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REFLEXION/003: Die Lösung der Kurdenfrage - Stand und Perspektive (Nützliche Nachrichten)


Nützliche Nachrichten 1/2011
Dialog-Kreis

Die Lösung der Kurdenfrage: Stand und Perspektive

Von Memo Sahin und Andreas Buro, 11. Januar 2011


Die ungelöste Kurdenfrage war auch im vergangenen Jahr die Nummer eins auf der politischen Agenda. Die Kabinettsitzungen, die Sitzungen des Nationalen Sicherheitsrats und die des Hohen Rats gegen Terrorbekämpfung sowie die Treffen des Koordinierungsrates von Türkei, USA und Irak waren von der Kurdenfrage gekennzeichnet. Die Tagesordnung dieser Gremien wurde nicht von den Regierenden und Machthabern in Ankara sondern im Hauptquartier der PKK in den Kandilbergen in Irakisch-Kurdistan oder von Öcalan auf der Imrali-Insel bestimmt.

Referendum über Verfassungsänderungen, Demokratische Autonomie und Zweisprachigkeit waren die Schlüsselbegriffe im Jahr 2010, mit denen sich Politik und Gesellschaft monatelang beschäftigten. Dazu kann auch die Inhaftierung und die Gerichtsverhandlungen der legalen kurdischen Politiker und Menschenrechtler gezählt werden. Ziviler Ungehorsam, ziviler Widerstand und Zivilcourage waren bei diesen Themenfeldern die neuen Werkzeuge und Schlüsselbegriffe in der politischen Auseinandersetzung.


Eine Rückblende

Diese neue Periode des zivilen Ungehorsams und der Zivilcourage begann im Juni 2008. Eine kurdische Initiative TZP-Kurdî (Bewegung für Erziehung in der Muttersprache) organisierte in den kurdischen Gebieten Kundgebungen, auf denen Erziehung in Kurdisch gefordert und gegen die Assimilierung kurdischer Kinder protestiert wurde.

Daran schloss sich im Juni 2009 der Kongress der Demokratischen Gesellschaft (DTK) an, in der fast alle Vereine und Verbände in den kurdischen Gebieten vertreten sind. Der DTK ging einen Schritt weiter, in dem er die Staatsideologie, die auf Einheitssprache, Einheitsnation und einem unitaristischen Zentralstaat basiert, ablehnte. Stattdessen forderte er die Anerkennung des Kurdischen als Zweitsprache in Kurdistan, neben der türkischen Nation, auch die Kurdische und eine Selbstverwaltung (Demokratische Autonomie) in Kurdistan.

Diese neue Orientierung wurde bei den Kommunalwahlen vom 29. März 2009 von Kurden honoriert. In den kurdischen Siedlungsgebieten fanden die Wahlen zwischen der damaligen legalen Kurdenpartei DTP (Partei für eine Demokratische Gesellschaft) und der regierenden AKP statt. Andere Parteien, wie MHP und CHP sowie die türkische Armee unterstützten offen die AKP, damit der Staat die Oberhand in den kurdischen Regionen nicht verliert. Dies alles führte die AKP nicht zum erhofften Siege. Trotz Wahlmanipulationen, AKP-Wahlgeschenken und Einschüchterung der kurdischen Wähler konnte die kurdische DTP die Zahl der von ihr gewonnenen Kommunen verdoppeln und die Marke 100-Kommunen erreichen.

