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INTERNATIONAL/072: Irak - Radikal-schiitische Milizen machen Jagd auf Schwule und "Emos" (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 16. März 2012

Irak: Bestialisch ermordet - Radikal-schiitische Milizen machen Jagd auf Schwule und 'Emos'

von Karlos Zurutuza


Bagdad, 16. März (IPS) - In den staubigen Straßen der irakischen Hauptstadt Bagdad tauchen sie auf wie aus dem Nichts: die Leichen von Homosexuellen und 'Emos', die sterben mussten, weil ihnen radikal-orthodoxe Schiiten jedes Lebensrecht absprechen.

"Sie schlugen ihm mit einem Felsbrocken den Schädel ein", schildert Ruby das Schicksal von Saif Asmar und zeigt ein Foto, auf dem der Freund aufgrund der erlittenen Verletzungen kaum wiederzuerkennen ist. Ruby, der seinen wirklichen Namen aus Sicherheitsgründen geheim hält, kann seine Gefühle - eine Mischung aus Wut und Angst - kaum zurückhalten. "Möglicherweise bin ich als nächster dran", sagt er.

Im Irak machen Todesschwadronen Jagd auf Schwule und Mitglieder der Emo-Jugendbewegung, die auch im Golfstaat düster und melancholisch, gepierct, tätowiert und mit dick kajalumränderten Augen daherkommen.

Verschärft hat sich die Hexenjagd auf die beiden Zielgruppen seit dem 6. Februar. An diesem Tag wurden Ahmad Arusa in Sadr-Stadt und vier weitere Menschen in Geyara ermordet, die für Schwule oder Teufelsanbeter gehalten wurden. Für die in den beiden Stadtteilen im Osten Bagdads lebenden Schiiten seien Tattoos und Piercings Ausdruck von Homosexualität und Teufelskult, meint Ruby. Inoffiziellen Schätzungen zufolge wurden seitdem mehr als 80 Homosexuelle ermordet.

Im Januar hatte das irakische Innenministerium die Emo-Bewegung als "satanistisch" bezeichnet und angekündigt, eine Sondereinheit der Polizei werde die Angelegenheit regeln.


Erschlagen, zerstückelt, verbrannt, verätzt

Die meisten Opfer wurden mit Steinen erschlagen oder wie in Khadimiya, einem westlichen Bezirk der Hauptstadt, mit Säure zu Tode geätzt. Zuvor hatte man ihre Namen auf öffentlich ausgehängten Todeslisten ausgestellt.

Ruby macht die Mehdi-Miliz für die Verbrechen verantwortlich, eine vom Kleriker Moqtada al-Sadr geführte ehemalige Rebellengruppe. "Die Verbrechen gingen in der Regel straffrei aus", sagt der junge Mann. Ohne internationalen Druck werde das Morden weitergehen, ist er überzeugt.

Dalal Jumma von der Organisation 'Frauen-Freiheit im Irak' sieht das Hauptproblem darin, dass der Irak kein laizistischer Staat ist. "In den Steckbriefen ist die Rede davon, dass Homosexuelle oder 'Emo-Satanisten' am Martyrium des im 17. Jahrhunderts ermordeten schiitischen Gemeindeführers Imam Hussein beteiligt waren", empört sie sich.

IPS liegt eine Todesliste vor, wie sie in Sadr-Stadt im Umlauf war. Sie enthält 33 Namen und ordnet sie Wohnblöcken zu, in denen die Betroffenen leben sollen. "Wenn ihr euer zügelloses Leben nicht innerhalb von vier Tagen aufgebt, wird euch die Strafe Gottes durch die Hand der heiligen Mudschaheddin - Islamischen Kämpfer treffen", lautet die enthaltene Drohung.

Aus dem Büro von Moqtada al-Sadr in Sadr-Stadt ist zu hören, dass man mit den Morden nichts zu tun habe. Der religiöse und politische Führer Bahim Jawary forderte eine Untersuchung "aller Verbrechen inklusive jener gegen Moral und die Gesetze Gottes".

Für Madi gab eine E-Mail den Ausschlag, ihr Elternhaus zu verlassen. "Darin hieß es, man werde meine Familie informieren, dass ich lesbisch sei, sollte ich das Land nicht unverzüglich verlassen", berichtet die inzwischen untergetauchte 26-Jährige in einem Telefoninterview mit IPS. Solche Drohungen seien ernst gemeint. "Im Irak gibt es viele Lesben, die von ihren älteren Brüdern umgebracht werden. Die Verbrechen werden als 'Ehrenmorde' oder 'Familienangelegenheit' geduldet", berichtet Madi.

Die in London angesiedelte Organisation irakischer Lesben, Schwuler, Bi- und Transsexueller (LGBT) geht davon aus, dass im Irak in den letzten sechs Jahren mindestens 720 LGBT von extremistischen Milizen ermordet wurden.

"Moqtada al-Sadrs Milizionäre und die irakischen Sicherheitskräfte gehen mit uns besonders brutal um", berichtet Madi. Das habe auch mit einem vor vier Jahren verhängten Fatwa zu tun, das zu einer möglichst bestialischen Form der Todesstrafe aufruft. So seien viele Menschen zerstückelt oder bei lebendigem Leib verbrannt worden.


Folter üblich

Wie aus einem Bericht der Menschenrechtsorganisation 'Human Rights Watch' (HRW) von 2009 hervorgeht, werden die Opfer vor ihrer Ermordung gefoltert, damit sie weitere Namen preisgeben. Laut HRW kommt es häufig zu grotesken Foltermethoden, etwa Männer zu mästen, deren Darmausgang man zuvor verklebt hat.

Die Übergriffe durch schiitische Fundamentalisten haben bei einigen Politikern Abscheu hervorgerufen. "In Sachen Menschenrechte bewegen wir uns ins Mittelalter zurück", meint Ashwaq Jaf, eine Abgeordnete der Kurdischen Allianz. "Die Krux an der Sache ist, dass wir zwei Strafrechtssysteme haben: die irakische Verfassung und die (islamische Rechtsprechung) Scharia. Widersprüchlichkeiten zwischen beiden Systemen führen häufig zu einem gefährlichen rechtlichen Vakuum."

Doch meist werden die Übergriffe verharmlost. "Die Stigmatisierung von Schwulen spiegelt eine gesellschaftliche Realität wider", meint Saad al-Muttabili, ein Mitglied der Dawa-Partei des Ministerpräsidenten Nouri Maliki. Bei den Tätern handele es sich um sunnitische Milizen, die Al Kaida nahe stünden oder vom Iran unterstützt würden.

"Die Situation wird sich normalisieren. In Karrada sind gleichgeschlechtliche Paare zu sehen, die Händchen halten", meint Muttabili. Bis es soweit sei, hätten Ladeninhaber im Einkaufszentrum von Bagdad Totenköpfe und T-Shirts, die auf eine Mitgliedschaft in der Emo-Bewegung schließen ließen, sicherheitshalber aus den Regalen entfernt. (Ende/IPS/kb/2012)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. März 2012