Schattenblick →INFOPOOL →REPRESSION → FAKTEN

INTERNATIONAL/089: Chile - Mit Polizeigewalt gegen Mapuche-Landforderungen, indigene Kinder verletzt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 30. Juli 2012

Chile: Mit Polizeigewalt gegen Mapuche-Landforderungen - Indigene Kinder verletzt

von Marianela Jarroud


Kinder einer traditionellen Mapuche-Siedlung in Temocuicui - Bild: © Fernando Fiedler/IPS

Kinder einer traditionellen Mapuche-Siedlung in Temocuicui
Bild: © Fernando Fiedler/IPS

Santiago, 30. Juli (IPS) - Im langjährigen Streit um die Landrechte der größten indigenen Gemeinschaft Chiles werden immer wieder Kinder verletzt. So auch bei den jüngsten Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und den Mapuche im Süden des Landes. Dort wurden erst kürzlich zwei Minderjährige von Schrotkugeln getroffen. Internationale Organisationen haben auf den Vorfall mit Protest reagiert.

"Wir werden von diesem rassistischen chilenischen Staat niedergemacht", sagte ein 16-jähriger Mapuche. "Die Polizeirepression trifft unser ganzes Volk." Mit diesen Worten kommentierte der Junge die Ereignisse vom 23. Juli. Zusammen mit indigenen Bauern war er an diesem Tag in der Region Araukanien rund 680 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago zur Zielscheibe von Polizeigewalt geworden. Die Opfer gehörten zu 60 Ureinwohnern, die das Land besetzt hatten, das sie als ihres betrachten.

"So nehmen die Kinder der Gemeinschaften, die in Landkonflikte verwickelt sind und in einem Klima der Gewalt aufwachsen, die Situation wahr", erläuterte Ana Cortés von der Kinderstiftung ANIDE. Der Heranwachsende gehöre einer Gemeinschaft an, die seit Jahren vergeblich versuche, eine Rückgabe indigener Territorien zu erwirken. "Dieser Teenager hat den Staat nur als rassistisch und repressiv erlebt."

Die Schilderungen des 16-Jährigen wurden in der Online-Zeitung 'Werken' in der Sprache der Mapuche veröffentlicht. Sie beschreiben die jüngsten Vorgänge, die zur Festnahme mehrerer Landbesetzer führten. Zahlreiche Menschen wurden verletzt. Der Konflikt war ausgebrochen, als die Carabinieri damit begannen, die von den Einwohnern der Mapuche-Ortschaft Temucuicui besetzten und von den Waldunternehmen 'Mininco' und 'Arauca' bewirtschafteten Grundstücke La Romana und Montenegro gewaltsam zu räumen.


Historischer Konflikt

Mit ihrer Protestaktion hätten die Mapuche die Regierung des rechtsgerichteten Präsidenten Sebastián Piñera auf ihr Anliegen aufmerksam machen wollen, sagten Sprecher der Ethnie. Zudem wollten sie den Staatschef an sein Wahlkampfversprechen erinnern, sich für ihre Sache zu engagieren. Die Indigenen fordern das Land zurück, das man ihren Vorfahren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zuge einer Militärintervention zur angeblichen Befriedung Araukaniens weggenommen hatte. Sie sind mit fast einer Million Mitgliedern die größte Ethnie des mehr als 16 Millionen Einwohner zählenden Landes.

An der jüngsten Polizeioperation waren rund 200 Sicherheitskräfte beteiligt. Zeugen berichteten, dass Landbesetzer mit Tränengas und Schrotkugeln attackiert wurden. Zwölf Menschen einschließlich drei unter 18-Jährige wurden festgenommen und nach eigenen Angaben von den Sicherheitskräften misshandelt und sexuell belästigt.

Die Gewalt flammte wenige Stunden später im nahe gelegenen Collipulli wieder auf. Dort eröffneten die Sicherheitskräfte das Feuer auf eine Gruppe Mapuche, die vor dem örtlichen Krankenhaus auf die Rückkehr verletzter Kameraden warteten, die sich dort behandeln ließen.