Zwei Wochen später, am 13. April 2009, erklärte die PKK erneut einen einseitigen Waffenstillstand in der Hoffnung, die vor den Kommunalwahlen herrschende mildere Atmosphäre der beidseitigen "Waffenruhe" fortsetzen zu können. Am nächsten Tag verkündete jedoch der Generalstabschef auf einer von fast allen Sendern live ausgestrahlten Pressekonferenz seine Entschlossenheit zum weiteren Kampf gegen den "Terror". Am gleichen Tag gingen in vielen Orten Staatsanwälte gegen legale kurdische Politiker, Menschenrechtler und Vertreter der zivilen Vereine und Verbände vor. Sie ließen Hunderte von ihnen verhaften. Seit dieser Zeit wurden laut Angaben der Polizeipräsident in Amed/Diyarbakir etwa 2000 kurdische Aktivisten festgenommen. Von ihnen wurden 900 verhaftet und sitzen seit anderthalb Jahren in verschiedenen Gefängnissen. Auch der Rest ist von Gerichtsverhandlungen betroffen. (ANF, 9.1.2011) Der Wahlsieg der DTP war das Werk dieser verhafteten Politiker. So wurden die Hauptakteure dieses Sieges mit einem Schlag ausgeschaltet.

Auch wurden einige Mitglieder der Friedensdelegationen, die nach einem Aufruf Öcalans aus dem Hauptquartier der PKK und dem Flüchtlingscamp in Irakisch-Kurdistan als Zeichen des guten Willens für eine friedliche Lösung am 17. Oktober 2009 in die Türkei eingereist waren, verhaftet und im Laufe des Jahres 2010 in Gefängnisse gesteckt. Die DTP wurde am 11. Dezember 2009 vom Verfassungsgericht verboten und schließlich wurden etwa 100 Funktionäre der Nachfolgepartei BDP (Partei für Frieden und Demokratie), darunter viele Bürgermeister, Weihnachten 2009 in Handschellen abgeführt.

Eigentlich sollte nach einer Erklärung des Staatspräsidenten der Türkei, Abdullah Gül, alles gut werden. Dem schloss sich auch Premierminister Erdogan an und verkündete die berühmte "Kurdische Öffnung", die sich jedoch im Sande verlief.

Die regierende AKP und Premier Erdogan erhofften mit diesen Repressionen, die Handlungsmöglichkeiten der kurdischen Seite zu begrenzen und sich auf minimale Zugeständnisse beschränken zu können. Doch wie bei früheren Maßnahmen hat dies bei der kurdischen Bevölkerung eine Gegenreaktion ausgelöst. Die PKK und die legale Partei BDT gingen aus diesen jüngsten Repressionen der Staatsmacht gestärkt hervor.

Vier Wochen vor dem Referendum, Mitte August 2010, erklärte das der AKP nahe stehende Umfrageinstitut A&G (Adil Gür), dass vielleicht nicht die Hälfte der Kurden hinter der PKK und BDP stünden, aber auf jeden Fall ein Drittel. Das bedeutet etwa 7 Millionen.


Das Referendum über die Änderung einiger Artikel der türkischen Verfassung

Die gültige türkische Verfassung wurde durch die Putschgeneräle im Jahre 1982 mit Waffengewalt diktiert. Sie umfasst 177 Artikel. Die Änderung der ersten drei Artikel darf nicht einmal vorgeschlagen werden. Wie bei den ersten drei Artikeln so auch beim Rest der Verfassung riecht sie sehr nach rassistischem Tobak.

Die türkische Verfassung wurde schon früher im Zuge von 16 Änderungspaketen in 85 Artikeln geändert. Der Inhalt und die ideologischen Bestimmungen aber blieben immer beibehalten. Auch bei den jetzt im Referendum freigegebenen Änderungen änderte dies sich nicht. Wie in der Präambel der türkischen Verfassung liest man fast in allen Kapiteln ähnliche Aussagen, wie:

