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MELDUNG/023: Junge Muslime gehen auf Distanz zu althergebrachten Werten (idw)


Leuphana Universität Lüneburg - 19.10.2011

Junge Muslime gehen auf Distanz zu althergebrachten Werten

Leuphana-Studie zeigt einen Trend zur Emanzipation auch in vom Islam geprägten Gesellschaften


In muslimisch dominierten Ländern haben Frauen oft ein geringeres Mitspracherecht als etwa in protestantisch geprägten Gesellschaften. Allerdings trifft dieses Machtungleichgewicht bei jungen Muslimen auf deutlich weniger Zustimmung als bei älteren. Das zeigt eine aktuelle Studie der Leuphana Universität Lüneburg. Die Forscher werten dieses Ergebnis als Indiz, dass der weltweite Trend zur Emanzipation auch vor muslimisch geprägten Gesellschaften nicht halt macht. Andererseits zeigen die Daten auch, dass patriarchale Werte stark in der muslimischen Identität verankert sind. Für ihre Untersuchung haben die Wissenschaftler Umfragedaten von mehr als 130.000 Personen aus 83 Ländern analysiert. Es ist die damit wohl umfangreichste Studie zu diesem Zusammenhang, die bislang durchgeführt wurde. Die Resultate sind im renommierten International Review of Sociology erschienen (DOI: 10.1080/03906701.2011.581801).

Die Forscher haben für ihre Studie auf Daten der 1981 gestarteten Welt-Werte-Erhebung zurückgegriffen. Inzwischen haben gut 330.000 Menschen aus 97 Ländern an der Umfrage teilgenommen. Sie beantworteten unter anderem Fragen nach ihrer Religionszugehörigkeit, nach der Häufigkeit der Gottesdienst-Besuche und nach der Rolle, die Gott in ihrem Leben spielt. Außerdem gaben sie zu Protokoll, wie sehr sie Aussagen wie "Alles in allem sind Männer bessere politische Führer als Frauen" oder "Eine Universitätsausbildung ist für Jungen wichtiger als für Mädchen" zustimmen.

"Bei der Auswertung der letzten beiden Umfrage-Staffeln fällt auf, dass sich Muslime mit derartigen Aussagen signifikant stärker identifizieren als Nicht-Muslime", erläutert Professor Dr. Christian Welzel von der Leuphana Universität Lüneburg. "Dieser Zusammenhang gilt unabhängig davon, ob die Befragten in einem muslimischen Land wie Saudi-Arabien wohnen, in einer vorwiegend christlichen Gesellschaft wie den USA oder etwa im hinduistisch geprägten Indien." Allerdings stimmt diese Aussage nur, wenn man Muslime und Nicht-Muslime derselben Gesellschaft miteinander vergleicht: Die Moslems in Deutschland sind im Schnitt patriarchaler eingestellt als etwa die Katholiken hierzulande.

Ein weiteres Ergebnis: Im Schnitt sind Muslime deutlich religiöser als etwa Katholiken oder Juden. Man könnte daher denken, dass die stärkere Unterstützung für patriarchale Werte einfach von dieser stärkeren Religiosität herrührt. "Das ist aber nicht der Fall", betont Welzels Co-Autorin Dr. Amy Alexander vom Zentrum für Demokratieforschung der Leuphana. "Wir haben uns beispielsweise nur diejenigen Menschen angeschaut, in deren Leben Gott eine besonders wichtige Rolle spielt. Auch innerhalb dieser Subgruppe identifizieren sich Muslime erheblich stärker mit den patriarchalen Aussagen als Angehörige anderer Religionen."


Patriarchale Werte scheinen Teil der muslimischen Identität

In Gesellschaften, in denen viele Menschen dem Islam angehören, gibt es meist eine ausgeprägte Kluft zwischen den Geschlechtern: Männer erhalten im Schnitt eine bessere Ausbildung, gehen häufiger einer bezahlten Arbeit nach und bekleiden weitaus öfter Positionen mit Macht und Einfluss - von wenigen Ausnahmen abgesehen. Diese Zusammenhänge sind gut belegt; strittig war bislang aber, woran das liegt. Manche Forscher vermuten eine starke Verankerung patriarchaler Werte in der muslimischen Identität, andere sehen eher strukturelle Ursachen: So haben viele muslimische Länder keine demokratische Tradition. Die (meist ebenfalls vom Islam geprägten) Ölförderstaaten bieten zudem weniger Arbeitsmöglichkeiten für Frauen, was sich auch auf ihre Rolle in der Gesellschaft auswirken könnte.

"Keine dieser strukturellen Ursachen kann nach unseren Daten als Erklärung für die ausgeprägte Ungleichbehandlung von Mann und Frau in muslimischen Staaten dienen", erklärt Amy Alexander. "Stattdessen scheint es so zu sein, dass der Islam selbst eine Ursache dieser patriarchalen Strukturen ist." Allerdings seien Muslime nicht per se Anhänger des Patriarchats: Frauen unterstützen die traditionelle Rollenverteilung weniger als Männer, Muslime mit Universitätsabschluss weniger als solche mit einem niedrigen Bildungsniveau. Zudem scheint auch in islamischen Staaten die Unterstützung für patriarchale Werte abzunehmen: Junge Muslime sind - unabhängig von ihrem Geschlecht - weit weniger als ihre Eltern davon überzeugt, dass Frauen hinter den Männern zurückstehen müssen. Vor allem Musliminnen unter 30 emanzipieren sich zunehmend von dem ihnen zugedachten Platz in der Gesellschaft. Ein besserer Zugang von Frauen zu Ausbildung und Arbeitsmarkt könnte diesen Trend weiter fördern.


Die Gesellschaft prägt mehr als die Religionszugehörigkeit

Überrascht waren die Lüneburger Forscher von einem anderen Ergebnis: Je höher der Anteil von Muslimen in einer Gesellschaft ist, desto höher ist die durchschnittliche Identifikation aller Gruppen in dieser Gesellschaft mit patriarchalen Werten. In einem muslimisch dominierten Land vertreten also auch die Nicht-Muslime vergleichsweise weniger emanzipatorische Ansichten. Christian Welzel erklärt das so: "Wir werden in unserem Denken stark vom Meinungs- oder Werteklima in der uns umgebenden Gesellschaft geprägt. Dieses Werteklima ist immer der Referenzpunkt für unsere eigene Positionierung." Dass es diesen Effekt gibt, wissen Soziologen schon lange. Allerdings ist er unerwartet stark. Er übertrifft sogar deutlich den Einfluss der individuellen Religionszugehörigkeit: So sind Muslime in Deutschland emanzipierter als Katholiken in Saudi-Arabien.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Leuphana Universität Lüneburg, Henning Zuehlsdorff, 19.10.2011
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E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Oktober 2011