Mann herausnimmst, stelle ihn auf die Probe. Ziehe zunächst das Eisen aus dem Schaft seiner Lanze heraus. Wenn er dazu nichts sagt, so benutze seinen Schild, um darauf Fleisch zu schneiden. Schweigt er auch dazu, dann nimm sein Schwert und haue damit die Knochen durch. Erträgt er auch das noch geduldig, dann legt ihm einen Sattel auf seinen Rücken und setz dich darauf; denn er ist nichts weiter als ein Esel."

Das islamische Recht gibt zahlreiche Hinweise auch zu den erlaubten und verbotenen Sexualpraktiken. An drei Tagen im Monat soll man den Beischlaf nicht vollziehen: dem ersten Tag, dem mittleren und dem letzten, weil an diesen Tagen Teufel anwesend sind. Durch den Koran (Sure 2, 222) verboten ist der Beischlaf während der Menstruation der Frau, da diese während ihrer Periode als rituell unrein gilt. Gegen den Austausch von Zärtlichkeiten zwischen den Eheleuten ist jedoch nichts einzuwenden. Dagegen wird empfohlen, den Beischlaf am Freitag zu vollziehen.

Im Bezug auf die Häufigkeit heißt es, dass der Mann seiner Frau mindestens alle vier Tage beiwohnen sollte. Vor dem Beischlaf soll der Mann den Vers: "Gott ist Einer" (Sure 112, 1) rezitieren. Das Paar soll sich nicht so positionieren wie beim Gebet, also in Richtung Mekka. Es sollte auch eine Decke über sich legen und beim Vollzug nicht laut sein. Die entsprechende Prophetentradition lautet: "Wenn einer von euch seiner Frau beiwohnt, sollen beide nicht nackt sein wie Esel und nicht schnauben wie die Stiere." Die Quellen empfehlen dem Mann dringend, vor dem eigentlichen Beischlaf der Frau kosende Worte und Küsse zu geben. Außerdem soll er darauf achten, dass auch die Frau zu einem Orgasmus kommt. Zu den Vorschriften für den Beischlaf gehört auch das Verbot des Analverkehrs. Dafür wird das Prophetenwort angeführt: "Verflucht sei der Mann, der mit einer Frau in ihrem Hinterteil verkehrt."


Regeln zur Schwangerschaftsvermeidung

Zu den Besonderheiten der islamischen Sexualethik im Vergleich zu Judentum und Christentum gehören Regeln zur Schwangerschaftsvermeidung. Dazu muss zunächst festgestellt werden, dass Muslime auch mit ihren Sklavinnen sexuell verkehren durften. Wurde eine Sklavin schwanger, musste sie freigelassen werden. Um die Schwangerschaft zu verhindern, gestattete das islamische Recht den "Koitus Interruptus". Man konnte sich dabei auf verschiedene Aussprüche des Propheten beziehen wie: "Ein Mann sagte: O Gesandter Gottes, ich habe eine Magd. Ich übe mit ihr den Verkehr. Ich möchte aber nicht, dass sie schwanger wird. Da sagte er zu ihr: Übe mit ihr Verkehr mit Unterbrechung, wenn du willst; es wird ihr passieren, was ihr vorherbestimmt ist. Nach einer Weile kam der Mann wieder und sagte: Die Magd ist schwanger. Da sagte der Prophet: Ich habe dir gesagt, dass ihr geschieht, was ihr vorherbestimmt ist."

Daneben gab es aber auch noch weitere Begründungen. Man konnte auf diese Weise eine Schwangerschaft auch vermeiden, wenn man die Schönheit und Anmut seiner Frau bewahren wollte oder aus Furcht vor den Gefahren des Kindbetts. Als weiterer Grund wurde angegeben, dass man auch aus Furcht vor der Sorge, bei einer Vielzahl von Kindern den notwendigen Lebensunterhalt für diese nicht beschaffen könne, die Schwangerschaft verhindern dürfe. Dem steht eine Prophetentradition gegenüber: "Die interruptio coitus ist geheimer Kindesmord." Andere Gelehrte sprachen auch von einem "kleinen Kindsmord." All dem zugrunde liegt die vorislamische Praxis, neugeborene Mädchen bei lebendigem Leibe zu begraben. Dagegen hatte sich der Koran an verschiedenen Stellen auf das Heftigste ausgesprochen.