"Diese Verfassung, die die ewige Existenz des türkischen Vaterlandes und der türkischen Nation sowie die unteilbare Einheit des Großen Türkischen Staates zum Ausdruck bringt, um entsprechend der Auffassung vom Nationalismus, wie sie Atatürk, der Gründer der Republik Türkei, der unsterbliche Führer und einzigartige Held, verkündet hat; (...) dass keinerlei Aktivität gegenüber den türkischen nationalen Interessen, der türkischen Existenz, dem Grundsatz der Unteilbarkeit von Staatsgebiet und Staatsvolk, den geschichtlichen und ideellen Werten des Türkentums und dem Nationalismus, den Prinzipien und Reformen sowie dem Zivilisationismus Atatürks geschützt wird und heilige religiöse Gefühle, wie es das Prinzip des Laizismus erfordert, auf keine Weise mit den Angelegenheiten und der Politik des Staates werden vermischt werden, (...) wird von der Türkischen Nation der Liebe der der Demokratie innig verbundenen türkischen Kinder zu Vaterland und Volk übergeben und anvertraut."

Artikel 42 z.B. verbietet die Anwendung u.a. der kurdischen Sprache in der schulischen Erziehung: "Den türkischen Staatsbürgern darf in den Erziehungs- und Lehranstalten als Muttersprache keine andere Sprache beigebracht und gelehrt werden als Türkisch."

Und der Artikel 66 besagt, "Jeder, den mit dem Türkischen Staat das Band der Staatsangehörigkeit verbindet, ist Türke."

Mit den geänderten Artikeln wurde der Status der Minderheiten nicht geändert. Obige und ähnliche Artikel wurden beibehalten. Auch die Artikel über den Nationalen Sicherheitsrat, über die Religionsbehörde Diyanet, den Rat der Hochschulen und über "Revolutionen" von Atatürk wurden nicht angetastet. Weil auch die neuen und von der AKP vorgeschlagenen Veränderungen den Kurden nichts anbot, hat die BDP aufgerufen, das Referendum zu boykottieren und am 12. September 2010 nicht zu den Wahlurnen zu gehen.

Von den 52 Millionen Stimmberechtigten wählten 38 Mio. (73%) und fast 14 Mio. (27%) blieben trotz Abstimmungspflicht den Urnen fern. 58% der Wähler, also etwa 22 Mio., sprachen sich für die Änderung der Verfassung aus und 42%, etwa 16 Mio. stimmten dagegen. Für Zustimmung hatten die regierende AKP unter Premier Erdogan, für Ablehnung die oppositionellen Parteien CHP und MHP und für "Boykott" die kurdische BDP geworben.

Jürgen Gottschlich analysierte die Ergebnisse des Referendums wie folgt:

"Die politische Landkarte nach der Abstimmung sieht vielmehr fast exakt genauso aus wie nach den Kommunalwahlen im Februar 2009. Die gesamte Ägäisküste, der Westen des Landes also, hat mit Nein gestimmt, ebenso die Küstenprovinzen im Süden. Ganz Zentralanatolien, der Nordosten und die Provinzen am Schwarzen Meer hingegen haben mit wenigen Ausnahmen für die Reform gestimmt. Im kurdischen Südosten sieht es zwar so aus, als hätte eine überwältigende Mehrheit der Kurden Ja gesagt. Tatsächlich aber sind zwei Drittel der kurdischen Wähler dem Boykottaufruf der BDP gefolgt und haben damit erneut gezeigt, dass Erdogans AKP gegenüber der Kurdenpartei das Nachsehen hat." (taz, 14.09.2010)



Ziviler Ungehorsam macht Schule

Erziehung und Bildung auch in Kurdisch

Zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei haben Kurden unter Federführung der TZP-Kurdi Mitte September 2010 aufgerufen, die türkischen Schulen eine Woche lang zu boykottieren und den Unterricht in Kurdischer Sprache zu verlangen. In vielen Orten gingen Tausende SchülerInnen anstatt in die Schulen mit ihren Eltern und Unterstützern auf die Straßen. Politik und Gesellschaft der Türkei fingen an, über diese neue Welle des Widerstandes zu diskutieren. Wochenlang beschäftigten sich Meinungsmacher und Kommentatoren mit dem Schulboykott und den Forderungen der Kurden.



