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GESCHICHTE/005: Religion und nationale Identität im Iran (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion 10/2007

Ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein
Religion und nationale Identität im Iran

Von Peter Heine


Von Anfang an hatte der Iran in der islamischen Welt eine Sonderstellung, die durch die Einführung des Schiitismus als Staatsreligion im 16. Jahrhundert noch verstärkt wurde. Bis heute besteht eine enge Verbindung zwischen dem Bekenntnis zur Schia und der nationalen Identität, die sich nicht zuletzt in einem iranischen Überlegenheitsgefühl äußert.


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Der Iran spielte von jeher eine Sonderrolle im Konzert der islamischen Kulturen. Ihn kannten die frühen Araber am besten von allen Staaten, denen sie sich gegenübersahen. Iran war der erste Staat, der unter dem Ansturm der muslimischen Heere zusammenbrach. Aber wie schon so oft zuvor und später in der Menschheitsgeschichte bedeutete diese Niederlage nicht das Ende der Kultur, der Identität und der Existenz Irans als politische Entität.

Die vor-islamische iranische Kultur war von anderer, im technischen, organisatorischen und intellektuellen Bereich überlegener Art im Vergleich zu der naturverbundenen, von Stammesstrukturen geprägten früh-islamischen arabischen Kultur, die durch die Entstehung des Islams zweifelsohne eine neue dynamische Qualität erhalten hatte. Die muslimischen Heere konnten in einer rasanten Ausbreitungsbewegung innerhalb weniger Jahrzehnte zwar weite Landstriche des südlichen und westlichen Mittelmeerbereichs, Irans, Zentralasiens, ja sogar Teile des indischen Subkontinents unter ihre Kontrolle bringen.

Muslime blieben im bevölkerungsreichen Syrien oder Ägypten aber ebenso für Jahrhunderte in der Minderheit wie in den weiten Ebenen zwischen Euphrat und Oxus und darüber hinaus. Eine Zwangkonversion zum Islam war unrealistisch und auch gar nicht im Interesse der muslimischen Herrscherklasse. Der Koran hatte Juden und Christen, aber auch die iranischen Zoroastrier, im Koran als Mâjûs, Magier bezeichnet, zu "Leuten des Buches", also Angehörigen von Offenbarungsreligionen erklärt und sie unter den Schutz des islamischen Staates gestellt. Für diesen Schutz mussten die "Schutzgenossen" eine spezielle Steuer bezahlen, auf die der islamische Staat angewiesen war.


Der Islam verstand sich zunächst als Religion der Araber

Daher hat es gerade in den ersten 150 Jahren immer wieder Tendenzen gegeben, die Konversion zum Islam für Juden, Christen oder Zoroastrier zu erschweren. Die Organisation und Verwaltung eines so großen Reiches, wie es der Staat der "rechtgeleiteten" Kalifen seit Omar (634 - 644) darstellte, konnte durch die Formen politischer Entscheidungsfindung, wie sie im tribalen System der arabischen Halbinsel angewandt wurden, nicht erfolgreich praktiziert werden. Das war den Pragmatikern unter den frühen muslimischen Führern schnell klar geworden. Daher ließen sie die vorhandenen administrativen Strukturen zunächst weitgehend bestehen.

In Ägypten oder Syrien galten weiter die Regelungen und Strukturen, die durch den byzantinischen Staat seit Jahrhunderten mehr oder weniger erfolgreich angewendet worden waren. In Mesopotamien und Iran blieben die Strukturen des sassanidischen Großreichs bestehen. Auch das Verwaltungspersonal blieb das gleiche. Die Araber wären wegen der fehlenden administrativen Kompetenz und der geringen Zahl des verfügbaren Personals nicht in der Lage gewesen, die erforderlichen Funktionen und Aufgaben in der Verwaltung zu übernehmen. Darüber hinaus gab es auch eine gewisse Abneigung bei vielen von ihnen gegenüber der Tätigkeit des "Schreibers". Ihnen lag mehr an dem freien Leben des Ritters, der die Wüsten Syriens oder Irans durchzog.