Mit diesen sich widersprechenden Quellen hatten die muslimischen Rechtsgelehrten natürlich Probleme. Die Mehrheit kam zu der rechtlichen Beurteilung, dass es sich bei dieser Form der Schwangerschaftsvermeidung um eine Missbilligung, aber nicht um ein eindeutiges Verbot handele. Schlussendlich waren und sind die gläubigen Muslime davon überzeugt, dass die Entscheidung darüber, ob es zu einer Schwangerschaft kommt oder nicht, allein in der Hand Gottes liegt.


Die Zensur nimmt in einigen muslimischen Staaten zu

Neben den Werken von muslimischen Rechts- und Religionsgelehrten befassten sich auch die mittelalterliche arabische medizinische Literatur und die Literatur der feinen Bildung mit der sexuellen Praxis. In so genannten Beischlaf-Büchern erörterten Mediziner systematisch die Vor- und Nachteile bestimmter Formen, Zeiten und Gelegenheiten für den Beischlaf unter allgemein-medizinischen und die Schwangerschaft fördernden Aspekten. Diese Schriften sind eine teilweise recht ermüdende Lektüre. Sie erfreuten sich jedoch offenbar eines gewissen Interesses, wenn man bedenkt, wie groß die Zahl der Titel dieser Werke und die der Handschriften einzelner Werke ist. In der Gattung der Literatur der feinen Bildung (Arabisch: Adab) finden sich in den unterschiedlichsten Zusammenhängen Hinweise auf das richtige Verhalten auch im sexuellen Bereich, daneben jedoch auch zum Teil recht drastische Anekdoten.

In der arabischen und persischen bildenden Kunst wie in der der indischen Moghulzeit sind erotische Darstellungen nicht selten. Da es sich aber fast ausschließlich um Miniaturen in Manuskripten handelt, war das Publikum sehr begrenzt. Diese Situation verändert sich erst im 19. Jahrhundert im Iran mit dem Aufkommen von weit verbreiteten Steindrucken und Holzschnitten, in denen erotische Situationen dargestellt werden. Solche Veröffentlichungen waren jedoch nur unter besonders liberalen politischen Herrschern möglich. Zu anderen Zeiten griffen die Zensurbehörden ein. Die Platten und Druckstöcke mussten dann so verändert werden, dass die Abbildungen keinen Anstoß mehr erregten.

Zensur spielt in der Gegenwart seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts in vielen muslimischen Staaten und mit steigender Intensität eine Rolle. Sie konzentriert sich vor allem auf Zeitschriften und Filme europäischer und amerikanischer Produktion. So werden teilweise einzelne Zeitschriften vom Markt genommen, wenn Abbildungen auch als Teil von Annoncen als anstößig empfunden werden. Spielfilme werden nicht selten so stark zensiert, dass die Zuschauer kaum noch den Handlungszusammenhang verstehen können.


Homosexuelle Handlungen zwischen Männern gelten als Unzucht

Während homosexuelle Praktiken zwischen Frauen vom islamischen Recht vergleichsweise selten thematisiert werden, werden sie zwischen Männern strikt abgelehnt. Dabei beziehen sich die Gelehrten auf die im Koran berichtete Strafe der Einwohner von Sodom und Gomorra. Über sie heißt es beispielsweise in Sure 54 bis 58: "Und gesandt haben wir Lot. Als er zu seinem Volk sagte: Wollt ihr denn das Schändliche begehen, wo ihr es doch seht? Wollt ihr denn in Begierde zu den Männern gehen statt zu den Frauen? Nein, ihr seid Leute, die töricht sind. Die Antwort seines Volkes war nur, dass sie sagten: Vertreibt die Sippe Lots aus eurer Stadt. Das sind Leute, die sich rein stellen (...). Und wir ließen einen Regen auf die niedergehen. Schlimm ist der Regen, der die Gewarnten traf."