KCK-Prozeß (1)

Dieser neuen Welle des Widerstands schlossen sich auch die Inhaftierten aus dem Lager der legalen Organisationen und Parteien der Kurden an. Sie wurden nach offiziellem Sprachgebrauch KCK-Inhaftierte genannt.

Seit dem ersten Prozesstag in Amed/Diyarbakir nach anderthalb Jahren am 18. Oktober 2010 lehnen sie ab, Aussagen in Türkisch zu machen. Alle Fragen der Richter wurden in kurdischer Sprache beantwortet. Auch die in weiteren 11 Städten begonnenen KCK-Prozesse wurden von den Angeklagten in kurdischer Sprache geführt.

Obwohl im Lausanner Friedensvertrag von 1923, der als Gründungsvertrag der Türkei gilt, das Recht des Gebrauchs der Muttersprachen vor Gerichten und in Schulen allen Bürgern zusteht, verbietet die Türkei im Jahre 2010 Kurdisch vor Gerichten zuzulassen.

Weil die Inhaftierten legale Kader der kurdischen Parteien und Menschrechtsorganisationen sind, fanden die KCK-Prozesse eine große mediale Aufmerksamkeit und Unterstützung, auch seitens türkischer Intellektuellen, Meinungsmacher und Kommentatoren.

Während gegen legal gewählte kurdische Politiker prozessiert wird, entlässt die AKP Regierung zum Jahreswechsel Hunderte von Hisbollah-Killern (2) aus den Gefängnissen. Sie haben in den 1990er Jahren im Auftrage des Staates Tausende von kurdischen Politikern und Aktivisten ermordet. Auch dies wird in der Öffentlichkeit heftig als Provokation kritisiert. Dadurch würde die Chance für eine friedliche Lösung der Kurdenfrage torpediert. Dies alles geschieht wegen der bevorstehenden Wahlen. Der Rechtsanwalt der Hisbollah, Sitki Zilan, gab am 10. Januar zu, dass die Hisbollah-Anhänger seit Jahren die AKP unterstützen. (Milliyet, 10.1.2011)


Kriegsdienstverweigerung

Kriegsdienstverweigerung hat in der Türkei keine lange Geschichte. Sie begann Mitte der 1990ger Jahren mit einem mutigen Menschen, Osman Murat Ülke. Er wurde für seine Verweigerung mehrmals zu Gefängnisstrafen verurteilt. Ihm folgten weitere junge Männer, die ebenfalls gefoltert und verurteilt wurden, wie zum Beispiel der Kurde Halil Savda.

Seit einigen Monaten erteilen allwöchentlich Dutzende junge Menschen, vor allem Kurden, öffentlich dem Kriegsdienst eine Absage.


Demokratisches Autonomes Kurdistan und Zweisprachigkeit

Kurz vor dem Jahreswechsel tagte am 18. und 19. Dezember 2010 der 'Kongress für eine demokratische Gesellschaft' (DTK) in Amed/Diyarbakir. Er stellte den ausgewählten Prominenten Journalisten, Meinungsmacher und Kommentatoren aus dem türkischen Teil der Akteure sein Konzept der demokratischen Selbstverwaltung und der Zweisprachigkeit vor.

Der DTK wurde vor zwei Jahren in Amed/Diyarbakir gegründet und umfasst über 600 zivile NGOs aus allen politischen Spektren in den kurdischen Gebieten und arbeitet wie eine Legislative der Kurden. Er verlangt die Dezentralisierung der Türkei und die Schaffung eines Demokratischen Autonomen Kurdistans sowie die Zulassung der kurdischen Sprache in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, auch vor Gerichten und in Schulen.