Die Verhinderung oder zumindest Erschwerung der Konversion zum Islam hatte nicht nur administrativ-fiskalische Motive. Es gab auch einen Grund, der in der Sozialstruktur des frühen Islam begründet war. Dieser verstand sich, trotz der zweifellos vorhandenen Tendenzen zum Universalismus, zunächst immer noch als eine Religion der Araber. Indem man den Islam annahm, wurde man in gewisser Weise daher auch Araber. Die Araber der arabischen Halbinsel waren jedoch in großen tribalen Strukturen, in Stämmen, organisiert, deren Organisationsstrukturen auf vor-islamische Zeiten zurückgingen und sich durch die Ankunft des Islams auch nicht verändert hatten.

Entschloss sich also ein syrischer Christ, mesopotamischer Jude oder iranischer Zoroastrier, zum Islam zu konvertieren, verlor er den Rückhalt seiner ursprünglichen Religionsgemeinschaft, auf den er in den Fährnissen des Alltags aber angewiesen war. Der Schutz der Religionsgemeinschaft in juristischen oder geschäftlichen Auseinandersetzungen, bei Krankheit, bei der Suche nach einer Ehefrau oder bei der Versorgung im Alter ging verloren, wenn man diese Gemeinschaft verließ.

Bei der Konversion zum Islam waren es die Muslime, also in der Frühzeit nahezu ausschließlich Araber, die diese Grundsicherung der existenziellen Bedürfnisse sicherstellen mussten. Die tribale Struktur der arabischen Stämme kannte aber nur die Zugehörigkeit zum Stamm durch die Geburt. Man konnte also nur Stammesangehöriger sein, wenn man einen Vater aus diesem Stamm hatte. Es gab allerdings die Möglichkeit für Einzelpersonen, sich einem Stamm als Klient (Maulâ, pl. Mawâlî) anzuschließen.

Das war im Verlauf der vor-islamischen Geschichte immer wieder einmal geschehen. Diese Klienten wurden in den Stamm aber nicht als gleichberechtigte Mitglieder aufgenommen. Sie erhielten den Schutz der Gemeinschaft gegenüber Angriffen von Fremden, auch eine soziale Grundsicherung wurde gewährleistet; aber eine Einheirat in den Stamm war nicht möglich, auch wenn ein Maulâ sich als tapfer, kampfkräftig, beredt oder wirtschaftlich potent erwiesen hatte. Er blieb ein Stammesmitglied zweiter Klasse. Nicht zuletzt wegen der fehlenden Heiratsmöglichkeit mit einer Frau aus dem Stamm blieb auch die Nachkommenschaft des Klienten in einer weniger angesehenen Position.


Viele bedeutende Gelehrte hatten einen iranischen Hintergrund

Gleiches musste nun für die Menschen gelten, die sich dem Islam anschlossen und dadurch in der gesellschaftlichen Praxis in einen Stamm aufgenommen wurden, indem sie sich nicht nur als neue Gläubige der Religion, sondern konkret auch dem Angehörigen eines bestimmten Stammes als dessen Klient anschlossen. Für die erste Generation der Konvertiten hat sich diese Situation offenbar kaum als besonderes Problem dargestellt, da sie als Neo-Muslime die Muslime, die von Geburt an dem Islam angehörten oder die gar durch den Propheten Muhammad selbst in den Islam aufgenommen worden waren, als religiöse Autoritäten anerkannten. Häufig waren ihre Kenntnisse vom Islam und ihre Fähigkeit in der Sprache des Korans, dem Arabischen, auch noch nicht so weit entwickelt, dass sie sich selbstständig in der neuen Religion zurecht finden konnten.

Sie waren also auf ihre älteren muslimischen "Herren" angewiesen. Diese Situation veränderte sich aber in der zweiten und den späteren Generationen der muslimischen Klienten. In den folgenden Generationen der Klienten fanden sich häufig besonders begabte oder ehrgeizige Männer, die sich vor allem im literarischen und im religiösen Bereich hervortaten. Einige der bedeutendsten Gelehrten und Schriftsteller des islamischen Mittelalters kamen aus Mawâlî-Familien. Zu ihnen zählte der erste arabische Universalhistoriker und bedeutende Korankommentator, al-Tabari (gest. 923), der aus dem iranischen Tabaristan stammte, oder der wichtige arabische Grammatiker Sibuwaih (gest. 793), dessen Namen auf Persisch "kleiner Apfel" bedeutet, und zahlreiche weitere Gelehrte, Astronomen, Mediziner oder Philosophen. Sie alle hatten einen iranischen Hintergrund.