In den Prophetentraditionen heißt es dann: "Der Prophet sagte: Gott wird auf keinen Mann schauen, der mit einem Mann oder einer Frau im Hinterteil verkehrt." Homosexuelle Handlungen zwischen Männern gelten nach islamischem Recht als Unzucht. Damit werden sie mit der Strafe bedroht, die auch für andere Formen von Unzucht gilt, mit der Todesstrafe durch Steinigung. Allerdings sind sich die Gelehrten in dieser Frage uneins. Manche fordern eine Bestrafung mit 100 Peitschenhieben und andere überlassen die Bestrafung Gott im Jenseits. Auch lesbische Beziehungen werden als Unzucht eingeschätzt. Hier wird die Strafe aber Gott überlassen.


Wie bei vielen anderen Tatbeständen des islamischen Rechts waren die Durchsetzung der entsprechenden Regeln und die Bestrafung bei Zuwiderhandlungen von den wechselnden politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen abhängig. In manchen historischen Phasen wurde Homosexualität streng verfolgt, in anderen herrschte eine erstaunliche Liberalität. Vor allem in der Zeit des frühen Abbasidenkalifats in Baghdad (Mitte des 8. bis 10. Jahrhunderts) galt Homosexualität in der Öffentlichkeit als ein Beweis für Eleganz und Vornehmheit. Poeten wie der auch für seine Weindichtung bekannte Abu Nuwas (757 bis 815) konnten sich in ihren Versen offen zu ihrer Neigung zu attraktiven jungen Männern bekennen. Einer der bedeutendsten Prosaschriftsteller dieser Zeit, al-Jahiz (781 bis 868), schrieb einen sprachlich höchst artifiziellen Text über die Frage des Vorzugs zwischen Homosexualität und Heterosexualität.

Immer wieder ist die Frage gestellt worden, ob derartige Texte als sexualhistorische Quellen verwendet werden können. Manche Kulturhistoriker waren der Meinung, dass es sich hier um dichterische Kunststücke ohne Bezug zur Realität gehandelt habe. Andere trugen vor, dass in den Texten gar nicht Jünglinge gemeint waren, sondern vielmehr die weiblichen Angebeteten der Dichter, die sich aber aus Rücksicht auf den Ruf der Damen nicht direkt äußern durften. Dem ist, ohne Anspruch auf eine endgültige Lösung dieser Frage, entgegenzuhalten, dass die überaus große Zahl von Gedichten und Prosatexten, die die Homosexualität thematisieren, ohne eine entsprechende liberale Haltung der Öffentlichkeit kaum produziert worden wären. Entsprechende literarische Beispiele findet man nicht nur aus der Umgebung des Hofes von Baghdad, sondern auch aus dem muslimischen Andalusien oder dem Iran. Miniaturen und Lackarbeiten mit homoerotischen Darstellungen finden sich vor allem aus dem Indien der Moghul-Herrschaft, dem Osmanischen Reich und dem Iran bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts.

Während Homosexualität als Kennzeichen von Eleganz und einer positiv bewerteten Dekadenz in der muslimischen Öffentlichkeit seit dem 11. Jahrhundert kaum noch eine Rolle spielte, blieb sie als Kennzeichen verschiedener größerer oder kleinerer gesellschaftlicher Gruppen weiterhin aktuell. Berufsgruppen wie Lehrer, die häufig mit jungen Männern oder männlichen Heranwachsenden in Kontakt waren, wurden in Anekdoten und Witzen bis in die Gegenwart immer wieder mit homosexuellen Aktivitäten in Verbindung gebracht. In den Texten der großen Meister des Sufitums spielt der männliche Geliebte wiederholt eine wichtige Rolle. Zwar wird diese Liebe in Beziehung gesetzt zur Liebe des Mystikers zu dem göttlichen Geliebten; sie hatte aber bei manchen Sufis auch eine sehr irdische Komponente.