Inzwischen hat Präsident Piñera angekündigt, die Rolle der Sicherheitskräfte bei den Ausschreitungen untersuchen zu lassen. Gleichzeitig erklärte er, dass die Regierung "zu 100 Prozent hinter der Polizeiaktion steht".

"Wir haben bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass diese gewalttätigen Übergriffe auf Mapuche-Kinder keine Einzelfälle darstellen, sondern zur Regel geworden sind", betonte Cortés. "Bei jedem Polizeieinsatz werden drei bis vier Minderjährige verletzt. Deshalb können wir nicht so tun, als seien dies Einzelfälle."

Der Stiftung zufolge sind zwischen 2001 und 2011 Kinder im Alter von neun Monaten bis 16 Jahren zu Zielscheiben von Schrotkugeln, Gummigeschossen und Tränengas geworden. 2002 kam bei einem Polizeieinsatz ein 17-Jähriger ums Leben.


Symptome ignoriert

Der Aktivistin zufolge ist die Gewalt auf den Territorien der Mapuche im Süden Chiles besorgniserregend und eine Folge der tiefliegenden ungelösten Probleme, mit denen sich die indigenen Gemeinschaften konfrontiert sehen. Die Entscheidung der Regierung, die Polizei in den Süden zu entsenden, sei im vermeintlichen Interesse der inneren Sicherheit erfolgt. Die Gründe hinter der langjährigen Entsendung hätten nicht interessiert.

"Ich vermisse Versuche, auf die Gemeinschaften zuzugehen, mit ihnen zu verhandeln und eine politische Lösung zu erreichen", sagte sie. "Solange dies nicht der Fall ist, werden sich die Indigenen auch weiterhin mobilisieren."

Die Entscheidung einer erhöhten Polizeipräsenz in Araukanien war am 24. Juli auf einer Sondersitzung gefallen, die Piñera im Regierungspalast abgehalten hatte. Aktivisten zufolge spiegelt sie die Entschlossenheit wider, die Region zu militarisieren.

"Dass die Regierung nach Gründen zur Unterdrückung der Gemeinschaften sucht, anstatt die politischen Ursachen für den Konflikt anzugehen, zeigt nur, wie orientierungslos sie im Umgang mit den Indigenen ist", meinte dazu der Anwalt der Mapuche, Lautaro Loncón, im IPS-Gespräch.

Er erinnerte daran, dass Chile zahlreiche internationale Menschen- und Kinderrechtsabkommen und insbesondere die Konvention 169 über die Rechte indigener Völker unterzeichnet habe. Wenn es um politische Maßnahmen gehe, greife die Regierung jedoch lieber zu repressiven Maßnahmen anstatt für die Einhaltung der Abkommen zu sorgen.


Soziale Proteste kriminalisiert

Der Regierung warf der Jurist vor, soziale Proteste zu kriminalisieren. Davon seien nicht allein die Mapuche betroffen, sondern alle Bewegungen, die die neoliberale Politik in Frage stellen. Sowohl die Regierung als auch die staatlichen Institutionen nähmen gegenüber den Ureinwohnern eine traditionell rassistische Haltung ein. Diese basiere auf der Weigerung, die Existenz und Rechte der Indigenen anzuerkennen. "Das ist purer Rassismus, mit dem sich die chilenische Gesellschaft nie wirklich auseinandergesetzt hat", sagte Loncón.

Die Leiterin des staatlichen Nationalen Menschenrechtsinstituts, Lorena Fríes, war am 25. Juli als Mitglied einer Beobachtermission in die Konfliktregion gereist. Sie will in Kürze einen Bericht vorlegen.

Inzwischen hat das Weltkinderhilfswerk UNICEF die Gewalt gegen die Kinder aufs Schärfste verurteilt. Chilenische Oppositionsführer appellierten an Amerigo Incalcaterra, dem Vertreter des Südamerikabüros des UN-Menschenrechtshochkommissariats, einen Beobachter in den Süden Chiles zu entsenden. (Ende/IPS/kb/2012)


Links:

http://www.werken.cl/
http://www.anide.cl/
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=101271
http://www.ipsnews.net/2012/07/children-injured-in-police-crackdown-on-chiles-mapuche-indians/

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 30. Juli 2012
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Juli 2012