Es war ein Konzept, das legal von kurdischen Akteuren auf einer genehmigten Versammlung in Diyarbakir vorgetragen wurde. Trotzdem waren danach alle Gegner der Forderungen der Kurden schnell einig: Premier Erdogan, Staatoberhaupt Gül, Parlamentspräsident Sahin, Armeechef Kosaner, Kassationshofchef Yalcinkaya und nicht zuletzt die Oppositionsführer Bahceli (MHP) und Kilicdaroglu (CHP) erteilten nacheinander den Forderungen der Kurden eine Absage.

Erdogan wiederholte sich, als er sagte: "Die Türkei besteht aus einer Nation, einer Fahne, eine Sprache und einen Staat". Der Vorschlag sei eine "Sabotage des gesamten demokratischen Prozesses in der Türkei". Solche Vorschläge würden den sozialen Frieden gefährden. Wer Türkisch als alleinige Amtssprache infrage stelle, gefährde die Einheit des Landes. "Diese Leute", befand er während der Budgetdebatte im Parlament, "repräsentieren nicht die Kurden, die ich kenne. Wen vertreten sie überhaupt?" (taz, 30.12.10)

Ähnlich bezeichnete die Armeeführung die Forderungen des DTK als Verrat und erklärte "dem Separatismus und Terror den Kampf bis zum letzten Tropfen". Der Generalstaatsanwalt Yalcinkaya leitete prompt ein Ermittlungsverfahren gegen die BDP ein, um zu prüfen, ob die Autonomieforderung gegen das Antiterrorgesetz verstößt und ob die BDP Teil des DTK ist. »Sollte die Antwort in beiden Untersuchungen ja lauten, kann ein Verbotsverfahren gegen die BDP eingeleitet werden«, hieß es in der Erklärung. (junge Welt, 24.12.10)

Erdogan, der in Deutschland und Europa für türkische Schulen plädiert, Deutschland wegen der Assimilierung der Türken anprangert und dies als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" bezeichnet, erteilt der Forderung nach kurdischen Schulen eine Absage.


Kurden gewöhnen sich an Zweisprachigkeit

Nach dem die BDP, DTK und PKK zu Zweisprachigkeit aufgerufen haben, wurde in vielen Städten und Kommunen eine neue Epoche des Kampfes begonnen. Die kurdischen Kommunen erklären, nach und nach ihre Dienste in Kurdisch und Türkisch anbieten zu wollen. Die BDP benutzt in vielen Orten zweisprachige Parteischilder, die von der Staatsmacht wieder entfernt werden. Der Kampagne schließen sich auch Geschäftsleute an, in dem sie die Ladenschilder und Preisetiketten in Kurdisch und Türkisch beschriften. Taxi- und Busfahrer benutzen beide Sprachen.

An der Kampagne der Zweisprachigkeit beteiligte sich die Präsidentin des Industrieverbandes TÜSIAD, Ümit Boyner. Bei ihrem Besuch in Amed/Diyarbakir begann sie ihre Rede in kurdischer Sprache und endete mit Türkisch. (Internethaber, 17.12.2010)

Ohne Blutvergießen und ohne Waffen schaffen die Kurden auf diese Weise Tatsachen. Dies gibt ihnen Kraft, diesen Kurs fortzusetzen.


PKK und Öcalan etablieren sich als politische Akteure

In den letzten zwei Jahren wurden die PKK und Öcalan als wichtige politische Akteure von Seiten der türkischen Meinungsmacher und Journalisten anerkannt. Die Kreise, die bis dato die PKK als "Terrorbande" und Öcalan als "Babykiller" beschimpft hatten, haben sich mehrheitlich von diesen Bezeichnungen getrennt. Viele von ihnen sagen offen, um die Kurdenfrage zu lösen, müssen Gespräche sowohl mit der PKK als auch mit Öcalan geführt werden. Ohne Beteiligung der kurdischen Seite wird es keine Lösung geben. So wurden Interviews mit hochrangigen PKK-Führern geführt und weit und breit erörtert.