Im Zusammenhang mit verschiedenen islamischen Reformbewegungen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert war die angebliche Homosexualität innerhalb der großen Sufiorganisationen ein häufig auftauchendes Moment der Kritik an der islamischen Mystik in ihrer Gesamtheit. Richtig ist sicher, dass gemeinsame Rituale und ekstatische Erfahrungen eine starke Verbundenheit zwischen den Anhängern eines bestimmten Sufimeisters oder eines Sufi-Ordens bewirkt. Der Vorwurf einer allgemein verbreiteten Homosexualität unter der häufig nach Millionen zählenden Mitgliederschaft der Orden entspricht sicher nicht den Tatsachen und hatte offenkundig eine religionspolitische Zielsetzung. Gleiches gilt auch für die vergleichbaren Vorwürfe gegen deviante muslimische Gemeinschaften wie die Bektaschi-Bewegung in der Türkei oder auf dem Balkan.


Seit der Modernisierung der muslimischen Gesellschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat die Homosexualität in vielen Staaten eine stärkere Marginalisierung erfahren. Vor allem im Bereich der Volkskultur spielte sie aber weiterhin eine Rolle. So beteiligen sich Homosexuelle als Musiker und Tänzer an dem in Marokko verbreiteten Gnawa-Kult, einem wohl aus Westafrika importierten Besessenheitskult, der von gebildeten Marokkanern abgelehnt wird. In Nord-Afghanistan gab es bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts unter dort ansässigen Uzbeken eine verbreitete Form der "Knabenliebe", bei der junge Männer vor einem männlichen Publikum entsprechende Lieder sangen und tanzten.


In den großen Städten der islamischen Welt wurde Homosexualität öffentlich nur in bestimmten Vergnügungsvierteln. Kabarett-Programme, in denen als Frauen verkleidete übergewichtige Männer auftraten und so genannte orientalische Tänze präsentierten, wurden aber auch in TV-Programmen ausgestrahlt. Trotz der Marginalisierung waren die muslimischen Gesellschaften aber nur latent feindlich gegenüber Homosexuellen eingestellt.

Diese Situation änderte sich mit der sich verstärkenden Re-Islamisierung dieser Gesellschaften seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Die verschärfte Ablehnung jeder Form von außerehelichen sexuellen Aktivitäten richtete sich auch gegen Homosexuelle, die in manchen Staaten offener Verfolgung ausgesetzt sind.

In der muslimischen Diaspora Europas können homosexuelle Muslime dagegen offener in Erscheinung treten, wenngleich die Mehrheit der muslimischen Minderheit ihnen distanziert gegenübersteht. Muslimische Homosexuelle haben sich seit den neunziger Jahren in Europa stark organisiert. Sie betreiben Diskotheken und andere Einrichtungen für Homosexuelle, zu denen auch Nicht-Muslime Zutritt haben. Vor allem aber haben sich Organisationen von homosexuellen Muslimen etabliert, die sich als gläubig und praktizierend verstehen und als solche durch Publikationen, Auftritte im Internet und öffentliche Veranstaltungen Anerkennung für ihre Lebensweise von ihrer Glaubensgruppe in Europa einfordern. Zugleich sehen sie sich aber auch als Sprecher und Vertreter von Homosexuellen in muslimischen Staaten, die sich aus gesellschaftlichen und politischen Gründen weniger offen äußern können.


Peter Heine (geb. 1944) war von 1994 bis 2009 Professor für Islamwissenschaft des nicht-arabischen Raumes an der Berliner Humboldt-Universität. Zuletzt veröffentlichte er: "Märchen, Miniaturen, Minarette. Eine Kulturgeschichte der islamischen Welt", Primus-Verlag, Darmstadt 2011.

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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
66. Jahrgang, Heft 6, Juni 2012, S. 307-312
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. September 2012