Die Ursache für diese Stärke des iranischen Moments hängt mit der Verlagerung des politischen Schwerpunkts des islamischen Reiches von Damaskus nach Baghdad zusammen, als im Jahre 750 die Dynastie der Abbasiden die Herrschaft von den Omayyaden übernahmen. Es waren iranische Unterstützer gewesen, die den Abbasiden zum Erfolg über die Omayyaden verholfen hatten. Daher kam es nun zu einer langsamen, aber stetigen Gleichstellung von Mawâlî mit den Arabern, die schlussendlich von den iranischen Neu-Muslimen im politischen und wissenschaftlichen Bereich an Bedeutung und Einfluss überflügelt wurden.

Die neue Dynastie entwickelte im administrativen Bereich wie auch im Hofprotokoll neue Formen nach dem Vorbild der vor-islamischen iranischen Herrscherhäuser. Ein großer Teil der Beamtenschaft des neuen Reiches hatte einen iranischen Ursprung. Moderne arabische Kritiker dieser Entwicklung sprechen von einer Iranisierung des arabischen Reiches. Dies ist sicherlich zu scharf formuliert. Was aber durch die Anerkennung der Mawâlî als vollwertige Muslime geschah, war die Verwandlung des Islams von einer arabischen Religion hin zu einer mit einem globalen Anspruch.

Die großen militärischen Bewegungen im Osten des Iran mit dem Auftauchen von Turkvölkern und Mongolen, die sich nach Westen bewegten, ließ das iranische Moment im Islam für einige Zeit in den Hintergrund treten. Das änderte sich plötzlich im Jahr 1501, als der erste Herrscher der Safawiden-Dynastie im Iran, Schah Ismail, die zwölferschiitische Form des Islams zur Staatsreligion in seinem Reich machte. Damit hatte diese Minderheitsgruppe im Islam eine "Heimstatt".

Der Iran wurde zu dem schiitischen Staat schlechthin, auch wenn in Mesopotamien, im Südlibanon, Nord-Indien und anderswo schiitische Gemeinschaften lebten. Persisch wurde nun zur wichtigsten Literatursprache der Schiiten, auch wenn Arabisch weiterhin die heilige Sprache des Korans blieb. Die Schia bot den Iranern die Möglichkeit, ihre nationale Identität in religiöser Form zu dokumentieren. Politisch, vor allem aber theologisch und intellektuell, koppelte sich der Iran nun von den Entwicklungen im sunnitischen Mehrheitsislam immer stärker ab.

Es entstand eine eigene neu-persische Literatur, die mit Werken wie denen des Schah-Nameh des Firdusi (gest. um 1020) auch auf die vor-islamische Vergangenheit des Irans Bezug nahm. Vor allem in der zeitweiligen Hauptstadt Isfahan entwickelte sich ein lebhaftes intellektuelles Leben, das in Philosophie und Theologie eine neue Grundlage für die weitere Entwicklung des schiitischen Islams, auch über den Islam hinaus legte. Es war auch und vor allem die schiitische Geistlichkeit, die den entscheidenden Faktor bei den Auseinandersetzungen des iranischen Staates mit den europäischen Kolonialmächten, vor allem das zaristische Russland und Großbritannien, darstellten.

In dieser Konfrontation fanden sich nationale und religiöse Motive zusammen, die gegen die fremden Angriffe gemeinsame Sache machten. Neben dem russisch-britischen Antagonismus waren es die iranischen Religionsgelehrten, die zu Ende des 19. Jahrhunderts dafür sorgten, dass der Iran seine völkerrechtliche Souveränität behalten konnte, auch wenn er Teile seines Staatsgebiets an das Zarenreich abgeben musste. Aber auch in den inner-islamischen Auseinandersetzungen ergaben sich gemeinsame Interessen von Religion und Nation.


Die schiitische Geistlichkeit als entscheidender Faktor

Der Hauptgegner des Iran war das Osmanische Reich, dessen Sultan sich vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Schutzherr der sunnitischen Muslime in der Welt verstand. Eine der Regionen, in denen es immer wieder zu Konflikten zwischen Iran und Osmanischem Reich kam, war Mesopotamien, wo sich einige der wichtigsten Heiligtümer des schiitischen Islams befinden. In den "heiligen Schwellen", den Städten Kerbela, Najaf, Kazimiyya und Samarra, hatten sich auch die wichtigsten Zentren schiitischer Gelehrsamkeit etabliert, die nicht ohne Einfluss auf die politischen Entwicklungen im Iran blieben.

