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MELDUNG/016: Afghanistan - "Guantánamo" am Hindukusch, UN-Bericht gibt ISAF Mitschuld (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 13. Oktober 2011

Afghanistan: 'Guantánamo' am Hindukusch - UN-Bericht gibt ISAF Mitschuld

von Richard Johnson


Genf, 13. Oktober (IPS/IDN*) - Die Vereinten Nationen haben in einem neuen Bericht die Existenz eines Guantánamo-ähnlichen Haftsystems in Afghanistan angeprangert. Demnach werden Menschen in den Gefängnissen von lokalen Sicherheitskräften systematisch gefoltert und gequält. Und ausgerechnet die internationalen Schutztruppen, die dem Land demokratische Verhältnisse bringen sollen, sind offenbar häufig an der Überstellung in die Folterzentren beteiligt.

Guantánamo, auch 'G-Bay', 'Gitmo' oder GTMO genannt, steht für das berüchtigte US-amerikanische Haftzentrum auf dem US-Marinestützpunkt in Guantánamo Bay auf Kuba. Das 2002 unter der damaligen US-Regierung von George W. Bush eingerichtete Gefangenenlager diente der Aufnahme mutmaßlicher internationaler Terroristen. Seit der Veröffentlichung der schockierenden Bilder und Berichte über die dort vorgenommenen Folterungen und andere grausame, unmenschliche und demütigende Behandlungsweisen wurde GITMO zum Inbegriff des Bösen im Namen der Terrorismusbekämpfung.

Die UN-Hilfsmission in Afghanistan (UNAMA) hat nun ähnlich furchtbare Verhältnisse in afghanischen Gefängnissen festgestellt, die von Geheimdienstlern des 'Nationalen Sicherheitsdirektorats' (NDS) und von Mitarbeitern der Afghanischen Nationalpolizei (ANP) geleitet werden. Eine UNAMA-Delegation hatte von Oktober 2010 bis August 2011 379 Gefangene in 47 Haftanstalten in 22 afghanischen Provinzen über ihre Haftbedingungen befragt. 324 der Befragten waren nach eigenen Angaben vom NDS and von der ANP verhaftet worden.


Rüge für die ISAF

89 gaben an, von Angehörigen der internationalen Schutztruppe ISAF mit und ohne Beteiligung der afghanischen Sicherheitskräfte festgenommen und in die NDS- oder ANP-Haftanstalten überstellt worden zu sein. 19 von ihnen waren nach eigenen Angaben von NDS- und drei weitere von ANP-Mitarbeitern gefoltert worden. Mit einem deutlichem Verweis auf die schweren Übergriffe durch US-Soldaten auf Guantánamo erinnerte UNAMA die ISAF explizit daran, dass nach internationalem Recht Personen nicht an Einrichtungen übergeben werden dürfen, in denen sie Gefahr laufen, gefoltert oder in anderer Form misshandelt zu werden.

Laut UNAMA gibt es hinreichende Anzeichen dafür, dass 125 der in NDS-Gefängnissen befragten Häftlinge Verhörmethoden ausgesetzt waren, die auf eine systematische Anwendung von Folter schließen lassen. Dem am 10. Oktober vorgelegten und 84 Seiten starken Bericht zufolge dienten die Foltermethoden ausschließlich dazu, den Gefangenen Geständnisse oder Informationen abzupressen. Die UNAMA-Delegation kam ferner zu dem Schluss, dass auch Minderjährige vom NDS-Personal gefoltert wurden.

"Mehr als ein Drittel der 117 Befragten, die im Zusammenhang mit dem Afghanistan-Konflikt festgenommen worden waren, wurden gefoltert oder erfuhren andere Formen grausamer, unmenschlicher und entwürdigender Behandlung", resümiert die Untersuchung.

Der UNAMA-Report räumt zwar ein, dass Kanada, Großbritannien und die USA nach Folter- und Misshandlungsvorwürfen gegen NDS-Mitarbeiter in Kandahar und Kabul die Überstellung von Häftlingen ausgesetzt beziehungsweise Kontrollmechanismen eingeführt haben, um das Schicksal der von ihnen an die afghanischen Behörden überstellten Häftlinge nachzuzeichnen.


Zuverlässige Kontrollmaßnahmen gefordert

Doch angesichts der beunruhigenden Erkenntnisse müsse die ISAF für solide Mechanismen sorgen, die eine verlässliche Überprüfung der Haftsituation der von ihr überstellten Gefangenen jederzeit möglich machen. Die Überstellung in folterverdächtige NDS- und ANP-Einrichtungen müsse zudem ganz aufhören.

Wie Folter in den NDS-Einrichtungen aussehen kann, beschrieb der Insasse eines Gefängnisses in Khost im Osten Afghanistans. "Sie banden meine Hände zusammen und hingen mich an meinen Fesseln an ein Fenstergitter oberhalb meines Kopfes. Sie verwendeten dafür eine Kette und Handschellen. Ich konnte den Boden nicht berühren. Sie befreiten mich erst kurz vor Sonnenuntergang aus dieser Position."

Doch damit war das Leiden von Häftling Nummer 82 noch längst nicht vorüber. "Jede Stunde kam jemand an, um mich zu fragen, ob ich bereit für ein Geständnis sei (die angebliche Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung). Dann gingen sie wieder weg und verschlossen die Tür, berichtete er. In der zweiten Nacht wurde er dann mit Elektroschocks traktiert. Als er irgendwann wieder zu sich kam, befand er sich in seiner Zelle mit Tintenspuren an beiden Daumen. Er geht deshalb davon aus, dass man ihm seine Fingerabdrücke für ein Schuldgeständnis genommen hatte.

UNAMA fordert die afghanische Regierung und internationalen Partnerländer in ihrem Report unter anderem dazu auf, für ein Ende der Folter in afghanischen Haftanstalten zu sorgen, die Sicherheitskräfte und Gefängniswärter durch Menschenrechtskurse zu 'sozialisieren' und Menschenrechtsverletzungen hinter Gittern strafrechtlich zu verfolgen. (Ende/IPS/kb/2011)

* Der von 'Global Cooperation Council' und 'Globalom Media' erstellte Informations- und Analysendienst IDN-InDepthNews ist Partner von IPS-Deutschland.


Links:
http://unama.unmissions.org/Portals/UNAMA/Documents/October10_%202011_UNAMA_Detention_Full-Report_ENG.pdf
http://www.indepthnews.info/index.php/global-issues/465-afghanistan-has-its-own-guantanamo

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 13. Oktober 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Oktober 2011