Im August 2010 tauchten dann Informationen auf, wonach der Staat mit Öcalan Gespräche führte. Dies bestätigte Mitte September auch Premier Erdogan. Dank dieser Kontakte verlängerte die PKK ihren einseitigen Waffenstillstand bis zu den Parlamentswahlen im Juni 2011. Die neuerlichen Diskussionen über Zweisprachigkeit und Demokratisches Autonomie tragen die Unterschriften der PKK und Öcalans. Sie bestimmen die Richtung der politischen Agenda. Die allwöchentlichen Erklärungen Öcalans sind die Lieblingslektüre der türkischen Eliten und werden weit und breit diskutiert. Würde man eine Statistik über die Themen der Medien führen, würde man sehen, dass etwa die Hälfte der verfassten Artikel sich mit der Kurdenfrage beschäftigen.



Wohin wird die Reise führen?

Parlamentswahlen im Juni

Die Parlamentswahlen stehen bevor. Bis dahin wird voraussichtlich die bisherige Politik fortgesetzt. Dies wird aus den Reaktionen der führenden AKP-Funktionäre bezüglich der Forderungen der Kurden erkennbar. Um aus dem rechten Lager Stimmen einzuwerben, wird die AKP auf der Rhetorik der Staatsideologie verharren. In den kurdischen Gebieten aber wird sie, einige öffentlich bekannte kurdische Persönlichkeiten auf ihre Listen setzen, um kurdische Stimmen zu gewinnen. Die AKP hat dies erfolgreich bei den letzten Parlamentswahlen im Juli 2007 in Istanbul praktiziert. Sie holte damals zwei namhafte Persönlichkeiten der türkischen Sozialdemokratie über ihre Listen ins Parlament.

Wenn es die 10% Hürde nicht gäbe, hätte die kurdische BDP mit ihrem jetzigen Wählerpotenzial über 60 Abgeordnete ins Parlament entsenden können. Obwohl die oppositionelle CHP die Herabsetzung der Wahlhürde von 10% auf 5% vorschlug und die BDP dies seit ihrem Bestehen fordert, lehnt die AKP dies ab.

Der Vorschlag des Vorsitzenden der BDP, Selahattin Demirtas, auf der Tagung der Sozialistischen Internationale Mitte November in Paris, der auch die CHP angehört, über minimale Forderungen der Kurden ein Wahlbündnis zwischen CHP, BDT und anderen kleinen linken Parteien zu schließen, blieb bis jetzt unbeantwortet.

Wenn die Kräfteverhältnisse und Haltungen der Parteien so bleiben, wird das neue Parlament voraussichtlich ähnlich aussehen, wie das jetzige. Das könnte erneut zu einer Stagnation führen. Erdogan, der die Diskussionen nach einer neuen Verfassung, die auch die Rechte der Kurden beinhalten soll, auf die Zeit nach den Wahlen verschiebt, könnte dann wie im Jahre 2007 die Diskussionen in die Schublade legen und nicht reagieren. Auch damals versprach die AKP eine neue Verfassung. Nach 2-3monatiger Diskussionen vergaß sie ihr Versprechen und ließ die Entwürfe verstauben.


Die Rolle der Kurden in Irakisch-Kurdistan

Der Irak ist seit der neuen Verfassung von 2005 ein föderaler Staat. Irak hat zwei Amtsprachen, Arabisch und Kurdisch. Kurdistan ist ein Bundesland im föderalen Irak, das über eine eigene Verfassung und Regierung, ein eigenes Parlament und eine eigene Armee verfügt. In den Schulen und Universitäten wird in kurdischer Sprache gelehrt. Es ist auch eine gigantische Baustelle, die viele Firmen aus dem Ausland ins Land holt. In seiner Hauptstadt sind viele europäische Länder, die USA und Russland mit ihren Konsulaten vertreten.