Zwischen diesen und dem Iran fand auch ein regelmäßiger und lebhafter Personenaustausch statt. Der iranische Konsul in Baghdad war eine wichtige politische Figur. Sehr zum Ärger arabischer Nationalisten wurde in vielen Schulen im Zweistromland nach iranischen Lehrplänen und Lehrmethoden unterrichtet. Bis heute ist das Land nicht nur aus strategischen und ökonomischen, sondern gerade aus religiösen Gründen eine besondere Interessensregion geblieben.

Das nationale wie das religiöse Moment sind durch das gesamte 20. Jahrhundert die bestimmenden Faktoren der iranischen Innen- wie Außenpolitik gewesen. Dabei gab es durchaus Kontroversen um die Frage der Nation. Unter dem Regime der beiden Pahlavi-Herrscher Reza Khan und Muhammad Reza spielte das nationale Moment die entscheidende Rolle. Da die Religion als Gefahr für die politische Stabilität der Pahlavi-Dynastie betrachtet wurde, entwickelte das Regime vor allem unter Muhammad Reza ein Konzept der Rückbesinnung auf die vor-islamische Kultur und Geschichte des Irans, die ihren Höhepunkt 1971 in der 2500-Jahr-Feier Irans in Persepolis fand. Das vor-islamische Erbe des Iran wurde seit den sechziger Jahren im Iran allenthalben in den Vordergrund der iranischen Geschichte gestellt und blieb nicht ohne Einfluss auf das kulturelle Selbstverständnis der iranischen Bevölkerung.

Allerdings hatte sich rasch auch eine Gegenposition entwickelt, die diesen Bezug auf die Zeit vor dem Islam kategorisch ablehnte. Diese wurde durch die religiöse Opposition gegen das Pahlavi-Regime formuliert. Einer der einflussreichsten islamistischen Denker vor der Islamischen Revolution von 1979/1980 war der Soziologe Ali Schariati (gest. 1977). In einer seiner Reden nahm er auch zur Frage der vor-islamischen Geschichte des Iran und ihrer Bedeutung für die religiöse und nationale Identität der Iraner Stellung.

Dabei sagte er: "Wenn wir von der Rückkehr zu den eigenen Wurzeln sprechen, meinen wir eigentlich die Rückkehr zu den eigenen kulturellen Wurzeln. Vielleicht kommt mancher zu dem Schluss, wir Iraner müssten zu unseren rassischen Wurzeln zurückkehren. Dieser Schlussfolgerung widersetze ich mich mit Entschiedenheit. Ich bin gegen Rassismus, Faschismus und Reaktion. Die islamische Kultur hat uns wie eine Schere vollständig von unserer vorislamischen Vergangenheit abgeschnitten. Fachleute wie beispielsweise Archäologen oder Frühhistoriker wissen sicher eine ganze Menge über die Sassaniden, die Achämeniden und noch frühere Kulturen, aber das Volk weiß von diesen Dingen nichts. Das Volk findet seine Wurzeln nicht in diesen Kulturen. Das Volk hat keine Erinnerung an seine frühe Vergangenheit und will nichts über die vorislamischen Kulturen lernen. Die Rückkehr zu unseren Wurzeln bedeutet daher nicht die Wiederentdeckung des vor-islamischen Irans, sondern die Rückkehr zu unseren iranischen - sprich schiitischen - Wurzeln."

Ayatollah Khomeini, der Führer der islamischen Revolution im Iran (gest. 1990) sagte aus Anlass der 2500-Jahr-Feier in Persepolis: "Die Existenz von Königen in der Geschichte der Völker ist betrüblich und schändlich. Ihre Existenz muss zu Trauerfeierlichkeiten Anlass geben und nicht zu Festlichkeiten. Die Nichtteilnahme an diesem Fest ist eine religiös-rechtliche Pflicht. Der Islam steht grundsätzlich im Gegensatz zu den Prinzipien des Königtums. Jeder, der die Biographie des Propheten Muhammad hinsichtlich der Einrichtung eines Staates studiert hat, sieht deutlich, dass der Islam antrat, um die Paläste des tyrannischen Königtums zu zerstören, und dass die Monarchie nach Ansicht des Islams zu den abscheulichsten Erscheinungen des Rückschritts und der Rückständigkeit gehört."