Der Staatspräsident des Irak ist ein ehemaliger kurdischer Partisan, der gegen die Baath-Regierung gekämpft hat. Der Präsident von Kurdistan ist ebenfalls ein Peshmergaführer, der in den Bergen geboren und im Befreiungskampf groß geworden ist.

Die Beziehungen mit dem Nachbarland Türkei normalisiert sich. Wenn man von Normalisierung spricht, darf man die Einmischung der Türkei in die inneren Angelegenheiten des Irak nicht ausklammern. Laut Angaben von Staatspräsident Talabani auf der Sozialistischen Internationale in Paris, wollte die Türkei mit allen Mitteln die Wiederwahl von Talabani verhindern, was sie aber nicht schaffte. Er erklärte, dass er trotz dieser Einmischung ein Freund der Türkei sei.

Barzani und Talabani, setzen sich seit ein Paar Jahren für die friedliche Lösung der Kurdenfrage in der Türkei ein. Wenn die PKK in den letzten Jahren mehrmals einseitige Waffenruhen erklärt hat, haben beide dazu ihren Anteil geleistet.

In einem Dokument des Aspen Instituts aus den USA vom 2. Oktober 2010, das zwei Tage nach der Verlängerung des Waffenstillstandes der PKK veröffentlicht wurde, heisst es:

"Zur Kenntnis genommen werden sollte eine aktuell rege diplomatische Aktivität zwischen den relevanten Seiten und Beteiligten des Konflikts zwischen der Türkei und der PKK, die in erster Linie auf die USA zurückzuführen sind, in zweiter Linie erst auf die AKP-Regierung als treibender Faktor, danach die südkurdischen Regionalparteien, schließlich jetzt sogar die Regierung in Bagdad.

Bei so vielen Initiativen und Bemühungen besteht wohl die Hauptaufgabe für die PKK-Kräfte darin, sich untereinander abzustimmen, eine kohärente Politik zu präsentieren und gleichfalls die Kommunikation zwischen sich und dem Vorsitzenden Öcalan sowie der BDP-Partei zu koordinieren.

Seitdem der türkische Intelligence Chef Hakan Fidan die USA besuchte ist eine weitere Dynamik im Zeichen der Bearbeitung des Konfliktgeschehens zu verzeichnen. Wer immer sich äußert, äußert in der einen oder anderen Form das folgende Credo: 'Der Waffenstillstand der PKK ist richtig - muß aber verlängert werden, für eine ganze Weile, möglichst mit einer dauerhaften Lösungsperspektive.'

Beobachter wissen und äußern: Hakan Fidan habe einen umfassenden Plan, eine aktive Vorgehensweise, in den USA geradezu diktiert bekommen, einen 'multidimensional plan', der als 'Aktionsplan sowohl Elemente der Sicherheitspolitik wie auch diplomatische Aspekte enthalte'. In jedem Fall müsse der Frieden erhalten bleiben - in der Tendenz mit einer nachhaltigen Zielsetzung.

Nach Ansicht Washingtons müsse die Türkei weg von Taktiken und bloßen Einzelmaßnahmen und sich hinbewegen zu einer plausiblen Strategie. Schließlich sei das Referendum vom 12. September zwar ein Erfolg für Erdogan in der Türkei gewesen, nicht aber in Kurdistan." (NN-9-2010)

Das hoch interessante Dokument endet:

"Möglicherweise folgt Öcalan den an ihn gerichteten Aufforderungen Talabanis und Barzanis, sich auf die islamische AKP-Partei zu verlassen, und damit auch auf die USA.

Erkennbar wird heute der allererste Anfang einer politischen Lösungsmöglichkeit, die Rückschläge kennen wird und noch viele Hürden vor sich hat; geht aber die Entwicklung unter einigermaßen gesicherten Umständen weiter, könnte in einer Reichweite von 5 Jahren eine Dauerlösung konstituiert werden.