Der schiitische Islam als nationales Identitätsmerkmal reichte also für die Vertreter der islamischen Revolution im Iran völlig aus. Doch auch in den iranischen Kreisen, die dem islamischen Regime in Teheran eher kritisch gegenüberstehen, wird die vor-islamische Kultur des Iran nicht als grundsätzlich identitätsstiftend betrachtet. Hier wird gerne Bezug genommen auf die zahlreichen Gestalten der islamischen Geistesgeschichte, die aus dem Gebiet des heutigen Iran kamen. Dabei wird nicht von ungefähr vor allem auf die Gelehrten hingewiesen, die gerade nicht als Theologen bekannt geworden sind. Hauptfiguren dieser Tradition sind Ärzte und Philosophen wie Avicenna (Ibn Sina) oder Universalgelehrte wie al-Biruni, deren geistige Leistungen einen beträchtlichen Einfluss weit über den Iran hinaus ausübten.

Das Verhältnis der regimefernen iranischen Eliten wie der führenden religiösen Kreise gegenüber den benachbarten Staaten, vor allem gegenüber der Türkei und den arabischen Staaten, ist von einem deutlichen Überlegenheitsgefühl gekennzeichnet. Das macht sich einerseits in abwertenden Bezeichnungen und Redensarten deutlich, wenn Araber als "Heuschreckenfresser" bezeichnet werden oder von Türken gesagt wird, dass deren Verstand erst in der zweiten Tageshälfte zu arbeiten beginnt. Die Angehörigen der säkularen Eliten weisen im Gespräch gerne darauf hin, dass der Iran sich modernen westlichen Vorstellungen schon weit vor den Arabern geöffnet habe.

Schon zu Zeiten der Französischen Revolution hätten sich Iraner mit den Idealen von Vernunft, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auseinandergesetzt. Schon Ende des 19. Jahrhunderts habe es eine erfolgreiche Verfassungsbewegung gegeben, iranische Reformer hätten zu dieser Zeit umfangreiche Konzepte für eine Modernisierung von Staat und Gesellschaft formuliert und in eigenen Zeitschriften debattiert. Die Vertreter der religiösen Eliten weisen darauf hin, dass es iranische Gelehrte waren, die über Jahrhunderte in den auf arabischem Boden liegenden schiitischen Zentren der Gelehrsamkeit den Ton angegeben und die bedeutendsten Debatten angestoßen hätten.

All diesen Äußerungen liegen auch in der Tat die entsprechenden geistesgeschichtlichen und kulturhistorischen Tatsachen zu Grunde. In der gegenwärtigen Krise der Marja'iyya, also der Vakanz der Position einer höchsten religiösen Autorität im schiitischen Islam, werden von vielen Schiiten derzeit die verschiedenen in Frage kommenden Kandidaten besprochen. Wenn man sich mit iranischen Gläubigen oder mit säkularen Iranern über dieses Thema unterhält, wird von beiden Gruppen von Gesprächspartnern darauf hingewiesen, dass es ausschließlich Gelehrte iranischer Herkunft sind, die für diese herausragende und politisch einflussreiche Position in Frage kommen. Dabei spielt es keine Rolle, dass diese Männer sich unter Umständen schon mehr als ein halbes Jahrhundert außerhalb des Iran aufhalten. Die Frage der nationalen Zugehörigkeit wird wichtiger genommen als die theologischen oder ideologischen Einstellungen der Kandidaten.

Der Iran spielt also im Selbstverständnis der Iraner zu Recht eine Sonderrolle im Reigen der islamischen Staaten. Iraner, leben sie im eigenen Land oder im Exil, sehen sich als eine kulturelle und intellektuelle Elite gegenüber anderen islamischen Nationen. Auch für nicht praktizierende iranische Schiiten ist der schiitische Islam eine kulturelle Besonderheit, die ihre Identität ausmacht.


Peter Heine (geb. 1944), Dr. phil.; 1978 Habilitation für das Fach Islamwissenschaft; seit 1994 Professor für Islamwissenschaft des nicht-arabischen Raumes an der Berliner Humboldt-Universität; zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: Schauplatz Iran. Hintergründe eines Weltkonflikts, Freiburg 2002; Islam zur Einführung, Hamburg 2003.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
61. Jahrgang, Heft 10, Oktober 2007, S. 511-515
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. November 2007