Dies aber hängt von vielerlei auch äußeren Faktoren im Irak, Iran, und auch Europa ab." (NN-9-2010)



Fazit

Bis vor 90 Jahren gab es auf der politischen Karte kein Irak und kein Irakisch-Kurdistan. Kurdistan befand sich außer dem seit 1639 vom Iran besetztem Teil unter osmanischer Herrschaft. Es wurde nach dem 1. Weltkrieg gewaltsam auf drei Länder aufgeteilt. Städte, Dörfer, Stämme und Sippen wurden durch Minenfelder und Stacheldraht von einander getrennt.

Es könnte sein, dass die Unstimmigkeiten und Feindschaften zwischen arabischen Sunniten und Schiiten sowie Kurden mit der Zeit noch zunehmen und die Araber sich gegen die Kurden stellen. So könnte das an Erdöl und Gas reiche Irakisch-Kurdistan infolge von Annäherungen an die Türkei, den Entschluss fassen, ein Bündnis mit der Türkei auf der Basis "Energie gegen Freiheit" in einem gleichberechtigten Bundesland einzugehen.

Der Berater von US-Präsidenten Obama, Parag Khanna, erklärte am 19. Dezember, dass die Verkündung eines unabhängigen Kurdistans (Irak) im nächsten Jahr erfolgen könnte. "Wenn dies im nächsten Jahr nicht geschieht, wird es aber nicht lange dauern, dass die Kurden im Irak einen eigenen kurdischen Staat ausrufen." (Rizgari-online, 19.12.2010)

In zwei bis drei Jahren werden wir vieles Erleben. Wir lesen weiter aus dem US-Dokument: "Safeen Dizayee, education minister of the regional Kurdish administration and President Massoud Barzani's representative in Ankara for 12 years in the 1990s erklärten öffentlich, das 'Kurdenproblem müsse politisch gelöst werden, ... dabei müsse für die Kurden in der Türkei eine eigene kurdische Existenz etabliert werden. Ohne dies gehe nichts.'

Sensationell ist schließlich, daß Öcalan Ende September erneut von diesmal einer ganzen Delegation der AKP-Administration im Imrali aufgesucht wurde.

Dies erinnert durchaus an die Endphase der Verbannung von Nelson Mandela auf den Robben Islands. Die diversifizierte Delegation bestand nicht nur aus intelligence Personal, sondern auch aus Repräsentanten des Innen- und Justizministeriums. Solche Begegnungen werden offiziell noch heruntergespielt, aber nicht mehr dementiert."

Ohne die Einbeziehung der PKK und irakischer Kurden ist kein Plan realistisch. Sie gegeneinander auszuspielen hat seine Wirksamkeit verloren. Der Satz vom Präsident Barzani, der seit drei Jahren bei ähnlichen Anlässen immer wiederholt wird, lautet: "Die Zeit der innerkurdischen Kämpfe und Feindschaften ist abgelaufen!"

Es ist an der Zeit endlich über einen neuen Status der Gleichberechtigung für Kurden nachzudenken und ihn durchzusetzen. Ob dies über die Gewährung eines Autonomiestatus für Kurden in der Türkei oder über eine Föderation der Kurden im Irak mit der Türkei geht, hängt hauptsächlich von der Staatsführung in Ankara und ihren Unterstützern in Washington und Brüssel ab. Ein kluger ziviler Widerstand der Kurden kann neue Tatsachen schaffen und endlich den Frieden näher bringen!



Anmerkungen:

(1) KCK bedeutet "Union der Gemeinschaften Kurdistans"

(2) Hisbollah ist eine islamistische Organisation in Kurdistan. In den 1990ger Jahren arbeitete sie sehr eng mit dem türkischen Staat und ermordete in seinem Auftrag Tausende von kurdischen Politiker und Menschenrechtler, darunter auch den Abgeordneten von HEP (Arbeitspartei des Volkes), Mehmet Sincar, um.


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Quelle:
Nützliche Nachrichten 1/2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Februar 2011